Seite:Spiegel Maerchen aus Bayern.djvu/16

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

fürchtete sich aber nicht, sondern lud das Männlein freundlich zum Mitessen ein. Als sie fertig waren, sagte das Männlein: „Weil du dich nicht gefürchtet und mich zum Essen eingeladen hast, will ich dich belohnen, denn du hast mich erlöst.“ – Er führte nun den Burschen durch alle Zimmer; eins war schöner als das andere und zuletzt kamen sie in ein Gewölbe, da war es stockfinster. In der Mitte stand eine Truhe, darauf saß ein schwarzer Pudel, der hatte feurige Augen. Das Männlein winkte mit der Hand und der Pudel verschwand unter schrecklichem Gekrach; der Deckel sprang auf und darunter lag lauter Gold und Silber. Der Handwerksbursche durfte sich nehmen, soviel er mochte. Er füllte sein Ränzlein und sein Tüchlein. Dann war das Männlein verschwunden. Da klopfte es außen, und als er aufmachte, stand der Wirt vor ihm; der war sehr erfreut, daß er ihn noch lebendig traf. Er fragte, wie es ihm erging. Der Bursche erzählte alles und zeigte seine Schätze. Der Wirt sagte: „Du bist der erste, der sich nicht fürchtete, der nicht davonlief, und ich gönne dir dein Glück.“ Der Handwerksbursche wanderte in seine Heimat und lebte froh und zufrieden, bis er starb.


Aufgeschrieben durch Frau Anna Bauer, Kassierswitwe in Amberg, 1900. (Urschrift bis auf einige geringfügige Stilisierungen.)


9. Der Zauberer und sein Lehrling.
(Unterfranken: Rhöngebirg)[1].

Es war einmal ein Vater, der hatte drei Söhne: Jörg, Michel und Hans. Der Jörg und Michel waren tüchtige, fleißige und vigilante


  1. Vorbemerkung des Märchen-Aufschreibers: Die Märchen auf der Rhön sind noch zahlreich, mehr als die Sagen. In jedem Dorfe gibt es gewisse Personen, die besonders gut Märchen erzählen können und über eine große Anzahl solcher verfügen. Solche Personen haben immer ein gutes „Sprechwerk“, wie der Volksausdruck heißt, dazu ein beneidenswertes Gedächtnis, so daß sie ein einmal gehörtes Märchen meist sofort Wort für Wort nacherzählen können; dagegen sind sie nur mangelhaft lese- und schreibkundig, manche von ihnen sind es gar nicht. Natürlich war die Erzählweise sehr urwüchsig und durchaus nicht salonfähig. In der Spinnstube, beim Spielgehen, auf der Weide wurden „Märlich“ und „Geschichtlich“ erzählt, und wo ein Mann oder eine Frau im Hause war, die schön erzählen konnte, dahin ging man gern „spiel“ und „spinn“. Ein Märchen, der goldene Johannes, der bei seiner Geburt schon ein goldenes Kreuz auf seiner Brust hatte, wurde besonders gern und oft verlangt und es durfte ein guter Erzähler sein, wollte er dieses Märchen an einem Abend erzählen. Die alten Märchen kommen „außer der Modi“, die Leute haben Lesen und Schreiben gelernt und lesen jetzt selbst Geschichten. Die alten Märchen- und Geschichtenerzähler sterben – kein Mensch will die alten Sachen mehr glauben.
    Wie oft und oft saßen wir aufmerksam zuhorchend da und dort und hörten Märchen erzählen. Geschichten und Märchen, die wir lesen und lesen konnten, gaben uns lange nicht so viel ab; das gesprochene Wort wirkte viel mehr auf uns ein. Tief bedauerten wir jedesmal den Tod eines guten Erzählers oder einer Erzählerin und die Drohung, daß wir nicht mehr in das oder jenes Haus, in dem viel Märchen erzählt wurden, dürfen, wenn wir nicht folgen wollten, fruchtete mehr als Schläge. Das war noch so vor 20 Jahren. Heute kann man bei der Jugend nicht mehr ohne Stecken reden – versicherten mir viele Leute gelegentlich eines Urlaubes in der Rhön.
Empfohlene Zitierweise:
Karl Spiegel: Märchen aus Bayern. Selbstverlag des Vereins für bayrische Volkskunde und Mundartforschung, Würzburg 1914, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Spiegel_Maerchen_aus_Bayern.djvu/16&oldid=- (Version vom 1.8.2018)