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Regierungsinstitutionen und wurden geschlagen, hauptsächlich durch preußische Waffen. Dann kamen Jahre stupider Reaktion und nationaler Erniedrigung, in denen die Ziele der Revolution von 1848 hoffnungslos untergegangen schienen. Dann, unerwartete, eine neue Ära: Friedrich Wilhelm IV., der mehr als irgendein anderer Mann seiner Zeit den mystischen Glauben an die göttliche Erleuchtung der Könige gehegt hatte, – Friedrich Wilhelm IV. wurde irrsinnig, und die Zügel der Regierung entfielen seiner Hand. Der Prinz von Preußen, derselbe Prinz von Preußen, den die Revolutionsmänner von 1848 als den bittersten und unversöhnlichsten Feind ihrer Sache angesehen, folgte ihm, zuerst als Regent, dann als König, und vom Schicksal bestimmt, der erste Kaiser des neuen Deutschen Reiches zu werden. Er rief Bismarck als Premierminister an seine Seite, denselben Bismarck, der der lauteste Wortführer des Absolutismus und der feurigste Widersacher der Revolution gewesen war. Und dann wurde die deutsche Einheit mit einem Nationalparlament gewonnen, nicht durch eine revolutionäre Volkserhebung, sondern durch monarchische Aktion und eine kriegerische Politik, die anfangs von einem großen Teildes Volkes mißbilligt, schließlich aber von einem mächtig auflodernden Nationalgefühl getragen und zum Siege geführt wurde. Es hat seitdem als eine wohlberechtigte Frage gegolten, ob dieses Auflodern des Nationalgefühls möglich geworden wäre ohne den Vorgang des großen Erweckungsjahres 1848. „Das große Erweckungsjahr“ – dies ist der Name, den es in der Geschichte des deutschen Volkes tragen sollte.

So ist denn, wenn auch nicht alles, doch ein großer und wichtiger Teil von dem, wofür die Revolutionäre von 1848 gekämpft, in Erfüllung gegangen, – freilich viel später und weniger friedlich und weniger vollständig, als sie gewünscht, und durch Personen und Gewalten, die ihnen ursprünglich feindlich gewesen; aber weitere Entwicklungen versprechend, die den Idealen von 1848 viel näher kommen werden, als die jetzigen politischen Institutionen es tun.

Im Sommer 1852 jedoch lag die Zukunft Europas in düsteren Wolken vor uns. In Frankreich schien Louis Napoleon fest und sicher auf dem Nacken eines unterwürfigen Volkes zu sitzen. Die britische Regierung unter Lord Palmerston schüttelte ihm freundschaftlich die Hand. Auf dem ganzen europäischen Kontinent feierte die Reaktion gegen die liberalen Bestrebungen der letzten vier Jahre Orgien des Triumphes. Wie lange diese Reaktion unwiderstehlich sein würde, konnte niemand wissen. Daß einige ihrer Vorkämpfer in Deutschland selbst die Führer des nationalen Geistes werden könnten, würde selbst der hoffnungsseligste Sanguiniker nicht vorauszusagen gewagt haben.

Meine junge Frau und ich schifften uns im August in Portsmouth ein und landeten an einem sonnigen Septembermorgen im Hafen von New York. Mit dem heiteren Mut jugendlicher Herzen begrüßten wir die neue Welt.



Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s270.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)