Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852

Textdaten
Autor: Carl Schurz
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Titel: Lebenserinnerungen
Untertitel: I Band: Bis zum Jahre 1852
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Entstehungsdatum: 1911
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Verlag: Georg Reimer
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung: Lebenserinnerungen (1829–1852; also die frühen Jahre in Deutschland) von Carl Schurz
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[v]

Vorwort.

Es war auf den dringenden Wunsch meiner Kinder, daß ich vor mehreren Jahren diese Erinnerungen niederzuschreiben begann. Sie hatten im häuslichen Kreise, teils von mir selbst, teils von Verwandten und alten Freunden über die Umgebungen und Zustände, in denen ich aufgewachsen war, sowie über die merkwürdigen Ereignisse meiner Jugendzeit zuweilen reden hören, und so baten sie mich, das, was sie gehört hatten, schriftlich in eine zusammenhängende Erzählung zu bringen, die sie dann als bleibendes Familiengut aufbewahren könnten. Diesem Wunsche entsprach ich denn, ohne zuerst an eine Veröffentlichung des Geschriebenen zu denken.

Der Umstand, daß diese Aufzeichnungen ursprünglich nur für wenige Personen bestimmt waren, die an dem Erzähler und seinen Erlebnissen besonderen Anteil nahmen, mag die Breite und Ausführlichkeit der Beschreibungen und Geschichten erklären, die des Lesers Geduld dann und wann auf harte Proben stellen mögen. Zur Milderung seines Urteils stelle er sich einen alten Mann vor, der, indem er einem intimen Kreise seinen Lebenslauf berichtet, beständig mit Fragen über dieses und jenes, worüber die Zuhörer mehr wissen wollen, unterbrochen wird und sich so zu unwillkürlicher Weitschweifigkeit gezwungen findet. [vi]

Übrigens will ich gern gestehen, daß, während ich schrieb, auch die Lust des Erzählens, die Freude des schriftstellerischen Schaffens über mich kam und mich zur Darstellung unbedeutender Dinge verführt haben mag, die, wie ich hoffe, der freundliche Leser verzeihen wird.

Es ist kaum nötig zu bemerken, daß ich in der Beschreibung meiner Jugendzeit mich vielfach auf die Treue meines Gedächtnisses angewiesen sah. Ich weiß sehr wohl, daß uns das Gedächtnis zuweilen schlimme Streiche spielt, indem es uns glauben macht, tatsächlich Dinge selbst gesehen oder gehört zu haben, von denen wir nur haben reden hören, oder mit denen nur unsere Einbildungskraft lebhaft beschäftigt gewesen ist. Ich habe mich daher ernstlich bemüht, meinen eigenen Erinnerungen nicht zu viel zu trauen, sondern sie, wenn immer möglich, mit den Erinnerungen von Verwandten und Freunden zu vergleichen, sowie alte Briefe und zeitgenössische Publikationen über die darzustellenden Tatsachen zu Rate zu ziehen. Es mag freilich sein, daß trotz alledem sich Irrtümer in meine Erzählungen eingeschlichen haben; aber ich wage zu hoffen, daß solcher Irrtümer nur wenige, und diese wenigen nicht von Bedeutung sind.

Bolton Landing, Lake George, N. Y.
im September 1905.

Carl Schurz.






[1]

Erstes Kapitel.

Heimat und Vorfahren. Erste Jugendjahre.

Ich bin in einer Burg geboren. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß ich von einem adligen Geschlecht abgestammt sei. Mein Vater war zur Zeit meiner Geburt Schulmeister in Liblar, einem Dorfe von ungefähr 800 Einwohnern, auf der linken Rheinseite, drei Stunden Wegs von Köln gelegen. Sein Geburtsort war Duisdorf bei Bonn. In frühster Kindheit hatte er seine Eltern verloren und war der Sorge seines Großvaters anheimgefallen, der dem Bauernstande angehörte und auf einem kleinen Ackergütchen Getreide, Kartoffeln und ein wenig Wein zog. So wuchs mein Vater als ein eigentliches Bauernkind auf.

Im Jahre seiner Geburt, 1797, befand sich das linke Rheinufer im Besitz der französischen Republik. Seine Jugendjahre fielen daher in die von den Rheinländern so genannte „französische Zeit“, und von seinen Erinnerungen aus jener bewegten Periode wußte er später manches zu erzählen: wie er den Kaiser Napoleon gesehen, als dieser, vor dem Zuge nach Rußland, in der Gegend von Bonn ein Truppenkorps Revue passieren ließ; wie dann im Spätherbst 1813 die französische Armee nach der Schlacht bei Leipzig, geschlagen und zerfetzt, wieder am Rhein angekommen sei; wie er selbst auf dem Marktplatz in Bonn den General Sebastiani, der im Gasthof „Zum Stern“ sein Quartier hatte, aus dem Hause stürzen, sich auf sein Pferd werfen und mit seinem Stabe umhergaloppieren gesehen, während die Trompeter Alarm bliesen und die Trommler den Generalmarsch schlugen; denn es war die Nachricht gekommen, daß eine Abteilung Kosaken zwischen Bonn und Koblenz den Rhein überschritten hätte; wie dann die in Bonn liegenden Truppen eilig in Reih und Glied traten und in der Richtung von Frankreich abmarschierten; wie kranke und versprengte Franzosen in Menge hinter den Marschkolonnen zurückblieben und sich mühsam dahinschleppten; wie eines Abends mehrere Trupps Kosaken, schmutzige Kerle mit langen Bärten und kleinen zottigen Pferden, über das Land zu schwärmen begannen, die französischen Nachzügler aufjagten und viele davon niedermachten; wie sie sich auch in die Häuser drängten und alles stahlen, was ihnen gefiel; und wie dann, als die ersten Kosakenschwärme durchgezogen waren, die Bauern alles Bewegliche, das die Kosaken übrig gelassen hatten, zusammenrafften und in den nahen Wäldern versteckten, um es vor den nachkommenden Russen zu retten.

Dann passierten Heeresteile der gegen Napoleon verbündeten Mächte durch die Gegend auf ihrem Marsche nach Frankreich zu dem Feldzuge [2] von 1814, der mit der Einnahme von Paris und Napoleons Verbannung nach der Insel Elba endigte. Es folgte eine kurze Periode scheinbaren Friedens. Aber als Napoleon im Jahre 1815 plötzlich von Elba zurückkehrte und sich der Regierung Frankreichs wieder bemächtigte, hoben die Preußen auf dem linken Rheinufer frische Truppen aus. Alle waffenfähigen jungen Leute mußten mit, und so trat mein Vater, damals 18 Jahre alt, in ein Infanterieregiment ein, mit welchem er sofort nach dem Kriegsschauplatz in Belgien abmarschierte. Auf dem Wege wurden die Rekruten in den Handgriffen und den einfachsten und notwendigsten Evolutionen geübt, um sie sofort möglichst gefechtsfähig zu machen. Meines Vaters Regiment passierte über das Feld von Waterloo ein paar Tage nach der Schlacht und wurde dann bei der Belagerung einer kleinen französischen Festung verwandt, die sich bald ohne Blutvergießen ergab. Später wurde er zur Artillerie versetzt und stieg zur Würde eines Bombardiers empor, was seinem jugendlichen Ehrgeiz nicht wenig schmeichelte. Er hat jedoch immer bedauert, daß er niemals in einem Gefechte gewesen, und daß er, wenn andere von ihren Taten und Gefahren erzählten, den durchaus unblutigen Charakter seiner Kriegsdienste zugestehen mußte.

Nachdem er aus dem aktiven Dienst entlassen worden, ging er als Schüler in das Schullehrerseminar zu Brühl und anfangs der zwanziger Jahre wurde er in Liblar angestellt. Im Seminar hatte er etwas Musikunterricht erhalten und die Flöte spielen lernen. So war er befähigt, seine Schulkinder einfache Lieder singen zu lehren und gar einen kleinen Gesangverein zu gründen, an welchem die jungen Männer und die erwachsenen Mädchen des Dorfes und der unmittelbaren Umgegend teilnahmen. In diesem Gesangverein machte er die Bekanntschaft von Marianne Jüssen, die er im Jahre 1827 heiratete. Sie war die Tochter eines Pächters, Heribert Jüssen, der einen Teil einer dicht bei Liblar gelegenen Burg, „die Gracht“ genannt, bewohnte. Mehrere Jahre nach ihrer Verheiratung lebten mein Vater und meine Mutter bei meinen Großeltern; und so ereignete es sich, daß ich als ihr erstgeborener Sohn am 2. März 1829 in einer Burg das Licht der Welt erblickte.

Die Burg war der Stammsitz des Grafen von Wolf-Metternich. Aber sie war nicht sehr alt – wenn ich mich recht erinnere, zwischen 1650 und 1700 erbaut –, ein großer Komplex von Gebäuden unter einem Dach, an drei Seiten einen geräumigen Hof umgebend; hohe Türme mit spitzen Dachkappen und großen eisernen Wetterfahnen an den Ecken; ein ausgemauerter, breiter, stets gefüllter Wassergraben rings umher; darüber eine Zugbrücke in einen engen gewölbten Torweg führend; in der Mauer über dem schweren, mit breitköpfigen Nägeln beschlagenen Tor das Wappenschild der gräflichen Familie mit einer Inschrift, die ich entzifferte, sobald ich lesen konnte, und die mir durch all die wechselnden Schicksale meines Lebens ziemlich wörtlich im Gedächtnis geblieben ist:

„Vorhin war ich in Hessenland
Von Guttenberg ein Wolf genannt.
Jetzt bin ich durch Gottes Macht
Graf Wolf Metternich zur Gracht.“

[3] Das große Gebäude enthielt die Wohnung des Pächters, sowie die Ställe, Scheunen, Kornspeicher und die Bureaus der gräflichen Rentmeisterei. An der vierten offenen Seite des Quadrats führte eine zweite Brücke über den Graben nach einem kleineren, aber weit eleganteren Gebäude auf etwas erhöhtem Grunde, welches der Graf mit seiner Familie im Sommer bewohnte. Dieses hatte ebenfalls seinen Turm, sowie niedrigere, eine Kapelle und Wohn- und Wirtschaftsräume enthaltende Flügel und war auch auf allen Seiten von Wasser umgeben. Man nannte dies „das Haus“. Eine andere Zugbrücke verband „das Haus“ mit einem etwa 60 Morgen großen Garten, „der englische Garten“ genannt, welcher etwa zur Hälfte im Versailler Stil mit geraden Kieswegen und gelegentlichen Labyrinthen angelegt, mit hohen beschnittenen Hecken, griechischen Götter- und Nymphenbildern, Springbrunnen und Teichen verziert und von Pfauen und Perlhühnern bevölkert war. Eine große Orangerie, deren Bäume in Kübeln im Sommer reihenweise paradierten, bildete einen besonderen Schmuck. Die andere Hälfte bestand aus schattigen Baum- und Gebüschanlagen mit hier und da einem Sommerhäuschen oder Pavillon. Alles dies zusammengenommen hieß im Volksmunde „die Burg“, und mein Großvater war im Dorfe und weithin in der Umgegend als „der Burghalfen“ bekannt. („Halfen“ wurden ursprünglich diejenigen Pächter genannt, die mit ihren Gutsherren den Ertrag der Ernten zu gleichen Hälften teilten. Diese Einrichtung hatte jedoch in diesem, wie in den meisten Fällen am Rhein, der Zahlung eines Pachtzinses in Geld Platz gemacht. Aber der Name „Halfen“ blieb.)

Mein Großvater, der Burghalfen, hatte zur Zeit meiner ersten Erinnerung ungefähr sein sechzigstes Jahr erreicht. Er war ein Mann von gewaltigen Proportionen, über sechs Fuß groß, von mächtiger Breite in Brust und Schultern; die Züge des Gesichts massiv in Übereinstimmung mit der ganzen Statur; ein voll und entschieden geformter Mund über starkem, eckigem Kinn, die Nase groß und gerade, darüber buschige Brauen, ein dunkelglänzendes Augenpaar beschattend; die Stirn breit und der große Kopf bedeckt mit krausem, braunem Haar. Seine Muskelstärke war erstaunlich. Bei einer Kirmeß, als er mehrere andere Halfen zu Gast hatte, wurde eine Kraftprobe vorgeschlagen, und mein Großvater ging die Wette ein, daß er den großen Amboß, der jenseits des Burggrabens in der Schmiede stand, in seinen Armen über die Brücke, durch das Tor, ins Haus und alle Treppen hinauf bis zum höchsten Söller und wieder zurück in die Schmiede tragen werde; und ich sehe ihn noch einherschreitend mit dem gewichtigen Eisenblock in seinen mächtigen Armen, treppauf und treppab, als trüge er ein kleines Kind. Wunderbare Geschichten wurden von ihm erzählt, wie er einmal einen wütigen Stier, der aus dem Stall in den Burghof gebrochen war und alle Knechte ins Haus getrieben hatte, und dem er allein entgegentrat, mit einem Hammer auf einen Schlag zu Boden gefällt, und wie er bei verschiedenen Gelegenheiten schwer beladene Wagen, die in den tiefen Geleisen schlechter Landwege feststeckten, allein mit untergestemmten Schultern herausgehoben habe, und dergleichen mehr. Es ist nicht unmöglich, daß diese Geschichten von den Taten des Burghalfen, [4] wie sie von Mund zu Mund gingen, ein wenig über die Grenzen des streng tatsächlichen hinaus legendenhaft an Großartigkeit zunahmen. Aber sie wurden mit allen erdenklichen Versicherungen der Wahrhaftigkeit erzählt, und gewiß ist, daß mein Großvater in seiner Umgebung bei weitem der stärkste Mann war.

Eine sorgfältige[1] Erziehung hatte er nicht genossen. Das Lesen und Schreiben verstand er, aber zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte es nicht. Mit Büchern machte er sich wenig zu tun; dahingegen war er ein Mann von großer Autorität unter dem Volke. Vom Dorfe und aus der Umgegend kamen die Leute zum Burghalfen, um sich bei ihm Rat zu holen, oder ihm ihre Streitigkeiten vorzulegen. Und wenn der Burghalfen von irgend einem schlimmen Zwist zwischen Mann und Frau, oder zwischen Nachbarn erfuhr, so nahm er seinen Haselstock zur Hand und begab sich auf den Kriegsschauplatz. Da hörte er die Klagen und Verteidigungen der Parteien, und sobald er zum Schluß gekommen war, auf welcher Seite die Schuld lag, so fällte er sein Urteil und fügte auch wohl auf der Stelle die Strafe hinzu, die nicht selten in einer tüchtigen Tracht Prügel bestand. Gegen seinen Spruch und die unmittelbare Exekution, gegen diese patriarchalische Justiz, wagte niemand zu protestieren. Und wenn die Erntezeit kam und der Burghalfen brauchte Arbeiter im Felde, so durfte er nur durch das Dorf gehen und Jung und Alt strömte zu seinem Dienste heran, bis das Getreide in der Scheune war. Aber die Hilfeleistung war gegenseitig. Wer immer sich in Bedrängnis befand, der konnte sich vertrauensvoll an ihn wenden, und dann war ihm kein Opfer zu groß und keine Mühe zu schwer.

„Leben und Lebenlassen“ war sein Grundsatz und seine Gewohnheit. Er liebte das Vergnügen, vielleicht etwas mehr, als für ihn und die Seinigen gut sein mochte. Besonderes Behagen fand er an den lustigen Gelagen mit Wein und Kartenspiel, welche damals die beliebteste Festunterhaltung der wohlhabenderen Bauern des Rheinlandes bildete. Jede Pfarre hatte ihre jährliche „Kirmeß“, welche dem Essen, Trinken, Spielen und Tanzen geweiht war. Die Feier dauerte regelmäßig drei Tage, wurde aber nicht selten auch über den vierten Tag hinausgesponnen. Zur Kirmeß besuchten die Verwandten und intimeren Freunde einander mit Familie, so daß es für denjenigen, der viele Geschwister, Vettern, Schwäger und liebe Kumpane hatte, den Sommer hindurch der Gelage nicht wenige gab. An jedem Kirmeßtisch nun, seinem eigenen sowohl als denen seiner Freunde, war der Burghalfen die Hauptfigur. Nur wenige Halfen gab es, die er nicht unter den Tisch trinken konnte, und er war ein furchtbarer Kämpe, kam es zum Streit. Das geschah wohl nicht oft, denn er war durchaus nicht zanksüchtig. Aber ich habe doch erzählen hören, wie beim Kirmeßtanz oder sonstiger festlicher Gelegenheit der Burghalfen, wenn er selbst oder einer seiner Freunde beleidigt wurde, mit wuchtigem Fußstoß einen Stuhl zertrümmerte, die Stuhlbeine ergriff und mit dieser Waffe, wie Samson mit dem Eselskinnbacken, die Philister unwiderstehlich vor sich hertrieb. Ferner gab es in den größeren Gemeinden ein jährliches „Vogelschießen“.

[5] Wenn nun in der Umgegend bei solchen Gelegenheiten der Burghalfen fehlte, so galt das Fest nicht für vollständig. Aber er fehlte nicht oft. Gewöhnlich war er mit seiner großen Kugelbüchse, „der Ferkelstecher“ genannt, zur Stelle. Dieser Ferkelstecher – warum so genannt, weiß ich nicht mehr – war eine merkwürdige Waffe. Sie schoß eine gute Handvoll Pulver und eine Kugel, die volle acht Lot wog, und war so schwer, daß nur die stärksten Männer sie wagerecht ohne Stütze an der Schulter zu halten vermochten. Selbst wenn mein Großvater sie abfeuerte, so stand immer einer der kräftigsten seiner Knechte mit ausgestreckten Händen hinter ihm, um das Gewehr in seinem scharfen Rückstoß aufzufangen. Die Zahl der hölzernen Vögel, die der Burghalfen mit seinem furchtbaren Ferkelstecher herunterbrachte, war sehr groß, und jedesmal folgte ein Gelage, das den gewonnen Einsatz aufzehrte und gewöhnlich noch ein gutes Stück darüber. Nicht selten kam dann der siegreiche Burghalfen mit schwerem Kopf nach Hause.

Aber ein tüchtiger Ackerbauer war er auch – verständig, energisch und unermüdlich. In aller Frühe mit den Knechten auf dem Felde, unterwies und regierte er nicht nur, sondern, wenn es galt, ging er ihnen in der schwersten Arbeit mit gutem Beispiel voraus. Sein Bild steht noch vor mir, wie er dem Brauch gemäß in eigener Person den ersten Erntewagen in die Scheune brachte, die Peitsche in der Hand auf einem der drei oder vier geschmückten Pferde sitzend, die eins nach dem andern, tandemartig, vor den Wagen gespannt waren. Oft habe ich auch sagen hören, daß sein Rat über landwirtschaftliche Dinge von seinen Berufsgenossen häufig gesucht und hoch geschätzt wurde. Natürlich war er ein König in seinem Hause, aber ein König, dem man nicht nur gehorchte, sondern den man auch lieb hatte, und dessen Fehler man ansah wie eine Art von Naturnotwendigkeit, an der sich eben nichts ändern ließ.

