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Romantik nicht kalt verneinen, sicherlich in Zweifel sein werden, ob sie der poesiereichen Madonna Murillos’, dieser göttlichen Tochter der Erde, oder den klar-idealistischen Himmelsköniginnen des Rafael den Preis zuerkennen sollen.

Es ist bekannt, daß die Hauptstadt Aragons, das berühmte Zaragoza, in der Kirche der „Nuestra Sennora del Pilar“ (Unser lieben Frau zum Pfeiler) ein wunderthätiges Marienbild besaß, das auf einer Säule von feinem Jaspis stand. Der unsterbliche Verfasser des Don Quixote, Cervantes, soll hier seine so ausgezeichnete Hymne auf die heilige Madonna componirt haben. Aus dieser Hymne, welche ein herrliches Zeugniß für den gläubigen Sinn und die begeisterte Andacht des Dichters sowohl, als des ganzen spanischen Volkes ablegt, waren drei Strophen unter dem Bilde unserer Madonna mit dem Kinde angebracht, so lange dasselbe im Besitze Ludovico Haro de Guzman’s, Grafen von Olivarez, Neffen des großen Ministers, war.

Diese drei Strophen, in der Ursprache von wundervoller Schönheit, theilen wir hier mit; denn sie bilden eine herrliche dichterische Folie zu dem Gemälde Murillos’ und sind zu gleicher Zeit ein getreuer Spiegel der Ideen, welche das „allerchristliche“ Spanien bewegten.

„Gerechtigkeit und Gnade sind verbündet
In dir, o reinste Jungfrau, und sie haben
Durch ihren süßen Friedenskuß verkündet
Den nahen Herbst, das Füllhorn aller Gaben.
Des Aufgangs, der die heil’ge Sonn’ entzündet,
Aurora, kommst Du, jeden Blick zu laben:
Des Frommen Jubel und des Sünders Hoffen,
Zeigst Du nach Sturm und Nacht den Himmel offen.

„Du bist die Taube, droben hergesendet
Vom Anbeginn, bist die als Braut geschmückte,
Die reines Fleisch dem ew’gen Wort gespendet,
Die uns mit Heil und Segen stets beglückte.
Du bist der Arm des Herrn, der abgewendet
Das strenge Messer, welches Abram zückte,
Und uns zu des wahrhaften Opfers Flamme
Begabet hast mit dem unschuld’gen Lamme.

„Gedeih und bringe zeitig, schöne Pflanze,
Die Frucht, die das Gemüth mit Hoffnung weidet,
Zu tauschen jene Trau’r mit Feierglanze,
Die seit dem großen Fall es gleich umkleidet.
Der unermeßliche Tribut für’s Ganze,
Der, dessen Lösung einzig ächt, entscheidet,
Wird ausgeprägt in dir; ja, göttlich Wesen,
Du bist zur Weltherstellerin erlesen!“

Diese Madonna ist keine Moresken-Schönheit. Alt-Spanien, das edle, christliche, mit dem kastanienbraunen Haar und den gothischen Blauaugen, ist hier individualisirt.

Gesessen soll dem Künstler zu diesem Bilde Donna Maria Legañez, eine Verwandtin des Conquistadors von Tarragona, haben, und daß dieser, Graf Vasco Nunnez de Legañez, das unvermischteste germanische blaue Blut von ganz Castilien in den Adern trug, ist bekannt genug.

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/139&oldid=- (Version vom 1.8.2018)