Neben ihm stand meine Großmutter in merkwürdigem Kontrast. Sie war eine kleine, schmächtige Frau mit einem mageren Gesicht, das einmal hübsch gewesen war; von zarter Gesundheit, fromm, sanft, häuslich, immer tätig und voll von Sorgen. Der Haushalt, dem sie vorstand, war in der Tat groß genug, um ihr wenig Ruhe zu lassen. Bei Tagesanbruch im Sommer und bei Lampenlicht im Winter war sie auf den Füßen, um zu sehen, daß das zahlreiche Gesinde, männliches und weibliches, an die Arbeit kam und sein Frühstück hatte. Da waren wohl nahezu zwei Dutzend Knechte und Mägde, die gelegentlich beschäftigten Tagelöhner nicht gerechnet. Das Gesinde, gewöhnlich „das Volk“ genannt, versammelte sich zu den Mahlzeiten in einer zu ebener Erde gelegenen Halle, deren gewölbte Decke auf dicken steinernen Säulen ruhte. An der einen Seite befand sich der Herd mit großem Rauchfang. Mächtige Kessel hingen an eisernen Ketten und Haken über dem offenen Feuer. Dies war die allgemeine Küche des Hauses. Auf der andern Seite der Halle stand ein langer Tisch, an welchem, auf hölzernen Bänken sitzend, „das Volk“ seine Mahlzeiten nahm. Ehe sie sich niedersetzten, sagten die Knechte und Mägde, mit dem Rücken gegen den Tisch gewandt, ihre Gebete her. Dann brachte der Meisterknecht das [6] Heft seines Messers mit lautem Schlag auf den Tisch und das war das Zeichen zum sitzen. Ihre Suppe oder ihren Mehlbrei aßen die Leute mit hölzernen Löffeln aus großen hölzernen Schüsseln. Fleisch und Gemüse wurden vorgelegt auf langen, schmalen, weiß gescheuerten Brettern, die den Tisch entlang lagen. Teller gab es nicht. Eiserne Gabeln lieferte das Haus; zum schneiden gebrauchten die Leute ihre Taschenmesser. Der Meisterknecht schnitt das Schwarzbrot vor, welches dann in großen Stücken herumgereicht wurde. Weißes Brot gab es nur an Festtagen. Während der Mahlzeit wurde kein Wort gesprochen. Sobald der Meisterknecht Messer und Gabel niederlegte, war die Mahlzeit zu Ende. Es verstand sich von selbst, daß er den Leuten Zeit ließ, sich zu sättigen. Nach diesem Signal standen alle auf, wendeten sich wieder mit dem Rücken gegen den Tisch, sprachen noch ein Gebet und gingen dann auseinander, jedes an seine Arbeit.

Während das Volk seine Mahlzeit nahm, war meine Großmutter mit einer Küchenmagd am Herde beschäftigt, um für den Tisch der Familie zu sorgen. An der Seite des Herdes führte eine kleine Treppe von fünf oder sechs Stufen von der Volkshalle hinauf in ein kleineres, aber immerhin noch recht geräumiges Gemach, welches ebenfalls eine gewölbte Decke hatte. Ein langer Tisch stand in der Mitte, von Stühlen umgeben, deren mehrere mit Leder gepolstert und mit blanken kupfernen Nägeln geschmückt waren. Nach dem Hofe zu öffnete sich ein breites Fenster, mit starken Eisenstäben vergittert, die, nach außen gebogen, den Umblick über den ganzen Hof zuließen. Dies war das Wohngemach der Familie und diente auch als Eßzimmer mit Ausnahme der Festtage, wenn es viele Gäste gab. Dann wurde in einem größeren Saal an der anderen Seite der Volkshalle getafelt. Das Familienzimmer wurde gewöhnlich die „Stube“ genannt. Es war meiner Großmutter Hauptquartier. In die Wand nach der Volkshalle war ein kleines Fenster gebrochen, durch das die Hausfrau alles beobachten konnte, was dort vorging, und auch zuweilen ihre Stimme erschallen ließ, anordnend oder verweisend. Wenn der Abend kam, im Spätherbst oder Winter, so versammelte sie die Mägde in der Stube mit ihren Spinnrädern. Dann wurde der Flachs gesponnen, der den ganzen Haushalt mit Leinwand versah. Und während die Spinnräder schnurrten, durften die Mägde ihre Lieder singen, wozu meine Großmutter ermunternd den Ton angab. Unterdessen kamen aus ihren Ställen und von ihren Werkplätzen die Knechte und versammelten sich auf den Bänken am großen Herde, um Geschichten zu erzählen und das zu üben, was sie für Witz hielten. In den Sommerabenden saßen sie auf dem Hofe umher oder standen gelehnt an das Geländer der Brücke, ausruhend oder schwatzend oder singend. Nach altem Gebrauch hatte an zwei oder drei Abenden im Jahr das Volk, männlich und weiblich, Erlaubnis, in der großen Halle zusammen zu spielen – blinde Kuh und andere Spiele; und da gab es denn des Hüpfens und Springens und Übereinanderfallens und Schreiens und Lachens kein Ende, bis zur bestimmten Stunde der Meisterknecht wie das Schicksal dazwischentrat und alle zu Bett schickte.

In dieser Umgebung war es, daß ich meines Daseins bewußt [7] wurde und meine ersten Kinderjahre verlebte. Es ist merkwürdig, wie weit einzelne Erinnerungen in die Zeit der anfänglichen Entwicklung des Bewußtseins zurückreichen. So ist mir ein Bild gegenwärtig, das mich mir selbst im Alter von zwei, höchstens drei Jahren vorführt. An dem von Kastanienbäumen eingefaßten Wege, der von der Burg nach dem Dorfe führte, war ein kleiner von Mauern umschlossener Behälter, in dem der Graf einige Wildschweine hielt; darunter zwei oder drei große Eber mit mächtigen weißen Hauzähnen. Ich sehe mich selbst als kleines Kind im Unterröckchen, mit einem weißen Häubchen auf dem Kopf, auf der Mauer sitzend und mit Vergnügen, aber auch mit Furcht, auf die schwarzen Ungetüme hinunterblickend; neben mir eine Frau, die ihren Arm um mich geschlungen hält, so daß ich nicht hinunterfallen kann; und wie ich da sitze, kommt ein alter Mann mit glänzenden Knöpfen auf dem Rock, spricht mit mir und gibt mir Zuckerbrot. Meine Mutter, der ich im späteren Leben von dieser Erinnerung sprach, sagte mir, der Mann sei gewiß der alte Bernhard gewesen, der Leibdiener des Grafen, der silberne Knöpfe auf seinem Livreerock hatte, und der es liebte, sich mit mir zu tun zu machen und mir Süßigkeiten vom „Hause“ zu bringen. Nach dem Todesjahre des alten Bernhard gerechnet, könne ich damals höchstens in meinem dritten Jahre gewesen sein.

Ein anderes Bild steht mir ebenso lebendig vor Augen. Ein Abend im Familienzimmer, der „Stube“; eine Lampe mit einem grünen Schirm auf dem Tisch; ich sitze auf meines Großvaters Knie und er gibt mir Milch aus einem Glase zu trinken; ich verlange mehr; mein Großvater läßt einen großen mit Milch gefüllten Zuber bringen und auf den Tisch stellen; dann zieht er mir mit seinen eigenen großen Händen die Kleider aus und setzt mich nackt in den Zuber, in welchem mir die Milch beinahe bis an den Mund hinaufreicht; nun sagt er mir, ich möge trinken so viel ich wolle, er sieht zu, wie ich den Mund öffne, um die Milch hineinfließen zu lassen und lacht aus vollem Halse, und wie ich nun, nachdem ich genug getrunken, anfange, in der Milch mit den Händen zu platschen und ihn über und über bespritze, läßt er sich auf einen Stuhl fallen und lacht immer unbändiger.

Noch andere Bilder sehe ich: Die Schafherde mit den Lämmern kommt abends heim und drängt sich blökend in ungestümer Eile durch den Torweg in den Hof; ich sehe zu, auf dem Arm meiner Mutter sitzend; der alte Schäfer tritt heran, um mir die kleine blanke Wurfschaufel am Ende seines langen Stabes zu zeigen, nach der ich meine Hände ausgestreckt hatte; aber das finster faltige Gesicht des alten Mannes mißfällt mir, und ich schmiege mich an die mütterliche Schulter.

Mit besonderem Behagen gedenke ich noch des großen Kuhstalles, welcher wie eine Kirche gebaut war, mit einem hohen spitzbogig gewölbten Mittelschiff und zwei niedrigeren Seitenschiffen, in denen die Kühe standen. Meine Mutter, die an der Milchwirtschaft viel Vergnügen fand, nahm mich zuweilen mit in den Stall, wenn sie hinging, um zu sehen, daß den Tieren ihr Recht geschah. Wie warm war es da an den Winterabenden! Ich saß dann wohl auf einem Haufen Heu oder Stroh im matten Licht der Laternen, die von den hohen Bogen [8] des Mittelschiffes herabhingen; und so lauschte ich dem dumpfen, leisen Geräusch, das, von den wiederkäuenden Kühen herkommend, den weiten Raum mit einer eigentümlichen Wohligkeit erfüllte, und dem Geschwatz und Singen der Mägde, die geschäftig hin- und hergingen und die Kühe bei ihrem Namen riefen.

Meine Mutter erzählte mir später, daß ich damals eine sehr aufregende Liebesaffäre gehabt habe. Der Graf hatte eine Tochter, die zu jener Zeit etwa 18 oder 19 Jahre alt und sehr schön war. Die junge Gräfin Marie pflegte, wenn sie mir auf ihren Spaziergängen begegnete, die roten Pausbacken zu streicheln und mich vielleicht auch sonstwie zu liebkosen, wie junge Damen das zuweilen mit ganz kleinen Knaben zu machen pflegen. Die Folge war, daß ich mich heftig in die junge Gräfin verliebte und offen erklärte, sie heiraten zu wollen. Meine Absichten waren also durchaus ehrlich. Die Gräfin Marie schien aber die Sache nicht so ernst zu nehmen, und das führte zu einer Katastrophe. Eines Tages sah ich sie mit einem jungen Mann an einem Fenster des Herrenhauses stehen, damit beschäftigt, mit einer Angel im Burgweiher Karpfen zu fangen. Eine wütige Eifersucht ergriff mich. Ich verlangte schreiend, der junge Mann müsse sich sofort von der geliebten Gräfin Marie entfernen, widrigenfalls man ihn ins Wasser werfen solle. Ich ergrimmte noch mehr, als der junge Mann nicht allein nicht fortging, sondern sogar mich auszulachen schien. Ich tobte und brüllte so laut, daß die Burgleute um mich her zusammenliefen, um zu sehen, was da los sei. Ich erzählte es ihnen unter heißen Tränen, und nun lachten die auch, was mich noch wütender machte. Endlich kam die gute alte Köchin des Grafen auf einen gesunden Gedanken. Sie führte mich in die Küche, wo sie mir einige Löffel Quittengelee zu essen gab. Quittengelee war mir ein ganz neuer Lebensgenuß und hatte auf meinen Liebesschmerz eine merkwürdig beruhigende Wirkung. Soweit die Erzählung meiner Mutter. Quittengelee ist auch seit jener Zeit meine Lieblingsleckerei geblieben.

Die Burg hatte auch ihren Schrecken für mich. Es war der ausgestopfte Kopf eines Rehbocks mit Hörnern und besonders großen Augen, welcher die Wand über einem Treppenaufgang am Ende eines langen Ganges schmückte. Ich weiß nicht und habe wahrscheinlich nie gewußt, warum mir dieser Rehkopf so fürchterlich war; aber gewiß war er es, und wenn ich ihn passieren mußte, so lief ich, so schnell mich meine kleinen Beine tragen wollten.

Auch höre ich noch das Waldhorn Hermanns, des Leibjägers des Grafen, der an schönen Abenden zuweilen auf der zum gräflichen Hause vom Hofe hinaufführenden Brücke saß und muntere Lieder blies, die von den Mauern und Türmen widerhallten. Hermann war mir eine imposante Persönlichkeit, denn ich hatte ihn ein paarmal, wenn er den Grafen bei festlicher Gelegenheit begleitete, in großer Uniform gesehen mit glänzenden Goldlitzen an den Kleidern, einem Hirschfänger an der Seite und einem großen Federbusch auf dem Kopfe. Er nahm ein übles Ende, der arme Hermann. Eines Tages fand man ihn tot im Walde, von Wilddieben erschossen, – die erste tragische Sensation meines Lebens. Die Mörder sind niemals entdeckt worden, aber ich [9] erinnere mich, daß von uns Kindern noch lange nachher zuweilen dieser und jener mit schaudernder Furcht angesehen wurde als einer, der den Hermann erschossen haben könne.

Ich mag etwas über vier Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern die großväterliche Wohnung in der Burg verließen und ins Dorf zogen, um ihren eigenen Haushalt zu beginnen. Das Dorf bestand aus einer einzigen Straße; an dieser lag auch, etwa mittwegs, auf erhöhtem Platze die Pfarrkirche mit spitzem Turm. Die Häuser, meist sehr klein, waren fast alle aus Fachwerk gebaut – hölzernes Gebälk mit Lehmfüllungen – und mit Dachziegeln gedeckt. Backsteingebäude gab’s vielleicht nur ein halbes Dutzend, von denen die meisten dem Grafen gehörten. Die Bewohner von Liblar, kleine Bauern, Tagelöhner, Handwerker mit einigen Wirten und Krämern, fanden in einer Eigentümlichkeit des Dorfes Grund zum Stolz: ihre Straße war gepflastert. Unser Haus war von sehr bescheidenen Dimensionen, hatte aber zwei Stockwerke, von denen jedoch das oberste so niedrig war, daß mein Großvater, aufrecht stehend, fast die Decke mit dem Kopf berührte.

Obgleich ich nun einen kleinen fünfzehn Monate jüngeren Bruder hatte, der nach meinem Großvater Heribert genannt war, so blieb ich doch des alten Mannes Liebling, und er wünschte, daß ich möglichst viel um ihn sein möchte. Meine Mutter hatte mich daher fast jeden Tag zur Burg zu bringen, und ich begleitete meinen Großvater zuweilen selbst bei seiner Arbeit. Wenn er zur Erntezeit Getreide einfuhr, so saß ich wohl bei ihm auf dem Sattel; und wenn er im Spätherbst oder Winter hinging, um seine fetten Schweine zu schlachten, was er selbst zu tun pflegte, so hatte ich die lederne Scheide mit den großen Messern zu tragen, die, an einem breiten mit blanker Messingschnalle versehenen Gurt hängend, mir so um die Schultern befestigt wurde, daß ich sie nicht auf der Erde nachschleppte. Und je wichtiger ich mich dabei zu fühlen schien, um so größer war meines Großvaters Vergnügen. Wenn er nichts besseres für mich zu tun wußte, so gab er mir eine alte Jagdflinte mit Steinschloß, das er mich lehrte zu spannen und abzudrücken, so daß es Funken gab. Dann durfte ich in der „Stube“ und den anliegenden Schlafkammern umherjagen und so viele Hasen, Rebhühner, Füchse, Rehe und Wildschweine schießen, wie meine Einbildung aufzujagen wußte. Das konnte mich stundenlang unterhalten, und mein Großvater war dann nicht zufrieden, bis ich ihm die wunderbarsten Geschichten erzählte von dem Wild, das ich geschossen, und von den Abenteuern, die ich in Wald und Feld bestanden hatte.

Plötzlich kam ein großes Unglück über die Familie. Mein Großvater hatte einen paralytischen Anfall, welcher seine Beine lähmte. Sein Oberkörper schien noch gesund zu sein, aber er konnte nicht mehr gehen noch stehen. Da war es denn mit des Burghalfen rüstiger Tätigkeit und mit seinen Kraftproben und seinen Ritten nach Vogelschießen und andern Festlichkeiten auf einmal zu Ende. Der große, schwere Mann, gestern noch strotzend von Kraft, denn er war nur einige sechzig Jahre alt und von einer sehr langlebigen Familie, saß nun vom Morgen bis Abend in einem ledernen Lehnstuhl, die Beine in Flanell gewickelt. Während des Tages stand der Stuhl gewöhnlich in der „Stube“ an dem [10] großen Fenster mit dem ausgebogenen Eisengitter, von wo er den Hof übersehen konnte. Anfangs versuchte er noch, die geschäftlichen Angelegenheiten der Ackerwirtschaft weiterzuleiten. Aber bald ging das auch nicht mehr und er mußte sie einem jüngeren unverheirateten Bruder, den alle Welt „Ohm Michel“ nannte, überlassen, bis sein jüngster Sohn Georg, der in Berlin bei den Kürassieren seinen Militärdienst abmachte, nach Hause zurückkehrte und die Geschäfte übernahm. Die älteren Söhne, von denen später die Rede sein wird, waren nämlich alle verheiratet und selbständig geworden.

Nun wußte der plötzlich gealterte Mann nicht mehr, was er mit sich und seiner Zeit anfangen sollte. Täglich reichte man ihm die Kölnische Zeitung, die er auch wohl ansah, aber er liebte das Lesen nicht sehr. Dann wurde an den Armlehnen seines Stuhls ein kleiner beweglicher Tisch angebracht und mit gepudertem Zucker bestreut, um die Fliegen anzulocken, die im Sommer scharenweise in der Stube umhersummten. Diese erschlug er dann mit einer an kurzem Stock befestigten ledernen Klappe. „Das ist alles was ich noch tun kann“, seufzte zuweilen der einst so starke Mann. Oft wurde ich zu ihm gebracht, um ihn mit meinem kindischen Geschwätz zu unterhalten und ihn lachen zu machen. Dann erzählte er mir auch wohl von vergangenen Tagen, und unter diesen nahm wieder die „französische Zeit“ die vornehmste Stelle ein. Ich hörte dann viel von den Erlebnissen des Gutsbesitzers und Landbauers in den Kriegsjahren. Ich sah die lustigen zerlumpten Sansculotten in das Land hereinbrechen und ihren wilden Unfug treiben. Ich sah bei dem Herannahen derselben den Grafen Wolf-Metternich eines Nachts eilig aus der Burg fliehen, nachdem er meinem Großvater den Schutz alles Zurückgelassenen anvertraut hatte, und nachdem die wertvollsten Sachen und Papiere in einem der Türme tief vergraben und vermauert worden waren. Ich sah bei dem Durchmarsch französischer Truppen während des napoleonischen Kaisertums einen General mit seinem Stabe durch das Burgtor reiten, um im „Hause“ Quartier zu nehmen, wobei dann der Hof sich mit glänzend uniformierten Reitern füllte. Wenn der Großvater zu dem Abzug der Franzosen und der Ankunft der Kosaken kam, wurde seine Erzählung besonders erregt. Da hatte „Ohm Michel“ mit sämtlichen Pferden und Wagen, Kühen, Schafen und Schweinen tief in den Wald ziehen müssen, damit dieselben nicht zuerst den abziehenden Franzosen und nachher den nachsetzenden Russen in die Hände fallen möchten. Seine Beschreibung der Kosaken mußte er mir oft wiederholen. Sie aßen Talgkerzen und durchsuchten das ganze Haus nach Schnaps. Als kein Schnaps mehr zu finden war, drohten sie der Großmutter mit Gewalt, worauf der Großvater einige von ihnen mit der Faust zu Boden schlug und sich sehr wunderte, als den Bestraften von ihren Kameraden keiner zu Hilfe kam. Aber als des Suchens nach Schnaps [11] kein Ende wurde, verfielen die Hausbewohner auf eine List. Sie füllten ein Faß mit Essig, taten etwas Spiritus und eine tüchtige Quantität Pfeffer und Senfsamen hinzu, und dieses Gebräu, das jede gewöhnliche Kehle wie Feuer verbrannt haben würde, tranken die Kosaken als Schnaps, lobten es sehr und befanden sich wohl dabei. Aber gottesfürchtige Leute waren sie auch; denn wenn sie im Hause einen besonderen Schelmenstreich ausführten, so bedeckten sie erst dem an der Wand hängenden Kruzifix die Augen, damit Gott die Sünde nicht sehen möchte.

Solche und viele andere Geschichten wurden wieder und wieder erzählt, und sie wuchsen und breiteten sich aus, wie ich meinem Großvater mit Fragen zusetzte. Daran ließ ich es dann auch nicht fehlen. Meine Lust an diesen Erzählungen war so groß und meine Wißbegierde so lebhaft, daß ich, ehe ich zu lesen anfing, von den französischen Kriegen einen so guten Begriff bekam, wie die Berichte meines Großvaters und meines Vaters ihn mir geben konnten.

Abends wurde des Großvaters Lehnstuhl an den Tisch gerollt, wo dann irgend ein Mitglied der Familie mit ihm Karten spielte. Aber der Abstand von seiner früheren Tätigkeit war zu groß. Er verlor nach und nach seinen frohen Mut, und obgleich er sich Mühe gab, zufrieden zu scheinen und den Seinigen nicht zur Bürde zu werden, so war doch das alte heitere Leben und Treiben der Burg, dessen Seele er gewesen, für immer dahin. Bald stiegen auch noch andere dunkle Wolken von Sorge und Unglück auf.






Zweites Kapitel.

Elternhaus und Heimatdorf. Die ersten Schuljahre.

Ehe ich sechs Jahre alt war, nahm mein Vater mich in die Dorfschule. Ich erinnere mich, daß ich früh lesen und schreiben konnte, aber nicht, wie ich diese Künste gelernt habe. Viel hatte ich dem Unterricht zu danken, den ich außer der Schule zu Hause empfing. Ich hatte kaum ein Jahr lang die Dorfschule besucht, als mein Vater sein Schulmeisteramt aufgab. Dasselbe war elend bezahlt und konnte die Familie, die unterdessen um zwei Mitglieder, meine Schwestern Anna und Antoinette, gewachsen war, nicht mehr ernähren. Mein Vater fing nun eine Eisenwarenhandlung an, für die ein Teil unseres Hauses, der früher als Kuhstall gedient hatte, den Ladenraum lieferte. Es war nur ein kleines Geschäft, aber mein Vater hoffte doch, daß dessen Ertrag hinreichen werde, die Ausführung gewisser ehrgeiziger Zukunftspläne zu ermöglichen. Wie so manche, die einen Wissens- und Bildungsdrang in sich fühlen, dem nur geringe Befriedigung geworden ist, so hegte er den Wunsch, daß seinen Kindern durch eine gute Erziehung dasjenige werden solle, was ihm selbst das Schicksal versagt hatte. Mich bestimmte er schon frühzeitig zum „Studieren“ – das heißt, ich sollte, sobald ich das erforderliche Alter erreicht, das Gymnasium und später die Universität besuchen und mich einem gelehrten Fachstudium widmen. Da ich jedoch von dem Gymnasialalter noch mehrere Jahre entfernt war, so blieb ich vorläufig noch in der Dorfschule.

Aber die Erziehung, die über das dort übliche Maß hinausging, begann doch sehr früh. Wir Kinder sollten alle Musik lernen, ich zuerst; [12] und so wurde denn, als ich eben sechs Jahre alt war, ein altes kleines Klavier angeschafft, das keine Pedale und keine Dämpfung hatte und auch sonst noch mit vielfachen Mängeln behaftet war, aber doch noch genügte, um mir zu den anfänglichen Fingerübungen zu dienen. Mir kam das Instrument sehr schön vor, und ich sah es mit einer gewissen Ehrfurcht an. Nun galt es, einen Musiklehrer zu finden. Zuerst wurde der Organist, der den Kirchendienst besorgte, ins Auge gefaßt. Aber der war ein „Naturmusiker“ – nicht ohne Ohr für Harmonie, aber kaum imstande, die einfachste Komposition in Noten zu entziffern. Die Dorfleute hatten sich an seine Leistungen in der Messe und der Vesper gewöhnt; und wenn auch in seinen Präludien und Interludien zuweilen eigentümliche Verwicklungen eintraten, so störte das weiter nicht. Nun dachte unser Familienrat, der die Musiklehrerfrage beriet, den Organisten, der noch in einem entfernten Grade zu unserer Vetternschaft gehörte, in dieser Sache ehrenhalber nicht ganz übergehen zu können. Aber er war vernünftig genug, mit völliger Wahrung seiner eigenen Würde zu sagen, daß er das, was er von Musik verstehe, anderen nicht beibringen könne, was ihm auch bereitwillig geglaubt wurde. So wurde denn beschlossen, daß ich wöchentlich zweimal nach der etwa anderthalb Stunden Wegs entfernten kleinen Stadt Brühl gehen müsse, wo es einen musikalisch recht gut geschulten Organisten Namens Simons gab. Der Weg führte durch einen großen Wald, „die Ville“ genannt; aber er war eine wohlgepflegte, breite Chaussee, auf der eine Postkutsche ging, und wenn es sich günstig traf, so erleichterte mir der Postillon zuweilen meine musikalische Wanderung, indem er mich bei sich auf dem Bock sitzen ließ.

Nach einiger Zeit wurde mir mein jüngerer Bruder Heribert als musikalischer Mitschüler beigegeben, und damit trat auch eine Erweiterung meiner Studien ein. Während nämlich mein Bruder bei dem vortrefflichen Herrn Simons seine Klavierstunde hatte, benützte ich die freie Zeit, um bei dem Pfarrkaplan in Brühl, einem gestreng aussehenden „geistlichen Herrn“, die Anfangsgründe des Lateinischen zu lernen. So wanderten wir denn zweimal die Woche zusammen nach Brühl und zurück. Unterwegs vergnügten wir uns damit, zweistimmige Lieder zu singen, und da wir beide mit richtigem Gehör begabt waren und es uns an Stimme nicht fehlte, so mag es ziemlich gut geklungen haben. Wenigstens erregten wir die Aufmerksamkeit der Leute, die des Weges kamen. Es geschah uns sogar einmal, daß eine Reisegesellschaft, um uns zuzuhören, ihren Wagen halten ließ, ausstieg, uns zum Niedersitzen unter den Bäumen einlud und uns dann mit allerlei guten Dingen aus ihrem Proviantkorb zu bestimmen suchte, unser ganzes Repertoir herzusingen.

Mein Bruder Heribert, fünfzehn Monate jünger als ich, war ein reizender Junge; blauäugig und blond, heiteren Temperaments und von der liebenswürdigsten Gemütsart. Das Stillsitzen und aus Büchern lernen gefiel ihm weniger, als sich mit Blumen und Tieren zu beschäftigen. Mein Vater dachte daher, während ich ein Gelehrter werden sollte, aus ihm einen Kunstgärtner zu machen. Wir Brüder hingen sehr aneinander, und meine Mutter hat mir im späteren Leben oft erzählt, [13] es sei eine wahre Freude gewesen, uns zusammen zu sehen, wie wir, gleichgekleidet und in vielen Dingen als Brüder erkennbar, uns miteinander umhertummelten und in unseren ernsteren Beschäftigungen sowohl als unseren Spielen und Freuden die beste Kameradschaft hielten. An wilden Knabenstreichen fehlte es auch nicht, aber es gab doch keine von bösartiger Natur. Das Schlimmste, das uns passierte, machte damals auf mich einen tiefen Eindruck und ist mir lebhaft in der Erinnerung geblieben.

Der alte Halfen von Buschfeld, einem nah bei Liblar gelegenen Gut, starb, und da er zu unserer weit verzweigten Verwandtschaft gehörte, so hatten wir Brüder bei dem Leichenbegängnis brennende Wachskerzen zu tragen. Nach dem Begräbnis gab es dann, dem Brauch gemäß, in Buschfeld einen großen Leichenschmaus, an welchem die Verwandten teilnahmen, sowie diejenigen, die bei dem Begräbnis besonders tätig gewesen waren. Solch eine ernste Feier entwickelte sich aber nicht selten zu einem recht heiteren Gelage; und so war es auch diesmal, da das Essen lange dauerte und der vortreffliche Wein den Gästen sehr behagte. Nun fiel es einem leichtsinnigen Onkel ein, meinen Bruder Heribert und mich bei dieser Gelegenheit im Weintrinken üben zu wollen. Er füllte also wieder und wieder unsere Gläser und nötigte uns, sie zu leeren. Die Folge war, daß wir zuerst sehr lustig wurden und dann bewußtlos von unseren Stühlen unter den Tisch glitten; worauf man das arme jugendliche Brüderpaar tief schlafend auf einen mit Stroh gefüllten Karren lud und nach Hause fuhr. Als wir wieder aufwachten und hörten, was geschehen war, schämten wir uns herzlich. Ich weiß nicht, ob ich damals schon einen förmlichen Beschluß faßte, mich niemals wieder so schlecht zu betragen. Aber gewiß ist, daß der Eindruck, den diese Begebenheit auf mich machte, nie verwischt wurde. Ich nahm von da an einen tiefen Ekel vor der Betrunkenheit mit mir ins Leben; und obgleich ich seitdem Wein oder Bier getrunken habe, wann es mir gefiel, so ist doch in der Tat jener Rausch bei dem Leichenschmaus in Buschfeld bis zu dieser Stunde mein einziger geblieben.

Von geistiger Anregung gab es im Dorfe nicht viel, aber doch immerhin etwas – besonders im Hause und im weiteren Kreise der Familie. Meine Mutter hatte nicht mehr Bildung genossen, als sie in der Dorfschule und im Verkehr mit den Ihrigen hatte finden können. Aber sie war eine Frau von ausgezeichneten natürlichen Eigenschaften – in hohem Grade verständig, leicht und klar auffassenden Geistes, und lebhaften Interesses für alles, was Interesse verdiente. Aber ihre wahre Bedeutung lag in ihrem sittlichen Wesen. Ich kenne keine Tugend, die sie nicht besaß. Nichts hätte ihr dabei fremder sein können, als ein sich überhebendes Selbstbewußtsein, denn sie war fast zu bescheiden und anspruchslos. Jene felsenfeste Rechtschaffenheit, die so ist, wie sie ist, weil sie nicht anders sein kann, war in ihr mit der wohlwollendsten Milde des Urteils über andere gepaart. Ihre Uneigennützigkeit bewies sich in jeder Probe als wahrhaft heldenmütiger Aufopferung fähig. Fremdes Leiden fühlte sie tiefer als ihr eigenes, und ihre stete Sorge war um das Glück derer, die sie umgaben. Kein Unglück konnte ihren Mut brechen, und die ruhige Heiterkeit [14] ihres reinen Gemüts überdauerte alle Schläge des Schicksals. Als sie in hohem Alter starb, hatte sie im letzten Augenblicke ihres Bewußtseins noch ein fröhliches Lächeln für ihre Kinder und Enkel, die sie umstanden. Sie war von schlanker, wohlgebauter, mittelgroßer Gestalt, und ihre Gesichtszüge erinnerten ein wenig an die des Großvaters. Wir Kinder bewunderten immer ihr weiches, welliges, goldbraunes Haar. Ob sie in ihrer Blütezeit hätte für schön gelten können, weiß ich nicht; aber wir sahen in ihrem Angesicht den Inbegriff von Liebe, Güte und Anmut. Die Umgangsformen der „gebildeten Welt“ kannte sie nicht; aber sie besaß jene edle Natürlichkeit, die den Mangel an Bildung vergessen läßt. Ihre Handschrift war ungeschickt und ihre Orthographie keineswegs tadellos. Von Literatur wußte sie nicht viel, und mit Grammatik und Stilübungen hatte man sie wenig behelligt. Aber manche der Briefe, die sie mir zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Lebenslagen schrieb, waren nicht nur voll von edlen Gedanken und Empfindungen, sondern auch von seltsam schwunghafter Schönheit im Ausdruck. Die unbewußte Größe ihrer Seele hatte da ihre ureigene Sprache gefunden. Der Einfluß ihres Wesens konnte nicht anders als beständig erhebend und fördernd wirken, wenn sie mir auch in der Erwerbung von Kenntnissen und der daraus entspringenden geistigen Fortentwicklung nur wenig zu helfen vermochte.

Um so eifriger ließ sich mein Vater dies angelegen sein. An den weiß getünchten Wänden unserer kleinen, äußerst bescheiden möblierten Wohnstube, die auch als Speisezimmer diente, hingen, in hübsche Rahmen gefaßt, die Bildnisse von Schiller, Goethe, Wieland, Körner, Tasso und Shakespeare; denn die Dichter, und neben ihnen Geschichtsschreiber und Männer der Wissenschaft, waren meines Vaters Helden, von deren Schöpfungen und Verdiensten er mir früh mit Vorliebe erzählte. Wenn auch die Schule seines Geburtsdorfes und später das Lehrerseminar ihn nicht viel gelehrt hatten, so war doch sein Lerntrieb angespornt worden, und er hatte manches mit Eifer und mehr oder weniger Nutzen gelesen. In der Tat, er las so ziemlich alles, was ihm in die Hände fiel, und so gab er auch mir zum Lesen außerhalb des Schulunterrichts jede mögliche Gelegenheit und Ermutigung. Er selbst hatte sich einige Bücher gesammelt, unter denen sich die Beckersche Weltgeschichte, wohlfeile Ausgaben einiger deutscher Klassiker und Übersetzungen ausgewählter Werke von Voltaire und Rousseau befanden. Aber dieser Lehrstoff lag noch jenseits meines kindlichen Begriffsvermögens, und so mußte denn eine Leihbibliothek aushelfen, die von einem Buchbinder in Brühl geführt wurde. Von dort bezogen wir zuerst eine Reihe sogenannter „Volksbücher“, die ziemlich gut erzählte alte Sagen enthielten, vom Kaiser Oktavianus, von den vier Heimonskindern, vom hörnernen Siegfried, vom starken Roland und einige der beliebten Jugendschriften des „Verfassers der Ostereier“, von dessen für Kinder geschriebenen Rittergeschichten ich noch einige dem Inhalt nach hersagen könnte. Aber dann ging mir eine neue Welt auf. Der alte Gärtner des Grafen, der „Herr Gärtner“, wie wir ihn nannten, der meine Leselust bemerkt hatte, sagte mir eines Tages, daß er ein Buch habe, das mir wohl gefallen würde, und er wolle es mir schenken. Es war [15] die Campesche Bearbeitung jenes herrlichsten aller Jugendbücher, des Robinson Crusoe. Es kann wohl ohne Übertreibung gesagt werden, daß dem Robinson Crusoe die Jugend aller zivilisierten Völker mehr glückliche Stunden verdankt als irgend einem Buch, das jemals geschrieben worden ist. Dieses Glück genoß ich in vollen Zügen. Ich sehe das Buch noch vor mir, wie ich es mit Gier ergriff, sobald meine Schulstunden vorüber waren; ich sehe die abgenutzten Kanten des Einbandes; ich sehe die Holzschnitte, die in den Text gedruckt waren; ich sehe den Tintenfleck, der zu meinem großen Ärger eines dieser Bilder verunstaltete. Ich sehe mich selbst noch, wie ich in meiner Begeisterung dem Schullehrer von dem wunderbaren Buch erzählte und ihn bat, es den gesamten Schulkindern vorzulesen, was er auch tat an zwei Nachmittagen in jeder Woche; und da er merkwürdigerweise das Buch noch nicht gekannt hatte, so wuchs sein eigenes Interesse daran dergestalt, daß die Vorlesungsstunden immer länger wurden, bis der regelmäßige Unterricht fast darunter gelitten hätte. Nächst dem Robinson Crusoe begeisterten mich „der Landwehrmann“, eine volkstümliche Geschichte der „Befreiungskriege“ von 1813, 1814 und 1815, für die zuerst mein Interesse durch die Erzählungen meines Vaters und Großvaters geweckt worden war – eine Lektüre, aus der ich als kindlich feuriger deutscher Patriot hervorging. Ferner fand sich im Pfennigmagazin manches Unterhaltende und Wissenswerte, das mir mein Vater durch seine Erklärungen verständlich machte. Und endlich führte er mich auch in die höhere Literatur ein, indem er mir, als ich von den Masern genesend, noch das Zimmer hüten mußte, eine Reihe Schillerscher Gedichte und zuletzt gar die „Räuber“ vorlas.

Aber es gab noch andere anregende Familieneinflüsse außerhalb des engsten Kreises. Meine Mutter hatte vier Brüder. Der älteste, Ohm Peter, wie wir Kinder ihn nannten, hatte während der letzten Jahre der napoleonischen Herrschaft in einem französischen Grenadierregiment gedient und war reich an Erinnerungen aus jener merkwürdigen Zeit. Nach dem Kriege heiratete er eine „Halfens Tochter“ und wurde selbst „Halfen“ auf einem großen Bauerngut, dem „Münchhofe“ in Lind, eine halbe Stunde Wegs von Köln. Körperlich und geistig glich er von den Brüdern meinem Großvater am meisten, und wir Kinder liebten ihn herzlich. Der zweite war Ohm Ferdinand. Er stand den großen Torfgruben, die der Graf Metternich besaß, und welche die Umgegend mit Brennmaterial versahen, als Verwalter vor und lebte in Liblar in behaglichen Verhältnissen. Im preußischen Militärdienst hatte er es bis zum Landwehrleutnant gebracht, und wir Kinder staunten ihn an, wenn er in seiner bunten Uniform, den Degen an der Seite und den Tschako mit hohem Federbusch auf dem Kopf – Pickelhauben gab es damals noch nicht –, zu den periodischen Musterungen und Manövern auszog. Er hatte manches gelesen und war der Aufgeklärte, der Voltairianer der Familie. Auch gehörte er einer Freimaurerloge in Köln an, und die Dorfleute erzählen sich mit Grauen, wie in den geheimen nächtlichen Versammlungen der Freimaurer der leibhaftige Teufel in Gestalt eines schwarzen Ziegenbocks erscheine und die Mitglieder der Loge sich ihm mit Leib und Seele verschreiben [16] mußten. Die Tatsache, daß Ohm Ferdinand Sonntags nicht zur Kirche ging, schien in dieser Beziehung die schlimmsten Gerüchte zu bestätigen. Seine Gattin, eine Frau von vortrefflichem Charakter und tüchtige Wirtschafterin, hatte die eigentümliche Liebhaberei, sich über den Personalbestand und die Schicksale der europäischen Fürstengeschlechter aufs genaueste unterrichtet zu halten, und wir hörten sie oft mit erstaunlicher Klarheit die verwickeltsten Familienbeziehungen auseinandersetzen und merkwürdige Geschichten über die „hohen Herrschaften“ erzählen.

Der dritte Bruder war Ohm Jacob, der als junger Mann nach der kleinen Festungsstadt Jülich, sieben Wegstunden von Liblar, gezogen war, dort eine Kaufmannstochter geheiratet und sich dem kaufmännischen Beruf gewidmet hatte. Er war ungewöhnlich schön von Angesicht und Gestalt und dazu eine feine, liebenswürdige und im besten Sinne vornehme Natur. Seine vortrefflichen Eigenschaften und sein einnehmendes Wesen gewannen ihm bald die Achtung und Zuneigung der Gemeinde, und er wurde zum Bürgermeister der Stadt ernannt, ein Amt, das er viele Jahre mit tadellosem Anstand und zu allgemeiner Zufriedenheit versah. Jedes Jahr reiste er zur Messe nach Frankfurt, von wo er uns, stets über Liblar zurückkehrend, allerlei hübsche Sachen mitbrachte und interessante Erzählungen über die merkwürdigen Menschen und Dinge, die er dort gesehen und gehört.

Der vierte und jüngste Bruder war Ohm Georg, der, wie schon erwähnt, bei den Kürassieren in Berlin gedient hatte und dann meinen Großvater in der Ackerwirtschaft vertrat. Er hatte als Soldat drei Jahre in der Hauptstadt gelebt und somit auch weit über den Schatten des heimatlichen Kirchturms hinausgeblickt. Er war ebenfalls ein hübscher Mann und hatte den ritterlichen Zug der Familie. Jeder der vier Brüder war über sechs Fuß groß und zusammen bildeten sie eine Gruppe von seltener Stattlichkeit. Auch durch ihre Intelligenz und die Weite ihrer Lebensanschauungen zeichneten sie sich aus vor den gewöhnlichen Landleuten ihrer Umgebung. Ihnen schlossen sich als Geistesverwandte zwei Schwäger an, mein Vater und „Ohm Rey“, der Mann einer Schwester meiner Mutter, ein geistig sehr geweckter und dabei lebenslustiger Mann, der in dem Bauerndorfe Herrig, eine gute Stunde Wegs von Liblar, ein ansehnliches Ackergut als Eigentum besaß. Dieser Kreis fand sich häufig, ganz oder teilweise, in heiterer Geselligkeit zusammen. Aber die gesellige Unterhaltung beschränkte sich nicht auf die landesüblichen Vergnügungen, obgleich es daran nicht fehlte, noch auch auf die Verhandlung alltäglicher Geschäfte. Diese Männer lasen ihre Zeitungen, interessierten sich für das, was in der Welt vorging, und besprachen unter sich, wenn auch nicht mit besonderer Sachkenntnis, aber doch mit eifriger Teilnahme, die Ereignisse, die nah und fern die Menschheit bewegten. Solchen Gesprächen wohnte ich nicht selten, an meines Vaters Stuhl gelehnt, oder unbemerkt in einem Winkel kauernd, als stummer aber begieriger Zuhörer bei. Manche der davon empfangenen Eindrücke sind mir im Gedächtnis geblieben. Da hörte ich denn von den Kämpfen des Abdel-Kader in Algier und des Helden Schamyl im Kaukasus, von den wiederholten [17] Attentaten auf den König Louis Philipp in Frankreich; von dem Karlistenkrieg in Spanien und den Generälen, deren Namen mir so wunderbar musikalisch klangen; von der Verhaftung des Erzbischofs von Köln wegen jesuitischer Umtriebe gegen die preußische Regierung, ein Ereignis, das mich besonders aufregte, usw. Von dem, was ich so hörte, war mir vieles zuerst wenig mehr als bloßer Schall. Aber ich ließ es dann nicht an Fragen fehlen, die mir mein Vater oder Ohm Ferdinand, so gut es ging, beantworten mußte. Obgleich dadurch der Geist des Knaben nur wenig klares Verständnis gewann, so wurde doch schon früh in ihm das Gefühl geweckt, daß wir in unserm kleinen Dorfe ein Teil einer großen Welt seien, deren Kämpfe uns angingen und unsere Aufmerksamkeit und Teilnahme verlangten. Und dieses Interesse blieb mir von jener Zeit an. Auch hörte ich in diesem Familienkreise zuerst von Amerika sprechen. Eine Bauernfamilie von Liblar, namens Trimborn, entschloß sich, nach den Vereinigten Staaten auszuwandern. Noch steht mir das Bild lebhaft vor Augen, wie eines Nachmittags ein mit Kisten und Hausgerät beladener Lastwagen sich von Trimborns Hause in Bewegung setzte, wie die Familie von den Dorfleuten Abschied nahm, wie eine große Schar den Auswanderern bis vor das Dorf das Geleit gab, und wie dann der Wagen auf dem Wege nach Köln im Walde verschwand. Eine andere uns befreundete Familie namens Kribben, aus einem benachbarten Dorf, folgte bald den Trimborns, um sich in Missouri niederzulassen, wo ich sie viele Jahre später wiedersah, und wo einer der Söhne ein hervorragender Mann wurde. Unterdessen wurde von meinem Vater und meinen Oheimen Amerika eifrig besprochen. Da hörte ich denn zum ersten Male von dem unermeßlichen Lande jenseits des Ozeans, seinen ungeheuren Wäldern, seinen großartigen Seen und Strömen, von der jungen Republik, wo es nur freie Menschen gäbe, keine Könige, keine Grafen, keinen Militärdienst und, wie man in Liblar glaubte, keine Steuern. Alles was über Amerika Gedrucktes aufgetrieben werden konnte, wurde mit Begierde gelesen, und so sah ich im Pfennigmagazin zum erstenmal das Bildnis Washingtons, den mein Vater den edelsten aller Menschen in der Geschichte der Welt nannte, da er als Feldherr im Kriege für die Befreiung seines Volkes große Heere kommandiert und dann, statt sich zum König zu machen, all seine Gewalt freiwillig niedergelegt und wieder als einfacher Landwirt den Pflug in die Hand genommen habe. An diesem Beispiele erklärte mein Vater mir, was ein „Freiheitsheld“ sei. Dann schwärmten die Männer unseres Familienkreises nach Herzenslust in jener Blockhausromantik, die für die Phantasie des mit dem amerikanischen Leben unbekannten Europäers, besonders des Deutschen, so großen Zauber gehabt hat, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre auch von ihnen der Beschluß der Auswanderung schon damals gefaßt worden. Obgleich es nicht so bald dazu kam, so blieb doch Amerika in der Familie ein beliebter Gesprächsgegenstand, der durch die Ankunft von Briefen der Trimborns und Kribbens, die mit Sehnsucht erwartet und mit Eifer gelesen wurden, immer erneuertes Interesse gewann.

Auch unter den älteren Leuten außerhalb der Familie fand ich [18] einen Freund, der mir allerlei Anregungen gab, und zwar einen recht sonderbaren. Sein Name war Georg van Bürck, und da er früher einmal Schuhmachermeister gewesen war, so wurde er gewöhnlich „Meister Jurges“ genannt. Sein Handwerk hatte er wegen einer Augenschwäche aufgeben müssen. Dann ernährte er sich als Botengänger und wurde von meinem Vater so häufig beschäftigt, daß er bei uns fast wie ein Zugehöriger aus- und einging, obgleich er selbst eine Frau und mehrere Kinder hatte, mit denen er ein kleines Haus in unserm Dorf bewohnte. Meister Jurges war damals ein Mann von mittleren Jahren, lang und hager, mit schmalem, freundlichem Gesicht, dem der weißliche Schein eines erblindeten Auges einen eigentümlichen Ausdruck gab. Er war einer von den Leuten, die bei guten natürlichen Anlagen nur geringen Unterricht genossen haben, bei denen aber das wenige genügt, um ihr Denkbedürfnis aus dem Geleise des in ihrer Lebenssphäre Althergebrachten und Alltäglichen herauszuheben. Er hatte allerlei Gedrucktes, das ihm in die Hände gefallen war, gelesen, und wenn er auch manches davon nicht verstand, so machte er sich doch seine eigenen Gedanken darüber. Es kamen ihm mancherlei drollige Einfälle, die er mit einer gewissen Sprachgewandtheit und zuweilen gar in recht pikanten Ausdrücken zum besten gab, und da seine Gemütsart kaum hätte gutartiger und gefälliger sein können, so mochte alle Welt ihn gern leiden.

Wie die ganze Bewohnerschaft des Dorfes und der Umgegend war er katholisch; aber in manchen Dingen stimmte er mit der Kirche nicht überein und meinte, wenn wir nur glauben und gar nicht selbständig denken sollten, wozu habe uns dann der allweise Schöpfer den Verstand gegeben? Besonders kritisierte er die Predigten des Pastors der Pfarre Liblar mit großer Lebhaftigkeit und Schärfe. Auch mit dem Apostel Paulus hatte er manche Meinungsverschiedenheiten. Obgleich ich noch ein bloßes Kind war, machte er mich zum Vertrauten seiner religiösen Zweifel und philosophischen Betrachtungen; er glaubte nämlich, da ich „studieren“ solle, so müßte ich mir über solche Dinge möglichst früh eine Meinung bilden, und man könne daher füglich mit mir darüber reden. Mit besonderem Ernste warnte er mich, nur ja nicht „auf Geistlich“ zu studieren, wie man sich am Niederrhein ausdrückte – d. h., nicht Theologie zu studieren mit der Absicht, Priester zu werden –, „denn“, sagte er, „die geistlichen Herren müssen zu viel Dinge sagen, an die sie selbst nicht glauben.“ Und dann ging er mit großer Beredsamkeit auf die in den Evangelien erzählten Wunder los, die ihm durchaus nicht in den Kopf wollten.

Aber zuweilen schien sich Meister Jurges doch zu erinnern, daß ich noch ein Kind war. Er nahm mich dann auf seine Knie und erzählte mir Märchen oder Gespenstergeschichten, wie man sie eben Kindern erzählt; er versäumte jedoch nie hinzuzusetzen, daß diese Geschichten alle erdichtet seien, und daß ich nur ja keine davon glauben solle. Ich versprach ihm dies, verlangte aber noch mehr. Die Kinderseele hat ein noch frisches und reines Bedürfnis für das Wunderbare, und wenn auch die Furcht an und für sich ein unbequemes, unangenehmes Gefühl ist, so haben doch die Schauer, welche der Gedanke an [19] das Ungeheure, Übernatürliche hervorbringt, einen seltsamen Reiz. Die Dorfleute, unter denen ich lebte, waren meist noch in hohem Grade abergläubisch. Sehr viele davon glaubten noch steif und fest, daß es Hexen gebe, die mit dem Teufel in sehr intimen Beziehungen ständen; und von zwei oder drei alten Frauen im Dorfe wurde im geheimen gemunkelt, daß es mit ihnen nicht richtig sei. Auch hörte ich einige unserer Nachbarn erzählen, daß sie selbst „Feuermänner“ auf dem Felde hätten einherwandeln sehen. Diese Feuermänner seien „arme Seelen“, wegen irgend besonderer Missetaten dazu verdammt, des Nachts in brennender Gestalt umzugehen. Nun wußte ich wohl, von meinen Gesprächen mit meinen Eltern, mit meinen Oheimen und mit Meister Jurges, daß es keine Hexen gebe, und daß die „Feuermänner“ bloße Irrwische seien, die sich in den Dünsten des Moorlandes bildeten; aber ich fand doch eine geheime Lust des Grauens daran, die alten Frauen zu betrachten, die der Hexerei verdächtig waren, und die Sumpfstellen zu besuchen, wo man die fürchterlichen Feuermänner gesehen haben wollte; und dabei ließ ich meiner Einbildungskraft freien Lauf und dachte mir allerlei wunderbare Geschichten aus.

Meinem Freunde Meister Jurges verdankte ich auch meine erste Vorstellung von einem Philosophen. Im Dorfe stand ein altes Gebäude, das einst offenbar ein viel vornehmeres Wohnhaus gewesen war, als die, welche es umgaben. Es war ansehnlich größer, das Gebälk des Fachwerkes war viel künstlicher gefügt und geschmückt, und sein Eingang von einem Überbau gedeckt, der, auf vier hölzernen Pfeilern ruhend, in die Straße hineinragte. Zu der Zeit, von der ich spreche, war das Haus unbewohnt und verfallen. Der Eingang hatte keine Tür mehr und stand den Dorfkindern offen, die sich auf den morschen Böden und Treppen frei umhertrieben und die wüsten Kammern und dunklen Winkel besonders gut zum Versteck- oder Räuberspiel fanden. Der unheimliche alte Bau interessierte mich lebhaft und von Meister Jurges erhielt ich den ersten Aufschluß über seine letzten Besitzer und Bewohner. Es waren zwei Brüder gewesen, alte Junggesellen, namens Krupp, damals schon seit einer Reihe von Jahren tot. Der ältere davon hieß Theodor, im Volksmunde „Krupps Duhres“ und war, wie mir Meister Jurges erzählte, ein höchst sonderbarer Herr. Er trug sein Haar noch in einen Zopf geflochten und auf seinem Kopfe einen altmodischen dreieckigen Hut. Da er nur ein Auge hatte, so gebrauchte er eine Brille mit nur einem Glase, und diese Brille war unter der vorderen Ecke seines Hutes befestigt, so daß er das Glas vor seinem sehenden Auge hatte, sobald er den Hut aufsetzte. Er besaß eine große Menge von Büchern und war ein grundgelehrter Mann. Oft ging er in Gedanken vertieft umher mit den Händen auf dem Rücken, ohne jemanden anzusehen. Die Kirche besuchte er nicht und als er starb, wollte er von der letzten Ölung nichts wissen. „Krupps Duhres“, so schloß Meister Jurges seine Beschreibung, „war ein Philosoph.“ Ich fragte meinen Vater, der auch von Krupps Duhres wußte und alles bestätigte, was Meister Jurges mir erzählt hatte, ob jener sonderbare Mann wirklich ein Philosoph gewesen sei. Mein Vater meinte, das sei wohl außer Zweifel. Dies war meine erste Vorstellung von einem Philosophen [20] und im späteren Leben ist mir das Bild des dreieckigen Hutes mit der daran befestigten einäugigen Brille noch oft im Gedächtnis aufgestiegen, wenn ich von Philosophie oder Philosophen reden hörte.

Mein Freund Meister Jurges hatte zuweilen Anwandlungen, die auf mich einen tiefen Eindruck machten. Es geschah ihm wohl – nicht oft, aber doch dann und wann –, daß er in fröhlicher Gesellschaft etwas mehr trank, als er sollte. Aber seine Anheiterung – Rausch konnte man es kaum nennen – hatte nichts Tierisches, Abstoßendes an sich. Sie machte ihn nur munterer und vermehrte den Sprudel seiner originellen Einfälle. Eines Tages war ich bei einer solchen Gelegenheit gegenwärtig. Meister Jurges hielt mit seinen launigen Bemerkungen die Gesellschaft in der heitersten Stimmung. Da hörten wir eine Wanduhr schlagen. Meister Jurges unterbrach sich plötzlich mitten in einem Satze, sprang auf und rief in feierlich ernstem Ton: „Ah, schon wieder eine Stunde dem Tode näher.“ Aber in der nächsten Minute, nach kurzem Schweigen, setzte er sich wieder hin und führte das Gespräch weiter, eben so lustig wie vorher. Mein Vater, dem ich diesen Vorfall erzählte, sagte mir, daß er schon mehrmals ähnlichen Szenen beigewohnt habe. Meister Jurges habe eine Ahnung, er werde nicht alt werden; er mache sich allerlei Gedanken darüber, wie es wohl mit dem Leben nach dem Tode beschaffen sein möge, und was ihn so innerlich beschäftige, komme zuweilen auf diese sonderbare Weise zum Ausbruch.

Mich behelligte er mit diesen trüben Vorgefühlen nicht. Vor mir entwickelte er nur die heiteren Seiten seines Charakters und seiner Lebensphilosophie, obgleich er dieses pomphafte Wort nie gebrauchte. Er versuchte häufig, mir zu zeigen, wie wenig dazu gehörte, um glücklich zu sein, – und zum Beweis ließ er sein eigenes Beispiel dienen. Er war doch ein recht armer Mann nach den gewöhnlichen Begriffen der Welt. Das Schicksal hatte ihn nicht nur nicht begünstigt, sondern eher hart geschlagen. Er leugnete nicht, daß er in sich den Stoff zu etwas Besserem fühle als zum Schuster, aber nur dazu hätten seine Eltern ihn machen können. Dann habe die Augenkrankheit ihm gar die Tauglichkeit zum Schusterhandwerk geraubt, und er habe ein Botengänger werden müssen, um für die Seinigen das tägliche Brot zu erwerben. Aber was würde es helfen, wenn er sich nun mit finstern Grübeleien quälte über das, was er hätte werden sollen und nicht geworden sei? Die Welt sei auch dem armen Botengänger noch schön. Ihm sei das Glück geworden, mit Menschen umgehen zu dürfen, die mehr gelernt hätten und geschulter seien als er. Jeder neue Gedanke, den er aussprechen höre und verstehen könne, sei ihm ein großer Genuß. Er dürfe nur mehr an die Freuden denken, die ihm das Leben geschenkt, als an die Leiden, die es ihm gebracht habe, um sich glücklich zu fühlen. Man brauche in der Tat nicht mehr zum irdischen Glück als ein gutes Gewissen und Genügsamkeit. Wenn ich im späteren Leben einmal von Armut gedrückt oder von unverdienten Schicksalsschlägen getroffen werden sollte, so möge ich nur an meinem Freund, den Botengänger Jurges, denken. – Solche Lehren gab er mir bei jeder Gelegenheit, aber stets mit allerlei Scherzen und drolligen Beschreibungen vermischt, [21] welche die Ermahnung nie zu langweiligen Predigten werden ließen. Auch suchte er meine Ambition zu wecken und anzuspornen, indem er mir in glühenden Farben das Glück der gelehrten Erziehung beschrieb, die mir werden sollte; und dann ließ er in der Schilderung der Zukunft, die sich mir auftue, seiner Phantasie vollends die Zügel schießen.

Seine Ahnung eines frühen Todes hatte Meister Jurges leider nicht betrogen. Mein guter Freund überlebte jene Zeit nicht lange. Während ich auf dem Gymnasium war, starb er an der Schwindsucht. Ich habe ihm stets ein warmes Andenken bewahrt.

Der Eindruck dessen, was er mir über religiöse Dinge gesagt, wurde durch andere Vorkommnisse verstärkt. Ich kam wirklich zu dem Entschluß, soweit ein Kind einen solchen fassen kann, daß, wenn ich studierte, es nicht „auf Geistlich“ sein sollte. Freilich rechnete bei der katholischen Bevölkerung am Niederrhein eine Familie, die einen „geistlichen Herrn“ zu ihren Mitgliedern zählte, sich das zu großer Ehre. Aber dies galt doch meist nur von dem weiblichen Teil unseres Kreises. Während die Frauen der Kirche frommgläubig anhingen, waren die Männer all mehr oder minder von dem „freisinnigen Zeitgeist“ berührt, und mein Ohm Ferdinand, der Voltairianer, ließ es sogar an kühnen Spöttereien nicht fehlen. Diese wirkten allerdings auf mein kindliches Gemüt keineswegs anziehend. Es schien mir verwegen, von den Dingen, die mir in Kirche und Schule und von der Mutter als hoch und heilig eingeprägt wurden, in leichtfertigen Redensarten zu sprechen. Mein Vater, der zwar, wie schon erzählt, ebenfalls seinen Voltaire und Rousseau gelesen hatte und unter seinen Büchern besaß, verfiel auch niemals in diesen Ton. Ebensowenig gab er sich Mühe, mich ableitenden Einflüssen gegenüber bei der Strenggläubigkeit festzuhalten.

Im Religionsunterricht wie auf der Kanzel hatte ich den Pastor wiederholt sagen hören, die katholische sei die allein seligmachende Religion und alle Andersgläubigen, Protestanten, Juden und Heiden, seien unrettbar dem ewigen Höllenfeuer verfallen. Protestanten gab es nun in unserem Dorfe und der Umgegend keinen einzigen. In der Tat konnten wir Kinder uns einen „Calviner“, wie dort die Protestanten gewöhnlich genannt wurden, kaum vorstellen; und als einmal ein durchreisender Fremder, ein preußischer Beamter, mir als Protestant bezeichnet wurde, betrachtete ich ihn zuerst mit halb furchtsamer, halb mitleidiger Scheu, und war dann sehr erstaunt, in ihm einen sehr würdig und angenehm aussehenden Mann zu finden. Einen Juden hatten wir im Dorf, der das Metzgerhandwek betrieb, und von dem wir und unsere Nachbarn einen großen Teil unseres Fleischbedarfs bezogen. Aber sonst kam man nicht mit ihm in Berührung. Dagegen sah ich einen anderen Juden namens Aaron, der in einem benachbarten Dorf wohnte, nicht selten in unserm Hause, und ich bemerkte, daß mein Vater sich bei jedem seiner Besuche in freundschaftlicher Weise mit ihm über allerlei Dinge unterhielt. Das wunderte mich. Aber mein Vater sagte mir, der alte Aaron, dessen Gesicht mir in der Tat immer besonders ernst und würdevoll vorgekommen war, sei nicht allein ein guter und rechtschaffener, sondern auch ein sehr kluger und aufgeklärter, ja, ein weiser Mann – rechtlicher, tugendhafter und weiser als mancher Christ. – Die Frage, [22] ob nun auch ein so guter Mann wie Aaron durchaus zum ewigen Höllenfeuer verdammt sein werde, gab mir viel zu denken. Ich konnte mir das mit der Allgerechtigkeit Gottes nicht zusammenreimen. Bald machte mich mein Vater mit Lessings „Nathan der Weise“ bekannt, und die Lehre der Duldsamkeit, welche diese Dichtung so anziehend darstellt, und die mein Vater mir passend erläuterte, gewährte mir große Befriedigung, ohne daß ich mir bewußt gewesen wäre, wie bedenklich sie einen der Grundpfeiler des allein seligmachenden Glaubens erschütterte.

Ein anderes Ereignis brachte weitere Erschütterung. Der Dorfschullehrer, der in meines Vaters Stelle getreten war, nahm sich mit einer Schülerin, einer Verwandten unserer Familie, unerlaubte Freiheiten heraus. Das Mädchen erzählte zu Hause, was vorgefallen war. Die Mutter und Geschwister – der Vater war gestorben – suchten den Lehrer zur Rechenschaft zu ziehen; der Lehrer leugnete, und die ganze Gemeinde spaltete sich in zwei Parteien – auf der einen Seite der Lehrer, unterstützt vom Pastor, dem gräflichen Hause und einem großen Teil der Dorfbevölkerung, auf der andern Seite unsere Familie mit einigen Freunden. Der Streit wurde sehr bitter, wie das bei solchen Dorfkriegen oft der Fall ist, und führte zu heftigen Zänkereien – einmal gar zu einem förmlichen Auflauf mit hartnäckigem und keineswegs unblutigem Prügelgefecht, dem der einzige Polizist nicht steuern konnte. „Es ist Revolution im Dorf“, sagten die Leute. Das war das erstemal, daß ich dies Wort „Revolution“ hörte. Auf der Gegenseite zeichnete sich besonders der Pastor durch das Herumtragen ehrenrühriger Verleumdungen gegen Mitglieder unserer Familie aus. Dies ging so weit, daß selbst meine Mutter, die sanfteste aller Frauen, in große Aufregung geriet, und eines Tages hörte ich sie, die Frömmigkeit und Wahrheitsliebe selbst, den Pastor persönlich zur Rede stellen und ihm ins Gesicht sagen, er sei ein böser Mensch – worauf der geistliche Herr beschämt davon schlich. In meiner Vorstellung war der Priester als Diener, Vertreter und Wortführer Gottes ein heiliger Mann gewesen. Und nun aus dem Munde meiner Mutter, die nur die Wahrheit sagen konnte, zu hören, daß der Pastor gelogen habe und ein böser Mensch sei – das war eine gefährliche Offenbarung. Es beunruhigte mich sehr, den Predigten des Pastors keinen unbedingten Glauben mehr schenken zu können, und wenn ich, was zuweilen geschah, bei der Messe als Chorknabe diente und denselben Mann in der heiligen Handlung begriffen vor mir sah, so ergriff mich oft ein großes Unbehagen. Sonst gingen jedoch meine religiösen Observanzen fort wie vorher.

Der ärgerliche Parteizwist über den Schullehrer hatte weitere böse Folgen, die sich anfangs nicht voraussehen ließen. Der Schullehrer, der im Unrecht war, mußte zwar weichen, aber der Zank seinetwegen störte die Beziehungen zwischen meinem Großvater und seinem Pachtherrn, die bis dahin stets sehr freundlich gewesen waren. Das damalige Stammhaupt des gräflichen Hauses Wolf-Metternich war älter als mein Großvater, eine stattliche Gestalt, sechs Fuß hoch und noch ungebeugt von den Jahren, Haupthaar und Backenbart silberweiß. Er war auch ein guter Herr, ein „Edelmann vom alten Schlage“, stolz darauf, alte Diener und alte, wohlhabende und zufriedene Pächter zu haben. Die [23] Pachtzinse waren billig, und gab es einmal schlechte Ernten, so zeigte sich der Graf zu einer Ermäßigung bereit. Waren die Ernten besonders reichlich, so freute er sich über seiner Pächter Wohlstand und schraubte die Pachtzinse nicht hinauf. Der alte Rentmeister, dessen ich mich wohl erinnere, sah zwar grimmig genug aus, führte aber die Geschäfte im Geiste seines Herrn. So waren denn bis dahin die geschäftlichen Angelegenheiten ihren Gang gegangen in beiderseits befriedigender Gemütlichkeit. Überdies war das Verhältnis zwischen dem alten Grafen und meinem Großvater befestigt gewesen durch die gemeinsame Erinnerung an die harten und gefahrvollen Jahre der französischen Zeit, während welcher der Graf unter zuweilen sehr schwierigen Umständen die Sorge für seinen Stammsitz meinem Großvater hatte überlassen müssen.

Freilich mußte der Standesunterschied zwischen dem Grafen und dem Pächter immer im Auge behalten werden. Mein Großvater war ein nach damaligen Begriffen ziemlich wohlhabender Mann, der sich wohl einige Bequemlichkeit hätte gestatten können. Aber ich hörte im Familienkreise nicht selten darüber sprechen, daß, wenn dieses oder jenes geschähe, es im gräflichen Hause wie eine Anmaßung erscheinen und Ärgernis erregen möchte. So durfte der Halfen, um damit zur Stadt, oder zu Besuchen, oder zu den festlichen Gelegenheiten des Landes zu fahren, sich eine zweirädrige Chaise halten, aber keinen vierrädrigen Wagen. So mochten auch die Frau und die Töchter des Halfen hübsche Mützen und Hauben tragen, mit immer so kostbaren Spitzen geziert, aber keine städtischen Damenhüte. Der Graf pflegte, wenn er seine Treibjagden hielt, meinen Großvater und seine Söhne, sowie die Honoratioren des Dorfs, z. B. meinen Vater, dazu einzuladen. Ich erinnere mich deutlich, den stattlichen alten Herrn gesehen zu haben, wie er zu Fuß mit seiner Gesellschaft in den Wald zog – er selbst im grauen Jagdrock, mit einem altmodischen Feuersteingewehr bewaffnet – denn solch neuen Erfindungen, wie Perkussionsschlössern und Zündhütchen, traute er nicht. Seine nicht adligen Gäste behandelte er dann aufs freundlichste. Aber als mein Großvater selbst in der Nähe eine Feldjagd pachtete, um seine eigenen Hasen und Rebhühner zu schießen, so hieß es, man sei doch im gräflichen Hause im Zweifel, ob der Burghalfen damit nicht ein wenig zu weit gegangen sei. Indes blieb es bei dem heimlichen Zweifel bewenden. Im ganzen war die gräfliche Familie dem Burghalfen und den Seinigen stets höchst liebenswürdig gewesen. Die alte Gräfin galt zwar für stolz, aber auch dies verhinderte nicht, daß man ohne besondere Förmlichkeit miteinander verkehrte. Wir Kinder wurden freundlich zum Weihnachtsbaum eingeladen und beschenkt; und wenn es in der Familie meines Großvaters einen Krankheitsfall gab, so zeigte die gräfliche Familie stets die wärmste und werktätigste Sorge, wie für Menschen, denen man mit freundschaftlichem Interesse zugetan ist. Auch machten sich die Söhne des Grafen nicht selten mit den Söhnen des Burghalfen zu tun, und bei festlichen Gelegenheiten tanzten sie lustig mit den Töchtern.

In dieses althergebrachte gute Einvernehmen klang der Streit über den Schullehrer, an welchem die gräfliche Familie – ich weiß nicht mehr warum – einen lebhaften Anteil nahm, wie ein jäher, häßlicher [24] Mißton hinein. Und wie es zu geschehen pflegt, wenn die Übelnehmerei einmal begonnen hat, so fanden sich auch bald andere Veranlassungen zu gegenseitiger Unzufriedenheit. Dann starb der alte Graf und zu derselben Zeit auch der brave alte Rentmeister. Die „Gracht“ ging auf den ältesten Sohn des Grafen, den Majoratsherrn über, und damit begann ein neues Regiment. Der junge Graf war zwar ein Mann gutartigen Charakters, aber die ehrwürdigen Grundsätze in bezug auf alte Pächter und alte Diener saßen ihm nicht in Fleisch und Blut, wie seinem Vater. Die vornehme patriarchalische Einfachheit, die früher im „Hause“ geherrscht hatte, kam ihm ein wenig unzeitgemäß und langweilig vor. Er hatte mehr Vergnügen an seinen englischen Rennpferden und flotten Jockeys, als an den fetten, schweren Braunen, die früher die Familienkarosse gezogen hatten, mit einem grauhaarigen, schläfrigen Kutscher auf dem Bock. Ihn knüpfte auch keine gemeinsame Erinnerung an die schwere „französische Zeit“ mit dem Burghalfen zusammen, und somit wurden die Beziehungen zwischen ihnen mehr zu einem bloßen Interessenverhältnis. Er stellte einen neuen Rentmeister an, einen jungen Mann von durchaus unsentimentalen Lebensanschauungen und brüsken Manieren, und als dieser ihm auseinandersetzte, daß sich aus den Gütern ein bedeutend höherer Ertrag herausschlagen ließe, so war das bei den gesteigerten Bedürfnissen nicht unwillkommen. Unter solchen Umständen verschärften sich die Mißhelligkeiten zwischen dem Grafen und dem Burghalfen leicht. Kurz – der unmittelbaren Veranlassung erinnere ich mich nicht mehr –, die Pachtung wurde gekündigt, und ein oder zwei Jahre später mußte mein Großvater mit den Seinigen die Burg verlassen. Was sein Nachfolger in der Pachtung von dem Haus- und Ackergerät und dem Viehstande nicht übernehmen wollte, das wurde in dem Hofe versteigert. Die Versteigerung dauerte mehrere Tage, und ich erinnere mich, daß ich ihr einmal auf ein paar Stunden beiwohnte und wie häßlich mir die Späße des Auktionators in die Ohren klangen – denn ich fühlte einen tiefen Groll in meinem jungen Herzen, als ob da ein großes Unrecht geschähe. Meine Großeltern bewohnten nun ein Haus im Dorf, aber sie überlebten den Abzug aus der Burg nicht ein Jahr. Die Großmutter starb zuerst und der Großvater zwölf Tage nach ihr. Viele aufrichtige Tränen wurden ihnen nachgeweint.

Mittlerweile war auch mit mir eine Veränderung vorgegangen. Mit dem Eintritt in mein neuntes Jahr hielt mein Vater dafür, daß ich der Dorfschule in Liblar entwachsen sei. Er schickte mich daher zur Elementarschule in Brühl, die mit dem dortigen Lehrerseminar in Verbindung stand und als eine Musterschule galt. Die Schulzimmer befanden sich in einem alten Franziskanerkloster, das auch das Seminar beherbergte, und ich erinnere mich mit Grauen der Qual, die mein empfindliches musikalisches Gehör aushielt, als mein Vater, um mich dem Hauptlehrer Grönings vorzustellen, mich durch einen langen Gang des alten Gebäudes führte und aus jeder Fensternische die Fingerübungen eines Seminaristen auf der Violine hervorklangen, so daß ich wohl ein Dutzend dieser Instrumente zugleich hörte. Der Elementarunterricht, den ich unter der Leitung des Herrn Grönings, eines wohlunterrichteten, methodisch strengen Mannes und ausgezeichneten Lehrers [25] empfing, war vortrefflich, und daneben wurden die lateinischen Stunden beim Kaplan und die musikalischen bei dem guten Herrn Simons fortgesetzt. Nun mußte ich mich auch schon früh daran gewöhnen, unter fremden Menschen zu leben. Im Winter wohnte ich die Woche hindurch in Brühl im bescheidenen Hause einer Metzgerswitwe; nur Samstags nachmittags ging ich nach Liblar, und zwar in Begleitung meines Bruders Heribert, der an diesem Tage morgens nach Brühl kam, um seine Klavierstunden zu nehmen. Dann hatte ich den Sonntag im elterlichen Hause, um Montags früh wieder abzumarschieren. Im Sommer hingegen machte ich den Weg von Liblar nach der Schule in Brühl und zurück jeden Wochentag.

Da traf uns ein schweres Schicksal. An einem trüben Wintermittag, als ich aus der Schule kommend in mein Kosthaus in Brühl eintrat, war ich erstaunt, meinen Vater da zu finden. Ich las Unglück in seinen Augen. Mehrmals versagte ihm die Stimme, indem er mir mitteilte, daß mein Bruder Heribert nach sehr kurzer Krankheit an einer Lungenentzündung gestorben sei. Erst am vergangenen Montag hatte ich ihn in blühender Gesundheit verlassen. Das war ein furchtbarer Schlag. Mein Vater und ich wanderten durch den Wald nach Hause, einander bei den Händen haltend und sprachlos still vor uns hin weinend. Lange konnte ich mich über diesen bitteren Verlust nicht trösten. Noch Monate nach dem Tode meines Bruders, wenn ich mich im Walde allein befand, rief ich laut seinen Namen aus und bat Gott, daß, wenn er ihn mir nicht wiedergeben könnte, er mir wenigstens den Geist des Gestorbenen möge erscheinen lassen.

Dann fühlte ich das Bedürfnis, auf meinem einsamen Wege zwischen Brühl und Liblar meine Gedanken zu beschäftigen, und so gewöhnte ich mir an, im Gehen zu lesen. Mein Vater half mir dabei. Da sein literarisches Urteil sich einigermaßen durch die Überlieferung bestimmen ließ, und er pflichtschuldigst Klopstock zu den großen deutschen Dichtern zählte, die man „gelesen haben müsse“, so glaubte er, Klopstocks Messiade werde für mich unter den Umständen eine passende Lektüre sein, und er gab mir das Exemplar, das er besaß. Die ganze Messiade zu lesen, wird heutzutage für eine kaum zu bestehende Prüfung menschlicher Ausdauer gehalten, und es gibt wohl nur noch wenige Deutsche, die sich in Wahrheit rühmen können, ohne Notwendigkeit das Ungeheure geleistet zu haben. Ich bin einer der Wenigen. Ich las die sämtlichen zwanzig Gesänge zwischen Brühl und Liblar durch, nicht allein mit Standhaftigkeit, sondern einen großen Teil wenigstens auch mit tiefem Interesse. Freilich traf ich unter den pomphaften Hexametern auf manche, die mir sehr geheimnisvoll klangen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich wohl noch zu jung sei, diese großartige Schöpfung ganz zu verstehen. Anderes berührte mich als erhaben schön, und mein naiver Kindersinn war dann wahrhaft erbaut. Bei meinen späteren Literaturstunden habe ich mich nie wieder zu so andächtiger Wertschätzung Klopstocks aufschwingen können. Nachdem ich mit der Messiade fertig war, ließ mein Vater mich sogar einen ansehnlichen Teil von Tiedges „Urania“, einem Werk, auf das er große Stücke hielt, auswendig lernen, und mit einer Reihe von Gedichten Gellerts, Herders, Bürgers, Langbeins, Körners und [26] anderer wurde ich auf ähnliche Weise bekannt. So war ich denn, als die Zeit für meinen Eintritt in die unterste Klasse des Gymnasiums kam, im Punkte der Belesenheit wie in anderen Richtungen anständig vorbereitet.

Die in meinem heimatlichen Dorfe und in Brühl verlebten Jahre meiner Kindheit waren durch Schicksalsschläge verdunkelt worden, von denen ich einige schon erwähnt habe – die Lähmung meines Großvaters, den Abzug von der Burg, den Tod der Großeltern und das frühzeitige Hinscheiden meines Bruders. Ich muß noch ein Vorkommnis hinzufügen, das zwar von geringerer Bedeutung war, aber in einer wahrheitsgetreuen Erzählung nicht verschwiegen werden darf. Mein Vater, der mich sehr liebte und seinen Stolz auf mich gesetzt hatte, hielt streng darauf, daß ich als Schüler meine Pflicht tat. Am Ende jeder Woche mußte ich ihm von jedem meiner Lehrer in Brühl ein schriftliches Zeugnis über mein Verhalten bringen. Diese Zeugnisse waren immer gut. Nur einmal hatte ich mich durch ein gar zu schönes Räuberspiel mit meinen Schulgenossen in Brühl verleiten lassen, die Vorbereitung meiner lateinischen Lektion zu versäumen, und dieses Verbrechen wurde vom Kaplan in meinem Zeugnisbuche ordnungsmäßig vermerkt. Schämte ich mich meines Fehlers, oder fürchtete ich meines Vaters Strenge – kurz, als ich Samstags nach Hause kam, suchte ich meinen Vater glauben zu machen, der Kaplan habe mein Zeugnis zu schreiben vergessen, oder etwas dergleichen. Mein unsicheres Wesen überzeugte meinen Vater sogleich, daß da etwas nicht richtig sei, und ein paar Fragen brachten mich dazu, den wahren Sachverhalt zu gestehen. Da entspann sich denn folgendes Gespräch: „Du hast Deine Pflicht versäumt und Du hast mir die Wahrheit verbergen wollen. Verdienst Du nicht Schläge?“

„Ja, aber ich bitte, laß uns in den Kuhstall gehen, wo uns niemand sehen und hören kann.“

Diese Bitte wurde mir gewährt. In der Einsamkeit des Kuhstalls erhielt ich meine Züchtigung, die jedoch nicht schwer ausfiel, und niemand erfuhr etwas davon. Auch verzieh mir dann mein Vater und behandelte mich wie zuvor. Aber das bittere Bewußtsein der durch eigene Schuld verdienten Demütigung schleppte ich doch noch eine Weile mit mir herum als eine schwere Last und lange wollte ich den Kuhstall, den Schauplatz meiner Schmach, nicht mehr betreten, wenn ich nicht mußte.

Aber bei alledem war meine Kindheit im ganzen doch eine sonnige, glückliche Zeit gewesen, bei der die Erinnerung gerne verweilt, und deren weitere Beschreibung in etwas breiter Ausführlichkeit mir verziehen werden muß. Ich schätze mich glücklich, meine früheste Jugend auf dem Lande verlebt zu haben, wo der Mensch nicht allein der Natur, sondern auch dem Menschen näher steht, als in dem Häuserpferch und dem Gedränge der Stadt. Ebenso schätze ich mich glücklich, in einfachen, bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen zu sein, die den Mangel nicht kannten, aber auch nicht den Überfluß; die keine Art von Luxus zum Bedürfnis werden ließen; die es mir natürlich machten, genügsam zu sein und auch die kleinsten Freuden zu schätzen; die meine Genußfähigkeit vor dem Unglück [27] bewahrten, durch frühe Sättigung abgestumpft zu werden; die ein sympathisches Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Armen und Niedrigen im Volk lebendig und warm erhielten, ohne das Streben nach höheren Zielen zu entmutigen.

Unser Dorf war so klein, daß wenige Schritte uns in das Feld und den Wald führten, und daß man jeden Bewohner wie einen nahen Nachbarn kannte. Obgleich, immer seitdem ich lesen konnte, meine Bücher mir viel zu tun machten, so hatte ich doch meinen vollen Anteil an den Spielen der Bauern- und Handwerkerkinder des Dorfs, deren Gesichter und Namen mir jetzt noch klar gegenwärtig sind. Mein intimster Freund war der jüngste der drei Söhne unseres wohlhabendsten Kaufmanns im Dorfe, Joseph Winterschladen, ein Knabe von hübschem Äußern, liebenswürdiger Gemütsart und guten Fähigkeiten. Wir waren genau gleichen Alters, und da auch er „studieren“ sollte, so fühlten wir, als ob uns auch dasselbe Schicksal bestimmt sei und hingen sehr aneinander. Als ich im Jahre 1889 Liblar besuchte, sahen wir uns zum ersten mal seit unserer frühen Jugendzeit wieder. Er hatte die juristische Laufbahn verfolgt, war Landgerichtsrat geworden, hatte dem Vaterlande in den Kriegen von 1866 gegen Österreich und 1870 gegen Frankreich mit Ehren als Reserveoffizier gedient, zuletzt als Ulanen-Major, und sich als Lohn seiner Tapferkeit das eiserne Kreuz gewonnen. Nach dem Kriege fungierte er als Richter im Elsaß und zog sich dann nach seinem Heimatsdorfe Liblar zurück, wo er als wohlhabender alter Junggeselle ein stattliches und mit einer gewissen Eleganz eingerichtetes Haus bewohnte, genau auf der Stelle, auf der vor vielen Jahren der sonderbare Philosoph Krupps Duhres gehaust hatte. Dort begrüßte mich der liebe Freund meiner Kinderjahre, nun ein bejahrter und beleibter Herr, strahlend von freudiger Herzlichkeit. Rasch wurde für mich und meine Kinder und einige Verwandte, die mich begleiteten, ein Mahl improvisiert, und als dann der gute alte Freund seinen Arm um meinen Nacken legte und in seinem besten Wein auf mein und der Meinigen Wohl trank, da füllten sich seine Augen, und die meinigen nicht weniger.

Aber auch unter den andern Dorfkindern hatte ich gute Kameraden, mit denen ich mich lustig umhertrieb, Vogelnester aufsuchte, Fische und Bachkrebse fing, Räuber- und Soldatenspiele aufführte und all den Schabernack anstellte, an dem Knaben eben Gefallen finden. Mein Vater liebte Tiere und Blumen; so pflegte er in dem Garten am Hause neben Obst und Gemüse einige hübsch angelegte Beete mit seltenen Blumensorten, und in allen Räumen des Hauses hingen Käfige mit Singvögeln der verschiedensten Art, Finken und Meisen, Amseln und Wachteln, für die er uns Kinder zu interessieren suchte. Er bildete mich auch im Vogelfang aus, besonders im Schlingenstellen für den Fang der schmackhaften Krammetsvögel, die im Herbst ihrem Strich durch die Gegend nahmen. Diese Schlingen wurden zu Hunderten im Walde die einsamen Jagdwege entlang gestellt, und so ging ich denn während der Herbstferien wochenlang jeden Tag des Morgens kurz vor Sonnenaufgang und wieder in der Abenddämmerung in die Tiefe des Waldes, um die Vögel, die sich mittlerweile in den Schlingen gefangen, einzusammeln und die Schlingen in Ordnung zu stellen. Auf jenen [28] einsamen Gängen, auf denen das Reh, der Fuchs und der Hase an mir vorüberhuschten, lernte ich dann den Wald lieben und fühlte den ganzen Zauber der Waldeinsamkeit mit der geheimnisvollen Stille unter dem Laubdach und dem wunderbaren Flüstern des Windes in den hohen Wipfeln. Bald war es mir weniger um den Vogelfang zu tun, als um den Genuß des Verweilens im tiefen Walde, und selbst auf meinem Wege nach und von der Schule in Brühl vermied ich zuletzt die breite Straße und ging rechts oder links davon durchs Holz, wo immer ich einen Pfad finden konnte. Diese Liebe für den Wald hat mich niemals verlassen und oft im spätern Leben bei dem Anblick einer schönen Landschaft oder des Meeres habe ich mir die Frage gestellt, ob nicht das, was ich im Walde gesehen, doch schöner war, als dies alles.

Der Sommer war für uns die Zeit der Feste. Schon im Mai fand die „Kirmeß“ in Lind bei Ohm Peter statt, und im Spätherbst die Kirmeß in Herrig bei Ohm Rey; und dazwischen lagen noch mehrere Kirmessen auf andern „Höfen“ bei Vettern und Basen. Dann zog die ganze Familie aus bis zu den jüngsten Kindern hinunter. Da bei solchen Gelegenheiten die zweirädrige Chaise nicht ausreichte, so wurde denn der „Kirmeßkarren“ herausgebracht, ein gewöhnlicher Karren, über den man zum Schutz gegen Sonne und Regen auf großen Reifen ein Leintuch spannte. Als Sitze dienten einige querüber befestigte Bretter, oder auch nur Strohbündel und die Zahl der Menschen, die der Kirmeßkarren fassen konnte, schien ohne Grenzen zu sein. Das Pferd oder, wenn die Wege schlecht waren, die Pferde, prangten im besten und blanksten Messingzeug, und das Fuhrwerk wurde mit grünen Zweigen geschmückt. Schon die Fahrt war uns Kindern ein Fest. Dann fanden wir bei der Kirmeß einen Schwarm von verwandten Knaben und Mädchen, die, wie wir, während der festlichen Tage volle Freiheit genossen. Bei dem Mittagsmahl, an welchem die älteren Gäste gewöhnlich vier bis sechs Stunden saßen, hielten wir es nicht lange aus. Nur wenn zur Unterhaltung der Schmausenden sich ein Taschenspieler produzierte, wie zum Beispiel Janchen von Amsterdam, der auf den Höfen jener Gegend eines großen Rufes als Tausendkünstler genoß, ließen wir uns auch wohl länger fesseln. Dann ging’s zu den Krambuden auf den Straßen des Dorfs, die mit ihren Honigkuchen, wohlfeilen Spielzeugen und Drehbrettern bei der Kirmeß niemals fehlten, und abends „an die Musik“, wie man dort das zum Tanz gehen nannte. Vom Tanzen zogen sich die älteren Gäste und die Kinder gewöhnlich zurück – die älteren, um ihr Kartenspiel zu beginnen, das häufig bis zum Sonnenaufgang des nächsten Tages dauerte – und die Kinder, um sich zur Ruhe zu begeben. Aber diese Ruhe war wieder ein Fest besonderer Art. Da das Haus bei solchen Gelegenheiten immer mehr Gäste hatte, als es in seinen Betten unterbringen konnte, so wurde den sämtlichen Knaben ein Zimmer angewiesen – der ganze Fußboden mit Stroh und das Stroh mit Leintüchern, Wolldecken und Kissen bedeckt. Wenn eine solche Schlafstelle einem Dutzend Knaben als Schauplatz ihres Wirkens angewiesen wurde, so begann natürlich für sie der Hauptspaß des Tages, der denn auch unter dem heitersten Lärmen fortgesetzt wurde, bis einer nach dem andern vor Müdigkeit umsank und einschlief. [29]

Der größte Tag des ganzen Jahres aber war uns Kindern in Liblar der Pfingstmontag, an dem das jährliche Vogelschießen stattfand. Wie großartig erschien mir damals jenes Fest, das in Wahrheit kaum bescheidener hätte sein können. Aber diese Aufregungen! Am Nachmittage des Samstags vor Pfingsten sah man fünf oder sechs Männer durchs Dorf schreiten, die auf ihren Schultern eine starke, gegen vierzig Fuß lange Stange trugen, an deren eisenbeschlagener Spitze der hölzerne zum Abschießen bestimmte Vogel befestigt war. Die Dorfjugend schloß sich sogleich dem Zuge an, der sich langsam nach einem Platz vor dem Dorf bewegte, auf dem einige Ulmen und Linden standen. Auf einen dieser Bäume wurde dann, nachdem wir Knaben den Vogel mit blühendem Ginster geschmückt hatten, die Stange hinaufgehißt und zwischen den Ästen hoch darüber hinausragend mit Seilen befestigt. – Zu einer regelrechten in einem Balkengestell stehenden Vogelstange hatte nämlich die Gemeinde Liblar es damals noch nicht gebracht. – Da dies alles mit Händen getan wurde, so war es eine schwere und nicht ganz ungefährliche Arbeit, der wir Kinder mit ängstlicher Spannung folgten. Mir wäre es bei einer solchen Gelegenheit einmal beinahe ans Leben gegangen. Die Stange entschlüpfte beim Festbinden dem Seil, das sie halten sollte, und schlug einen der Männer von dem Ast, auf dem er saß. Ich stand gerade unter dem Baum, hörte plötzlich über mir ein starkes Krachen und einen Schrei „Jesus Maria“, sprang zur Seite und sah den Körper des Mannes genau auf die Stelle fallen, auf der ich gestanden hatte. Er würde mich vielleicht erdrückt oder doch schwer verletzt haben, wäre ich nicht davongesprungen. Der Arme brach sein Rückgrat und starb kurz nachdem man ihn ins Dorf getragen. Gewöhnlich ging jedoch das „Vogelaufsetzen“ ohne Unfall ab, und wir Kinder zogen dann mit Sträußen von blühendem Ginster in den Händen fröhlich nach Hause mit dem Bewußtsein, bei einem wichtigen Werk mitgeholfen zu haben, und im Vorgefühl des Größeren, das noch kommen sollte.

Wie langsam verging der Pfingstsonntag den Erwartungsvollen! Aber am Montag begann die Lust um so früher. Schon mit Tagesanbruch ging der Tambour, ein kleiner, etwas säbelbeiniger Mann, der mir damals schon recht alt vorkam – sein Name war Heinrich Hahn, gewöhnlich „Hahnen Drickes“ genannt –, durch das Dorf, die Reveille schlagend. Geschlafen wurde dann nicht mehr, aber erst am Nachmittag kam der Vorstand der Sankt Sebastianus Brüderschaft – so hieß die Schützengesellschaft, der fast alle erwachsenen Einwohner des Dorfes, männliche und weibliche angehörten – nach unserem Hause, wo damals die Fahne und die andern Kostbarkeiten der Gesellschaft aufbewahrt wurden, um diese von dort nach dem Hause des Schützenkönigs vom vorigen Jahre zu bringen. Endlich setzte sich der Zug in Bewegung; voran Hahnen Drickes, der Trommler, mit einem Blumenstrauße und bunten Bändern geschmückt; dann mit der Fahne, die das in grellen Farben gemalte Bild des mit unglaublich vielen Pfeilen durchschossenen heiligen Sebastianus trug, Meister Schäfer, ein Schneider, ein weißhaariger, spindeldürrer Mann, der „junge Fänt“ (Fähnrich) genannt, weil sein Vater auch schon die Fahne geschwungen hatte; dann zwei „Hauptmänner“, die [30] altertümliche Spieße trugen, auch mit Sträußen und Bändern geschmückt; dann zwischen zwei Vorstehern der Gesellschaft der vorjährige Schützenkönig mit einer aus künstlichen Blumen und Flittergold gemachten Krone auf dem Hut und einer schweren silbernen Kette um den Hals. An dieser Kette war eine Menge fast handgroßer silberner Schilder befestigt, die Namen der Schützenkönige wohl eines Jahrhunderts tragend, und von diesen der Brüderschaft geschenkt. Die Zahl dieser Schilder war so groß, daß sie Schultern, Rücken und Brust des Mannes bedeckten und ihm ein sehr stattliches Aussehen gaben. Dem König folgten nun die Schützen mit ihren Büchsen, dann der Rest der Bevölkerung, alt und jung, zu beiden Seiten oder hinterher. Sobald der Zug auf dem Schießplatz angekommen, marschierte er dreimal um den Baum, der die Vogelstange trug; dann machte er halt, man kniete nieder und betete ein Vaterunser. Darauf schlug der Trommler einen Wirbel, der alte Schützenkönig hing Krone und Schilderkette an einem Baumstamm auf, die weiblichen Mitglieder der Gesellschaft und die Alten, die nicht selbst schießen konnten, wählten sich gegenwärtige Schützen als Vertreter, und das Schießen begann. Hahnen Drickes beobachtete jeden Schuß mit pflichtgetreuer Aufmerksamkeit, denn nach jedem Treffer hatte er einen Wirbel zu schlagen. Wenn dieser Wirbel recht kräftig war, so belohnte der glückliche Schütze den Trommler wohl mit einem Glase Wein, und es muß zugestanden werden, daß gewöhnlich von der Menge dieser Gläser das Gesicht des braven Drickes immer röter und sein Trommelschlag immer wilder wurde. Die Menge, die sich mittlerweile den Krambuden und Schanktischen zugewendet hatte, drängte sich wieder um die Schützen zusammen, wie der hölzerne Vogel anfing zu splittern. Von Minute zu Minute stieg die Aufregung, alte Fernröhre wurden hervorgeholt, um die schwachen Stellen da oben zu entdecken, und die Spannung wurde atemlos, wenn, wie es zuweilen geschah, nur noch ein kleiner Holzfetzen an der eisernen Spitze der Vogelstange hing und der nächste wohlgezielte Schuß das Schicksal des Tages entscheiden mußte. Fiel endlich das letzte Stück, dann schlug Hahnen Drickes den furchtbarsten aller Trommelwirbel, die Menge umdrängte mit lärmenden Hochrufen den Sieger, die Vorsteher befestigten dem neuen Schützenkönig die Krone auf dem Hut und hingen ihm die Schilderkette um die Schultern, und nun war auch für den Schneider Schäfer, den „jungen Fänt“ der Augenblick gekommen, zu zeigen, was der Fähnrich von Liblar zu tun vermochte. Er schwang die Fahne um sich her, daß die Umstehenden erschreckt zurückwichen, schwang sie über seinen Kopf, schwang sie wie ein Rad um seinen Leib, schwang sie um seine Beine, schwang sie auf und nieder und hin und her zu der Begleitung von Hahnen Drickes rasender Trommelmusik, bis ihm die Adern am Kopf zu springen drohten. Ich habe ihm mehrmals mit Erstaunen zugeschaut und gedacht, Größeres könne in diesem Fach wohl nie geleistet werden – obgleich ich mich der kopfschüttelnden Bemerkung eines alten Bauern erinnere, der dieses Schauspiel gedankenvoll beobachtete: „Dat es noch nicks jän der ohle Fänt.“ (Das ist noch nichts gegen den alten Fähnrich.) Dann marschierte man wieder dreimal um die Vogelstange – diesmal ohne Gebet – und der Zug [31] setzte sich nach dem Dorfe zurück in Bewegung, Tambour und Fahne voran, Hahnen Drickes mit seinen Säbelbeinen die wunderlichsten Zickzacklinien ziehend und auf seinem Instrument die seltensten Rhythmen hervorzaubernd, während der junge Fänt, nun auch in gehobenster Stimmung, im Gehen seine Kraftstücke wieder und wieder versuchte, und die Schützen den Triumphmarsch durch fortwährendes Büchsenknallen verherrlichten. Und stolz war der Knabe, dem ein Schütze sein Gewehr anvertraute, um dabei mitzuwirken. Dann kam das „Königsessen“ in einem Wirtshaus, bei welchem der neue Schützenkönig den alten und die Vorsteher der Brüderschaft mit Schinken, Weißbrot und Wein bewirtete, und endlich abends ein Tanz, zu dem ursprünglich nur die Trommel aufgespielt hatte, zu meiner Zeit aber schon durch ein Orchester ersetzt, das aus wenig mehr als einer Violine, einer Klarinette und einem Brummbaß bestand.

Mir ist das Fest des Vogelschießens mit all seinen Einzelheiten so lebhaft im Gedächtnis geblieben, weil es mich zum ersten Male die Regung eines wirklichen Ehrgeizes kennen lehrte. Es war das große öffentliche Kampfspiel der Welt, in der ich lebte; und wenn ich den Sieger in dem Kampfe sah mit der glänzenden Schilderkette geschmückt, wie ihn die jubelnde Menge umdrängte und mit Hochrufen ins Dorf zurückführte, so kam es mir vor, als werde es etwas Großes sein, diese Ehre auch einmal für mich zu erringen. Mehr als einmal sollte mir dieses Glück werden in späterer Zeit, als ich es nicht mehr so hoch anschlug.

War so der Sommer an Freuden reich, so war es der Winter nicht weniger. Er brachte nicht allein Eisbahn und Schneeballkämpfe, sondern mir auch den ersten Kunstgenuß. Von allen freudigen Aufregungen meiner Kindheit übertraf keine die, in welche die Ankunft des Puppentheaters in Liblar mich versetzte; die Begierde, mit welcher ich den Ausrufer begleitete, der mit Trommelschlag die Bewohner des Dorfes an die Türen lockte, um dem verehrten Publikum das bevorstehende Schauspiel anzukündigen; die Angst, es möchte mir nicht erlaubt werden, das Theater zu besuchen; die Ungeduld, bis die große Stunde endlich kam. Die Bühne war in einem kleinen Saal aufgeschlagen, wo es sonst zuweilen Tanzvergnügen gab. Die Sitzpreise reichten von vier Pfennigen für Kinder auf dem geringsten Platz bis zu einem Kastenmännchen, 2½ Silbergroschen, für die vordersten Bänke. Einige Talgkerzen bildeten die Beleuchtung. Aber die Mitte des dunklen Vorhanges, der uns die Mysterien der Bühne verbarg, war mit einer Rosette von Ölpapier in verschiedenen Farben geschmückt, die, von hinten mit einer Lampe beleuchtet, hell und bunt erglänzte und mir den Eindruck des Geheimnisvoll-Wunderbaren gab. Ein Schauer der Erwartung überlief mich, als endlich eine Schelle dreimal erklang, tiefe Stille im Saal eintrat, und sich der Vorhang erhob. Die Szene war mit mehr oder minder perspektivischen Kulissen eingerichtet und die Figuren wurden von oben mit Drähten geführt. Das erste Stück, das ich sah, war „die schöne Genovefa“. Es war ein herrliches Stück. Die schöne Genovefa ist die Gemahlin des Landgrafen Siegfried. Der Graf will ins heilige Land ziehen, um das [32] Grab Christi den Ungläubigen abzunehmen. Er übergibt die Sorge für die Burg und die Gräfin seinem Burgvogt Golo, dem er volles Vertrauen schenkt. Kaum ist der Graf davongeritten, als der böse Golo den Gedanken faßt, sich selbst zum Landgrafen zu machen und die schöne Genovefa zu heiraten. Die schöne Genovefa stößt ihn mit Abscheu zurück. Da läßt der böse Golo sie in ein tiefes Burgverließ werfen und befiehlt einem Knechte, sie zu töten. Der Knecht verspricht es, erbarmt sich aber der schönen Genovefa und führt sie aus ihrem Kerker in einen großen einsamen Wald, während er dem bösen Golo sagt, daß der Mord vollbracht sei. Die schöne Genovefa nährt sich im Walde von Kräutern und Beeren und findet Obdach in einer Felsenhöhle. Da gebiert sie ein Knäblein, den Sohn des Landgrafen Siegfried. Dem Kinde gibt sie den Namen Schmerzenreich. Als sie nun die Gefahr, mit dem Kinde verhungern zu müssen, vor sich sieht und der Verzweiflung nahe ist, da betet sie inbrünstig zu Gott um Rettung, und siehe, es kommt eine Hirschkuh mit vollem Euter und bietet hinreichende Nahrung für Mutter und Kind. Täglich erscheint die treue Hirschkuh wieder, und Schmerzenreich wächst allmählich auf zu einem kräftigen Knaben. Plötzlich kommt der Landgraf Siegfried vom heiligen Lande zurück, zum großen Schrecken des bösen Golo, der gehofft hatte, sein Herr werde in der Ferne den Tod finden. Da die andern Burgleute ihn sofort wiedererkennen, so übergibt Golo ihm das Schloß und erzählt ihm eine abscheuliche Lügengeschichte über Genovefa, die verdientermaßen gestorben sei. Der Graf ist tief betrübt. Er zieht zur Jagd in den Wald hinaus und stößt auf eine Hirschkuh, die er verfolgt, und die ihn immer tiefer in die Einsamkeit lockt bis zur der Felsenhöhle, in welcher die schöne Genovefa mit Schmerzenreich wohnt. Die Gatten erkennen sich wieder, die Wahrheit kommt an den Tag, die schöne Genovefa und[2] Schmerzenreich werden im Triumph in die Burg zurückgebracht und der schändliche Golo wird verdammt, in demselben Kerker, in den er einst Genovefa geworfen, des bittern Hungertodes zu sterben.

Das Puppentheater führte noch zwei andere Stücke vor, eins vom Prinzen Eugen – ein Heldenstück, in welchem große Schlachten geschlagen und die papiernen Türken reihenweise niedergeschossen wurden – und ein Feen- und Zauberstück mit allerlei erstaunlichen Verwandlungen. Diese Dinge waren recht hübsch, aber mit der Genovefa ließen sie sich nicht vergleichen. Der Eindruck, den die Genovefa auf mich machte, war überwältigend. Ich vergoß heiße Tränen bei dem Abschied des Grafen Siegfried von seiner Gemahlin, und noch mehr bei ihrem Wiedersehen; ich konnte kaum einen Jubelschrei unterdrücken als die Gatten wieder in ihre Burg einzogen und den schändlichen Golo seine wohlverdiente Strafe erreichte. Ich glaube nicht, daß jemals in meinem Leben bei der Betrachtung eines Schauspieles meine Phantasie tätiger, die Illusion vollständiger und die Wirkung auf Geist und Gemüt unmittelbarer und mächtiger gewesen ist. Diese Puppe mit dem Federhut war mir der leibhaftige Graf Siegfried, diese mit dem roten Gesicht und dem schwarzen Bart der böse Golo, diese im weißen Kleide mit den gelben Haaren die schöne Genovefa und jenes kleine rötliche [33] Ding mit den zappelnden Beinen die wahrhafte Hirschkuh. Dies blieb so, als ich im folgenden Winter die schöne Genovefa wieder sah. Ich wußte nun, wie die Sache auslaufen würde, und als ich den Grafen Siegfried von seiner Gemahlin Abschied nehmen sah, um ins heilige Land zu ziehen, konnte ich mich kaum enthalten, ihm zuzurufen, er möge doch ja nicht fortgehen, da sonst etwas ganz Entsetzliches passieren werde. Wie glücklich ist doch jener naive Zustand, in dem man so voll genießt, da sich die Einbildung so rückhaltlos der Illusion hingibt, ohne im geringsten durch eine kritische Neigung gestört zu werden.

Gerade diese meine Genußfähigkeit empfing schon früh einen bösen Stoß. Als ich, etwa neun Jahre alt, in Brühl zur Schule ging, hielt sich dort eine wandernde Truppe auf, die leichtere Schauspiele und Komödien aufführte. Ihr Hauptstück war Körners „Hedwig, die Banditenbraut“. Mein Oheim Ferdinand, der einmal in Brühl über Nacht bleiben mußte, führte mich hin. Es war das erstemal, daß ich wirkliche lebende Menschen auf der Bühne sah. Die Hauptrolle, die des Bösewichts Rudolph, wurde mit all den zähnefletschenden Fratzen gespielt, deren man sich auf einem solchen Landtheater versehen konnte; da ich das jedoch damals noch für bare Münze nahm, so blieb ein starker Eindruck nicht aus. Aber unwillkürlich fühlte ich mich zum Nachdenken angeregt über das, was vor meinen Augen vorging, und ich konnte nicht zu einer so befriedigenden Illusion kommen, wie früher im Puppentheater mit seiner schönen Genovefa. Diese zur Kritik neigende Stimmung empfing einen furchtbaren Anstoß, als ich die Banditenbraut, jetzt in Gesellschaft meines Vaters, zum zweiten Male sah. Im letzten Akt soll, dem Text nach, Hedwig den über eine Falltür gebückten Bösewicht Rudolph mit einem Flintenkolben niederschmettern. Auf der Bühne in Brühl war dies jedoch so geändert worden, daß Hedwig den Bösewicht nicht mit der Flinte erschlagen, sondern erschießen sollte. Als nun in der Vorstellung die Schauspielerin in der Rolle der Hedwig die Flinte abdrückt, versagt das Schloß mit einem leisen Klick. Rudolph bleibt über die Falltür gebückt stehen in der Hoffnung, möglichst bald getötet zu werden. Die Hedwig spannt den Hahn noch einmal und drückt ab, aber wieder umsonst. Die arme Schauspielerin steht ratlos da. Im Zuschauerraum die tiefste Stille der Erwartung. Nun kommt hinter den Kulissen ein Ruf hervor in dem lauten Flüsterton, der ein ganzes Haus füllt, und in unverkennbar reinstem Brühler Dialekt: „Hau en met dä Kollef op dä Kop! Hau en!“ (Hau ihn mit dem Kolben auf den Kopf! Hau ihn!) worauf Hedwig die Flinte gemächlich umdreht und Rudolph, der geduldig mehrere Minuten lang auf einen jähen Tod gewartet hatte, mit dem Kolben auf den Kopf schlägt. Rudolph stürzt hin, das Publikum bricht in ein wieherndes Gelächter aus und der erschlagenen Bösewicht, wie er auf der Bühne liegt, kann sich nicht enthalten, daran teilzunehmen.

Im Zuschauerraum wollte das Lachen nicht aufhören. Ich hätte lieber weinen mögen. Auf mich hatte dieser Vorfall eine wahrhaft verblüffende Wirkung. Mit der reinen Hingabe an die Illusion und so auch mit der reinen Lust an dramatischen Darstellungen war es nun [34] zu Ende, wenigstens bis mir künstlerische Leistungen einer höheren Art entgegentraten; und diese kamen glücklicherweise bald während meiner Schulzeit auf dem Gymnasium in Köln.




Drittes Kapitel.

Auf dem Gymnasium in Köln.

Ich war zehn Jahre alt, als mein Vater mich nach Köln ins Gymnasium brachte. Es war das katholische, oder, wie es gewöhnlich genannt wurde, das Jesuitengymnasium, obgleich es mit dem Orden in keinerlei Verbindung stand. Köln hatte damals etwa 90 000 Einwohner und war in meiner Vorstellung eine der großen Städte der Welt. Schon früher hatte ich die Stadt einmal mit meinem Großvater besucht, und ich erinnere mich, wie er bei dieser Gelegenheit mir meine übergroße Höflichkeit verwies, da ich, der Dorfsitte gemäß, vor jeder erwachsenen Person, der wir auf den Straßen begegneten, zum Gruße meine Mütze abziehen wollte; denn, sagte er, es seien so viele Leute in Köln, daß man, wenn man sie alle grüßte, zu nichts anderem Zeit haben würde; zweitens kenne man nicht alle, und manche darunter seien nicht wert, gegrüßt zu werden; und drittens würde man sich durch solche Höflichkeit nur als Landpflanze erweisen und lächerlich machen. Vor diesem Lächerlichmachen hatte ich nun große Scheu, und doch geschah es mir, daß, obgleich ich durch den genossenen sehr gründlichen Elementarunterricht, meine lateinischen Vorstudien und meine unter kleinen Knaben nicht gewöhnliche Belesenheit gut vorbereitet war, mein erstes Erscheinen im Gymnasium mich dem Spott meiner Mitschüler aussetzte. In den Schulen in Liblar und Brühl hatten wir für unsere Rechenexempel sowohl wie für einige andere schriftliche Arbeiten Schiefertafeln benutzt. Nicht ahnend, daß der Gebrauch einer Schiefertafel mit der Würde des Sextaners im Gymnasium durchaus unverträglich sei, brachte ich bei dem Eintritt in die Klasse meine Schiefertafel mit mir. Sofort waren die Blicke all meiner Mitschüler, von denen ich keinen einzigen kannte, auf mich gerichtet, und es brach allgemeines Gelächter aus, als einer auf gut Kölnisch ausrief: „Süch ens doh! Dä het ene Ley! Dä het ene Ley!“ (Sieh einmal da! der hat eine Schiefertafel!) Ich hätte mich gerne sofort mit der Faust an die Höhnenden gemacht, aber da trat der Ordinarius ein, und es erfolgte erfurchtsvolle Stille.

Da meine Eltern über nur geringe Mittel geboten, so wurden meine häuslichen Einrichtungen in Köln auf einen recht bescheidenen Fuß gesetzt. Mein Vater quartierte mich bei einem ihm bekannten Schlossermeister auf der Maximinenstraße ein für eine billige Vergütung. Meister Schetter, so hieß er, galt für einen tüchtigen Handwerker und braven Bürger, und seine Frau, eine fleißige Haushälterin, besorgte mich wie ihr eigenes Kind. Mit dem Sohn des Hauses, der als Schlossergeselle bei seinem Vater arbeitete, schlief ich in demselben [35] Bette. Meine Mahlzeiten mußte ich an demselben Tische nehmen mit den Gesellen, wie das auch der Meister und die Frau Meisterin taten. Bei Tisch hielt der Meister auf strengen Anstand; er selbst führte da das Wort, und höchstens der Altgeselle durfte einmal mitsprechen. Meine Lektionen studierte ich in dem Wohnzimmer der Familie, wo ich jedoch an Werktagen gewöhnlich allein blieb. Gesellige Berührung mit Leuten von Bildung hatte ich außerhalb der Schule nicht; aber die Schule selbst brachte mich unter sehr wünschenswerte Einflüsse.

In unsern Tagen wird die Frage, was in den Gymnasien und ähnlichen Anstalten gelehrt werden sollte, vielfältig diskutiert. Ich werde später darauf zurückkommen. Aber die Frage des Lehrplanes halte ich keineswegs für die einzig wichtige, vielleicht nicht einmal für die wichtigste. Was man in der Schule lernt, ist doch natürlich nur wenig, nur ein geringer Teil dessen, was man für eine fruchtbare Wirksamkeit im Leben zu lernen hat. Es kommt daher besonders darauf an, daß das in der Schule Gelehrte, was es auch sein mag, in einer Weise gelehrt werde, die bei dem lernenden Schüler die Lust des Lernens weckt und anregt und ihn in den Stand setzt, die Mittel des selbständigen Weiterlernens, soweit sie ihm erreichbar sind, leicht zu finden und mit Geschick und Erfolg zu benutzen, mit einem Wort, daß der Schüler in der Schule das Lernen lernt. Dies erfordert dann nicht allein richtige, auf diesen Zweck berechnete Lehrmethoden, sondern auch eine besondere individuelle Fähigkeit des Lehrers, die Fähigkeiten des Schülers zu erkennen, in Tätigkeit zu setzen und zu lenken. Gerade in diesem Punkte bin ich während meiner Lehrjahre auf dem Gymnasium in Köln ungemein begünstigt gewesen.

Der Ordinarius der Sexta war zu meiner Zeit ein junger Westphale, Heinrich Bone, dessen ich mit besonderer Dankbarkeit gedenken muß. Er hat sich später auch in weiteren Kreisen als Lehrer einen nicht unbedeutenden Namen gemacht. Er gab uns neben dem lateinischen auch den deutschen Unterricht, und wenn ich in meinem spätern Leben den Grundsatz festgehalten habe, daß Klarheit, Anschaulichkeit und Direktheit des Ausdrucks die Haupterfordernisse eines guten Stiles sind, so habe ich das in großem Maße den Lehren zu verdanken, die ich von Bone empfing. Statt uns fortwährend mit trockenen grammatischen Regeln zu quälen, ließ er uns sogleich kleine deutsche Aufsätze anfertigen, nicht etwa über solche Gegenstände wie die „Schönheit der Freundschaft“, oder den „Nutzen des Eisens“, sondern zuerst kurze Beschreibungen gesehener Dinge, eines Hauses, einer Baumgruppe, eines Stadttores, eines Bildes und dergleichen mehr. Diese Beschreibungen hatten wir anfänglich in den allereinfachsten Satzformen zu halten, ohne irgendwelche Verwicklung oder Verzierung. Der wichtigste Grundsatz aber, den er uns mit besonderem Nachdruck einschärfte, war dieser: Jedes Hauptwort, jedes Eigenschaftswort, jedes Zeitwort mußte eine mit den Sinnen wahrgenommene Sache, Eigenschaft oder Handlung ausdrücken. Alles Verschwommene, Abstrakte, nicht sinnlich Wahrgenommene war fürs erste streng ausgeschlossen. So wurden wir denn gewöhnt, zuerst uns unserer sinnlichen Wahrnehmungen und Eindrücke klar zu versichern, und dann dieselben in klarster, bestimmtester und einfachster [36] Weise zum Ausdruck zu bringen in Worten, die eben das Wahrgenommene darstellten und nichts anderes.

Nachdem diese Übungen in der einfachsten Form uns eine Zeitlang beschäftigt und wir es darin zu einer gewissen Sicherheit gebracht hatten, wurden uns Erweiterungen in der Satzbildung erlaubt, jedoch sollten dieselben nur dazu dienen, um Wahrgenommenes in seiner Gestalt, seinen Eigenschaften oder seiner Tätigkeit klarer und vollständiger vorzuführen. Diese Erweiterungen wurden wir angewiesen, allgemach zu entwickeln, bis wir endlich mehr oder minder verschlungene Satzperioden zu bilden verstanden. Auf die Aufsätze rein beschreibenden Inhalts, deren Gegenstände nach und nach größere Verhältnisse angenommen hatten, folgte dann die erzählende Darstellung einfacher Vorgänge, kleine Geschichten. Stets aber bestand der Lehrer auf Anschaulichkeit als dem vornehmsten Erfordernis; und erst dann ließ er den abstrakten Begriff und die Reflexion zum Ausdruck zu, als vorausgesetzt werden konnte, daß der Schüller von anständiger Begabung das Wesentliche der Beobachtung, Auffassung und Darstellung sinnlicher Erscheinungen gründlich erfaßt hatte. Die Aufsätze wurden von Bone sorgfältig korrigiert und bei der Zurückgabe der Hefte einer belehrenden Einzelkritik unterworfen, die, wenn sie etwas in außergewöhnlicher Weise zu loben fand, dem Schüler zu besonderer Ermutigung gedieh. Bones Methode lehrte uns also nicht allein korrekte Sätze zu bauen, sondern sie übte in uns die Fähigkeit, die merkwürdigerweise bei verhältnismäßig wenigen Menschen gründlich ausgebildet ist, die Fähigkeit, so zu sehen, so wahrzunehmen, daß man sich über das Wahrgenommene vollständige Rechenschaft geben und es zu klar anschaulicher Darstellung bringen kann. Das Studium der Grammatik, das keineswegs vernachlässigt wurde, lief dabei nebenher als das dienende Element.

Der dieser Methode zugrunde liegende Gedanke, daß es der Hauptzweck des Unterrichts ist, den Geist des Schülers zu selbständiger Tätigkeit anzuregen und darin leitend zu fördern – auf alle Lehrgegenstände angewandt –, enthält das Geheimnis der erfolgreichen Schülererziehung. So wird das Lernen gelehrt. Freilich erfordert die Durchführung dieser Methode Lehrer von Fähigkeit und gründlicher Ausbildung, denen auch ihr Beruf etwas mehr ist als ein bloßes Routinegeschäft.

Ich rechne es unter die Begünstigungen durch das Schicksal in meinem Leben, daß Professor Bone von Jahr zu Jahr aufsteigend Ordinarius der Sexta, Quinta und Quarta wurde, und daß ich so drei Jahre hindurch unter der Leitung dieses ausgezeichneten Lehrers stand. Der in der Klasse genossene Unterricht wurde durch häufige Gespräche mit ihm vervollständigt, da ich das Glück hatte, ihm persönlich näher zu kommen. Meine ersten kleinen Aufsätze zogen seine Aufmerksamkeit auf sich und gewannen seinen Beifall. Ich erinnere mich noch lebhaft meiner stolzen Genugtuung, als ich einmal eine meiner Arbeiten der Klasse als ein Muster vorlas. Er hob besonders einen Satz heraus, in dem eine Sommerabendszene im Dorfe beschrieben war, wie die Knaben die Kühe von der Weide herein trieben, während die [37] Frauen und Mädchen an dem durch das Dorf fließenden Bächlein saßen, ihr Blech- und Zinngeschirr blank scheuernd; und der Professor setzte hinzu: „Das ist nun ein klassischer Satz.“ Er faßte eine warme Zuneigung zu mir und lud mich ein, ihn auf seinem Zimmer zu besuchen. Damals war er mit der Zusammenstellung eines deutschen Lesebuches für den Gymnasialunterricht beschäftigt, für das er selbst eine Reihe kleiner Beschreibungen und Geschichten als Muster seiner Methode schrieb. Mehrere davon las er mir vor und forderte mich, wahrscheinlich um sich des Eindrucks auf den Geist des Schülers zu vergewissern, zur Kritik auf, die ich dann mit Freimut, wenn auch nicht ohne Schüchternheit, ausübte. Er erwies mir sogar die Ehre, zwei oder drei meiner eigenen kleinen Schulaufsätze, in denen er seine Lehre am treuesten befolgt fand, ohne wesentliche Änderung seinem Buche einzufügen. Einen davon, den ich in der Sexta geschrieben, will ich hier mitteilen, wie ich ihn in der dreiundfünfzigsten Auflage des Lesebuches, die ich mir aus Deutschland habe kommen lassen, vor mir sehe. Es ist eine Jagdszene:

„Berge und Felder waren mit glänzendem Schnee bedeckt; der Himmel trug das rosige Kleid der Morgenröte. Da sah ich drei Jäger, welche unter einer hohen Eiche standen. Die größeren Äste des Baumes trugen eine schwere Last Schnee, die kleineren waren mit Reif behangen. Die Kleider der Jäger hatten eine hellgrüne Farbe und waren mit blanken Knöpfen besetzt. Zu ihren Füßen lag ein großer Hirsch, dessen rotes Blut den weißen Schnee färbte. Drei dunkelbraune Hunde saßen um den toten Körper und ließen die roten Zungen lechzend hervorhängen.“

Dies illustriert Bones Methode, sowie meine Auffassung derselben. In dem Lesebuche blättere ich oft, und dann steigt mir das Bild mancher schönen Abendstunde auf, die ich mit meinem verehrten Lehrer in anregendem Gespräch verbrachte. Nicht wenige dieser Stunden benutzte er dazu, meine Lektüre zu leiten und mich besonders mit den Schönheiten der älteren deutschen Dichter bekannt zu machen. Ich selbst versuchte mich früh im Verseschreiben und war in Gefahr, eine gute Meinung von meinen poetischen Inspirationen und meiner Geschicklichkeit im Ausdruck zu gewinnen, als ich eines Tages meinem Lehrer eins meiner Erzeugnisse vorlas, ohne mich als Verfasser zu bekennen, und er sagte: „Das Gedicht klingt ja, als ob es von Claudius wäre, aber ich kenne es nicht.“

Auch trieb mich Bone an, Geschichtliches zu lesen. Ich besaß Beckers vielbändige Weltgeschichte. Diese las ich ganz durch und begann darauf, das wieder zu lesen, was mich besonders interessiert hatte. So wurde ich durch die in dem Beckerschen Werke gegebenen Auszüge zuerst mit dem Homer bekannt. Diese Auszüge, in gefälliger Prosa geschrieben, stachelten meine Begier, davon mehr zu sehen, so sehr an, daß ich mir die Übersetzung der Iliade und der Odyssee von Voß verschaffte. Nie hatte mich bis dahin, und ich glaube, nie hat mich seither eine Dichtung so gewaltig gepackt, wie der Abschied Hektors von Andromache am skäischen Tor, da der Held den kleinen Astyanax auf seinen Arm nimmt und die Götter anruft; – wie das Niedersinken des [38] alten Königs Priamus im Zelte des Achilles, als er den grausamen Sieger um die Leiche seines herrlichen Sohnes anfleht; – wie die Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa und der Abschied des göttlichen Dulders vom Hause des Königs der Phäaken, als Nausikaa traurig und verschämt, hinter einer Säule verborgen, dem scheidenden Fremdling nachblickt; – wie der furchtbare Kampf mit den Freiern und das Wiedersehen des Odysseus und der treuen Penelope; – wie die Szene, als der zurückgekehrte Held sich im Garten des stillen Landhauses dem alten, gramgebeugten Vater Laertes zu erkennen gibt. Den Grund, warum diese Szenen mich soviel tiefer bewegten, als die Beschreibungen der Kämpfe in der Iliade und die fabelhaften Abenteuer in der Odyssee, obgleich diese auch mich mächtig fesselten, habe ich erst später einsehen lernen: sie berühren das rein menschliche Gefühl, welches weder von Zeit noch von Ort abhängt – welches weder antik, noch modern, sondern universal und ewig ist.

Nachdem ich die Übersetzung des Homer gelesen, sehnte ich mich mit Begier danach, das Studium des Griechischen zu beginnen, und die Leichtigkeit, mit der ich mir später diese Sprache aneignete, war wohl in großem Maße dem Wunsche zu verdanken, das, was ich dem Inhalt nach als so schön empfunden, auch in der ganzen Herrlichkeit seiner ursprünglichen Form kennen zu lernen.

Mit den römischen Königen und den Helden der Republik war ich natürlich auch bald befreundet, und ich habe damals an mir selbst die Erfahrung gemacht, wie sehr ein mit lebhaftem Interesse geführtes Studium der Geschichte eines Landes das Studium der Sprache desselben erleichtert. Und dies gilt von den alten Sprachen ebensosehr wie von den neuen. Wenn der Schüler aufhört, in dem Schriftsteller, den er zu übersetzen hat, nur einen Haufen von Wörtern zu sehen, die betreffs ihrer Übereinstimmung mit grammatischen Regeln geprüft werden müssen; wenn das, was der Autor sagt, so sehr des Schülers Wißbegierde angeregt hat, daß dieser eifrig den wahren Sinn und Zusammenhang jedes Wortes erforscht und mit Lust von Zeile zu Zeile und von Seite zu Seite vorwärts eilt, um mehr zu erfahren, dann wird die Grammatik, die ihm ja nur in seinem Streben Hilfe bietet, aufhören, für ihn ein trockenes und abstoßendes Studium zu sein, und die Sprache wird ihm wie von selbst zufliegen. Dies wurde mir klar, als ich unter Bones Leitung den Cornelius Nepos und Cäsars gallischen Krieg las, und noch mehr später bei dem Übersetzen der ciceronischen Reden in den höhern Klassen. Die meisten derselben kommen dem Schüler zuerst ziemlich schwer vor. Fängt er aber jedesmal damit an, die Umstände zu studieren, unter denen die Rede gehalten wurde, den Zweck zu erforschen, der durch sie erreicht werden sollte – die Punkte festzustellen, auf die es besonders ankam – sich die Persönlichkeiten zu versinnlichen, die dabei beteiligt waren – so wird er sich unwillkürlich von der Begierde fortgerissen fühlen, genau zu erfahren, mit welchen Darstellungen und Argumenten, welchen Angriffen und Verteidigungen, welchen Anrufungen an die Vernunft oder an das Ehrgefühl, oder an die Leidenschaft der Redner seine Sache geführt hat – und das Lebensvolle der Lektüre läßt bald die sprachlichen Schwierigkeiten verschwinden. [39] Ich erinnere mich, daß ich, so angeregt, in meinen Übersetzungen gewöhnlich über die für die nächste Unterrichtsstunde gestellte Aufgabe weit hinausging; und durch das vielfache Lesen bildete sich ein Gefühl, ich möchte sagen, für den Tonfall der Sprache aus, welches später in der ziemlich guten Latinität meiner lateinischen Aufsätze wieder zum Vorschein kam.

Diese Art zu studieren hatte ich zum großen Teil meinem Lehrer Bone zu verdanken, der aber aufhörte, mein Lehrer zu sein, als ich aus der Quarta in die Tertia aufstieg. Man war auch außerhalb des Gymnasiums auf seine außergewöhnlichen Fähigkeiten aufmerksam geworden, und er empfing einen Ruf, die Leitung einer Erziehungsanstalt zu übernehmen, die eine Gesellschaft von rheinischen Adligen für die Ausbildung ihrer Söhne gegründet hatte. Er verließ das Gymnasium, um diesem Ruf zu folgen. Später füllte er andere Lehrstellungen und geriet in Schwierigkeiten während der Kulturkampfzeit. Ich sah ihn nicht wieder bis zum Jahre 1888. Auf einer Reise in Deutschland hörte ich von einem alten Schulfreunde, daß Bone in hinfälliger Gesundheit sich nach Wiesbaden zurückgezogen habe. Ich beschloß sogleich, ihn aufzusuchen. Ich fand seine Wohnung in einem bescheidenen Hause, das wie eine Art von religiösem Stift aussah. (Bone war nämlich immer ein sehr eifriger Katholik gewesen.) Von allen Wänden blickten Heiligenbilder auf mich herab. Ein ältliches, nonnenhaft aussehendes Frauenzimmer führte mich in ein kleines, ebenfalls mit Heiligenbildern und Kruzifixen geschmücktes Wohngemach und trug meine Karte in ein anstoßendes Zimmer. Von dort hörte ich etwas wie einen Freudenschrei, und im nächsten Augenblick kam durch die Tür eilig hereingeschlurft mein guter alter Lehrer, den ich zum letztenmal als blühenden Dreißiger gesehen – jetzt ein kleines, zusammengeschrumpftes, gebrechliches Männchen in einem langen grauwollenen Schlafrock, mit riesigen Filzpantoffeln an den Füßen und einem schwarzseidenen Käppchen auf dem spärlichen weißen Haar. Wir umarmten und küßten einander, und er schien außer sich vor Vergnügen. „Sehn Sie, das freut mich nun“, rief er! „Ich hörte im Frühjahr schon, daß Sie in Deutschland waren. Dann habe ich von Ihren Zusammenkünften mit Bismarck und dem Kaiser gelesen. Aber ich wußte, Sie würden auch zu mir kommen. Ich habe Ihre Stimme erkannt – ja, ja, ich erkannte Ihre Stimme, als ich Sie draußen nach mir fragen hörte.“ Nun setzten wir uns, und es ging an ein Fragen und Erzählen. Er klagte über seinen Rheumatismus, der ihm das Ausgehen fast unmöglich und jede Beschäftigung sauer mache. Aber seine Augen glänzten vor Vergnügen, als ich ihm sagte, wie ich meinen Kindern die Methode erklärt, nach der er mich gelehrt habe, deutsch zu schreiben, und daß ich mir zur Erläuterung erst vor kurzem die letzte Auflage seines Lesebuches aus Deutschland habe nach Amerika kommen lassen. Dann erinnerte er mich an unsere Abende in Köln, und wie er mich als Knaben lieb gehabt, usw. usw. So vergingen ein paar wahrhaft glückliche Stunden. Als ich endlich aufstand, rief er: „Gehen wollen Sie? Wir haben ja unser gegenseitiges Wohl noch nicht getrunken. – O Himmel, nun habe ich keinen Wein hier. O, o – aber einen vorzüglichen Magenbittern hab [40] ich. Wollen wir in Magenbittern anstoßen?“ Ich war’s zufrieden. Er holte eine schwarze Flasche aus einem Wandschränkchen, füllte zwei kleine Gläser, und wir stießen in Magenbittern an, daß es klang. Noch eine Umarmung, und ich schied von ihm – auf Nimmerwiedersehen. Er starb nicht lange nachher.

Kehren wir jetzt zu meinem Jugendtagen zurück. Das stille Leben meiner ersten Jahre in Köln war doch nicht ohne seine Aufregungen. Ich erinnere mich besonders lebhaft zweier Vorfälle, die zurzeit einen tiefen Eindruck auf mich machten. Wenn ich von dem Hause meines Schlossermeisters zur Schule ging, so führte mich mein Weg die Trankgasse hinauf am Dom vorbei. Der Kölner Dom, der jetzt in der ganzen Herrlichkeit seiner Vollendung dasteht, sah damals noch einer großartige Ruine gleich. Nur der Chor war vollständig ausgebaut. Das Mittelstück zwischen dem Chor und den Türmen stand notdürftig überdacht, zum großen Teil noch in äußern Backsteinmauern, und von den beiden Türmen selbst erhob sich der eine wohl wenig mehr als sechzig Fuß über dem Boden, während der andere, der den jahrhundertealten weltberühmten Kran trug, vielleicht die drei- oder vierfache Höhe erreicht hatte. An beiden hatte der Zahn der Zeit das kunstvolle Meißelwerk vielfach verstümmelnd zernagt, und so blickten sie, unfertig und doch schon verwittert, greisenhaft und traurig herab auf das lebende Geschlecht. Als ich nun eines Morgens meinen gewöhnlichen Weg zur Schule ging, sah ich von der Höhe des Kranturms einen Gegenstand herunterfallen, den ich zuerst für einen Rock oder Mantel hielt, und von dem sich etwas, das wie eine Kappe aussah, im Fallen absonderte und vom Winde getragen wurde. Aber der vermeintliche Rock schoß stracks herunter und schlug mit dem Geräusche eines schweren Stoßes auf das Steinpflaster der Straße. Sofort liefen die Vorübergehenden zusammen, und es fand sich, daß in dem Rock ein Mann steckte, der unzweifelhaft, von dem hohen Turme springend, den Tod gesucht hatte. Er war, wie es schien, auf die Füße gefallen und lag, wie ein kleines Häufchen zusammengedrückt – die Knochen der Beine anscheinend in den Leib getrieben, der Kopf beinahe unverletzt, ein Kranz grauer Haare um einen kahlen Scheitel, die Augen geschlossen, das Gesicht das eines ältlichen Mannes, blaß und verzerrt. Der Gegenstand, der sich im Fallen von dem abstürzenden Menschen entfernt hatte, war eine Perücke, die, nachdem der Wind ein paar Sekunden mit ihr gespielt, sich dann in der Nähe ihres toten Eigentümers niederließ.

Dieses schreckliche Schauspiel setzte meine Einbildungskraft in eine unheimliche Bewegung. Ich gab mir große Mühe, zu erfahren, wer der unglückliche Mann gewesen sei, und was ihn wohl zu dem verzweifelten Entschluß getrieben haben mochte, seinen Tod durch den Sprung von dem Turm eines Gotteshauses zu suchen; aber ich begegnete nur unbestimmten, sich widersprechenden Gerüchten. Nun führte meine Phantasie mir alle möglichen Schicksale, Lebenslagen und Stimmungen vor, die den Menschen in den Selbstmord jagen könnten – hoffnungslose Not, verlorene Ehre, getäuschte Liebe, Gewissensqual ob eines geheimen Verbrechens – und bald entsprangen in meinem Kopfe allerlei Pläne von Romanen und Trauerspielen, die sämtlich mit jenem selbstmörderischen Sprung vom Domkran endeten. [41]

Eine andere tragische Szene, der ich beiwohnte, wirkte auf ähnliche Weise. Ein junger Mensch in Köln, namens Broichhausen, hatte seine Geliebte erstochen, ich weiß nicht mehr, ob aus Eifersucht oder nur, weil er ihre Gunst verloren. Er wurde zum Tode verurteilt, und da das linke Rheinufer von der französischen Zeit her noch unter dem Code Napoleon stand, so sollte das Todesurteil durch das französische Hinrichtungsinstrument, die Guillotine, vollzogen werden, und zwar früh morgens bei Sonnenaufgang auf einem zwischen dem Dom und dem Rhein gelegenen öffentlichen Platz der Stadt, vor den Augen all derer, die sich dort versammeln mochten. Der Prozeß hatte schon die ganze Bevölkerung in große Aufregung versetzt, und nun sah man der blutigen Katastrophe mit gesteigerter Spannung entgegen. Mein Schlossermeister war der entschiedenen Meinung, daß er und ich uns das seltene Schauspiel nicht dürften entgehen lassen. Lange vor Sonnenaufgang an dem verkündeten Tage weckte er mich und nahm mich mit sich zur Richtstätte. Dort fanden wir schon im grauen Morgenlichte eine dichtgedrängte Menschenmasse, die zu Tausenden zählte. Männer und Frauen, Mädchen und Knaben. Über ihre Köpfe hinaus ragte das schwarze Gebälk des Blutgerüstes. Es herrschte tiefe Stille. Nur ein leises Summen schwebte über der Menge, das, als der Verurteilte beim Schafotte ankam, ein wenig anschwoll, um dann für eine Weile ganz zu verstummen. Der stämmige Schlossermeister hob mich, da ich noch klein war, auf seinen Armen empor, damit ich über die vor uns Stehenden hinweg alles sehen sollte. So sah ich denn den Unglücklichen auf das Gerüst des Schafottes treten. Sofort schnallten ihm die Gehilfen des Scharfrichters ein Brett vor den Körper, das von den Füßen bis zu den Schultern reichte, den Hals freilassend. Er blickte hinauf zu dem Fallbeil, das vor ihm zwischen zwei durch einen Querbalken verbundenen Pfosten hing. Rasch wurde er vornüber gestürzt und vorgeschoben, so daß sein Hals zwischen den beiden Pfosten lag. Im nächsten Augenblick schoß wie ein Blitz das Beil herab, den Kopf von den Schultern trennend. Ein Blutstrom stürzte aus dem durchschnittenen Halse, aber dieser grauenhafte Anblick wurde schleunigst durch ein übergeworfenes Tuch den Augen der Zuschauer verborgen. Die ganze Handlung vollzog sich mit der Schnelligkeit des Gedankens. Man kam kaum zum Bewußtsein des Gräßlichen, das geschah, als es schon vorüber war. Ein dumpfes Murmeln erhob sich von der Menschenmenge, die sich dann schweigend zerstreute. Das Schafott war schon wieder abgebrochen und die Lache von Menschenblut auf der Erde mit Sand bedeckt, als der Morgensonnenschein von der Höhe des Doms heiter auf den Richtplatz hinunterstieg. Ich erinnere mich, daß ich ein inneres Beben und Schaudern mit mir nach Hause trug, und daß ich mein Frühstück nicht genießen konnte. Um keine Preis hätte ich seither wieder eine Hinrichtung sehen mögen.

Aber mein braver Schlossermeister führte mich nicht bloß zu Szenen des Grauens. Er war ein eifriger Theaterfreund, und zuweilen nahm er mich mit sich – freilich auf die oberste Galerie, wo ein Platz nur fünf Silbergroschen kostete. Das Kölner Theater nahm, wie ich später erfuhr, in der damaligen Bühnenwelt einen anständigen Rang ein. Mir [42] war es der Inbegriff alles Prächtigen und Wunderbaren. Mein Vater hatte mir oft davon erzählt; aber was ich sah, übertraf alle meine Erwartungen. Ich war außer mir vor Staunen, als ich zum erstenmal, wie das vor dem Anfang des Stückes zu geschehen pflegte, die gemalte Decke über dem Zuschauerraum sich auseinanderschieben und den von hundert Lichtern strahlenden Kronleuchter durch die geheimnisvolle Öffnung sich langsam heruntersenken sah – worauf die Decke sich wieder schloß. Auch die Aufführung packte mich gewaltig. Mit der ersten durchaus naiven Illusion, welche mich die Schicksale der schönen Genovefa hatte mitdurchleben lassen, war es allerdings vorbei. Die verunglückte „Banditenbraut“ in Brühl hatte mich stutzig gemacht. Aber was ich im Theater zu Köln sah, war von so viel höherer Art, daß ich mich dem Genuß wieder voll hingeben konnte. Der dramatische Geschmack meines Freundes, des Schlossermeisters, lag in der Richtung des Ritterstücks, und in seinen Augen gab es keinen größeren Schauspieler als Wilhelm Kunst, der zuweilen in Köln Gastrollen spielte. Kunst gehörte zu der Klasse der muskulösen Mimen – ein Riese von Gestalt und mit gewaltigen Körperkräften und einer Löwenstimme begabt. Aber diese Stimme war auch schöner Modulationen fähig und er gebrauchte seine außerordentlichen Mittel mit so viel Maß und Urteil, daß er sich, wie ich glaube, den Ruf eines nicht unbedeutenden, ja sehr achtungswerten dramatischen Darstellers bewahrt hat.

Das erste Stück, das ich an der Seite meines Schlossermeisters sah, war „Otto von Wittelsbach“, ein damals berühmtes Ritterspiel, in dem der Held den Kaiser Philipp von Schwaben, der ihn getäuscht, beim Schachspiel trifft, mit eisengepanzerter Faust auf das Schachbrett schlägt, daß die Figuren über die Bühne fliegen, und dann den Kaiser mit einem Schwertstreich niederstreckt. Hier war Kunst in seinem Element, und seine Leistung begeisterte mich im höchsten Grade. Ferner sah ich ihn als „Wetter vom Strahl“, im „Käthchen von Heilbronn“, und als Wallenstein in „Wallensteins Tod“ – freilich nicht schnell hintereinander, sondern es lagen Monate dazwischen, da der häufige Besuch des Theaters mit den Begriffen von Ökonomie, die unsere Lebensgewohnheiten beherrschten, nicht in Einklang stand. Mein Schlossermeister fand auch großen Gefallen an der akrobatischen Kunst und wußte mir viel zu erzählen von dem berühmten Averino, einem Stern erster Größe in diesem Fach, der ebenfalls zuweilen Köln besuchte, um im Theater Vorstellungen zu geben. Auch einer solchen wohnte ich mit meinem Freunde bei. Indes die halsbrechenden Sprünge, die unmenschlichen Verrenkungen und die Kraftproben mit Kanonenkugeln konnten mich wenig rühren, und ich sah den großen Averino, trotz des Enthusiasmus des Schlossermeisters, einmal und nicht wieder.

Aber um so tiefer hatte mich das Drama ergriffen, und ich fühlte einen unwiderstehlichen Drang, selbst etwas Dramatisches zu schaffen. Emsig las ich meine Beckersche Weltgeschichte, um einen guten historischen Stoff zu finden, und bald verfiel ich auf den angelsächsischen König Edwy, der um die Mitte des zehnten Jahrhunderts in England herrschte und sich durch seine Liebe zu der schönen Elgyva und seinen Streit mit dem heiligen Dunstan ein böses Schicksal bereitete. Es schien mir, daß, [43] wenn ich mir einige Freiheiten mit der Geschichte erlaubte, wie dramatische Dichter das zu tun pflegen, sich diesem Stoffe wohl ein tragisches Interesse geben ließe, – eine menschliche Leidenschaft auf dem Thron im Kampf mit der sich die politische Gewalt anmaßenden Kirche. So ging denn der Quartaner kühn und frisch ans Werk. Natürlich wurde aus der Tragödie nicht viel. Aber indem ich den Plan und eine Reihe von Szenen ausarbeitete, genoß ich doch die ganze Wonne der Schaffenslust. Wer diese Wonne nie genossen hat, der kennt nicht eine der schönsten Freuden des Lebens.

Auch lyrische Gedichte schrieb ich, und daneben eine Ballade. Zu dem Balladenstoff war ich auf folgende Weise gekommen: In der Nähe der Burg bei Liblar befand sich ein von einer Gruppe hoher Bäume beschattetes verfallenes Gemäuer. Zu welchem Zwecke es früher gedient haben mochte, wußte mir niemand zu sagen. Der Platz selbst hatte für mich immer etwas Unheimliches gehabt, und ich stellte mir in meiner Einbildung allerlei Dinge vor, die dort geschehen sein konnten. So entstand denn eine wild romantische Geschichte von einem Zwinger, in dem in grauer Vorzeit die Ritter von der Gracht wilde Tiere gehalten, und, wenn ich mich recht erinnere, von einer edlen Jungfrau, die auf irgend eine Weise in den Zwinger hineingeraten und von einem Edelknaben gerettet worden sei usw. Diese Geschichte brachte ich in hochtönende achtzeilige Stanzen, die mir so prachtvoll klangen, daß ich mich nicht enthalten konnte, das Gedicht meinem Vater nach Liblar zu schicken. Als mein Vater fand, daß es sich darin um alte Ritter von der Gracht handelte, hatte er in seinem Stolz auf die Leistung seines Sohnes nichts Eiligeres zu tun, als dem Grafen Metternich zur Gracht mein Machwerk mitzuteilen. Der Graf, der sich wohl auf Poesie nicht sehr verstand, meinte, das Gedicht sei recht schön, aber von dieser Geschichte habe er nie das geringste gehört – was mich gar nicht wunderte.

Auch in Prosa versuchte ich mich weit über die Grenzen der Schularbeit hinaus, und als ich einmal einen Aufsatz über Schillers Jungfrau von Orleans geschrieben hatte, der mir selbst besonders gut gefiel, erfaßte mich der ehrgeizige Wunsch, denselben gedruckt zu sehen. Ich fertigte also eine saubere Abschrift an und gab sie im Bureau der Kölnischen Zeitung ab mit einem Brief an Herrn Levin Schücking, den bekannten Novellisten, damaligen Redakteur des Feuilletons jenes Blattes, – in dem ich um Erlaubnis bat, mich persönlich vorzustellen. Ich empfing eine höfliche Antwort, die mir Tag und Stunde für meinen Besuch angab, und bald stand ich mit lautem Herzklopfen an der Tür des großen Mannes, der, wie ich glaubte, meine schriftstellerische Zukunft in seiner Hand hielt. Ich fand in Herrn Schücking einen freundlichen Mann mit angenehmen Gesichtszügen und großen, blauen, sanften, beruhigenden Augen. Er empfing mich recht wohlwollend, sprach mit mir über allerlei und gab mir zuletzt mein Manuskript zurück mit der Bemerkung, daß der Aufsatz viel Gutes enthalte, daß ich ihn aber doch lieber als eine Studie ansehen solle. Ich ging einigermaßen zerschmettert von dannen, aber schließlich bin ich doch dem guten Herrn Schücking für diesen zeitgemäßen Fingerzeig aufrichtig dankbar geblieben. Sehr vieles von dem, was ich später geschrieben, habe ich seinem Rate gemäß als Studie betrachtet. [44]

Als ich die Tertia des Gymnasiums erreicht hatte, begünstigte mich das Schicksal wieder, indem es mich mit einem anderen ausgezeichneten Lehrer in nähere Beziehungen brachte. Es war dies Professor Wilhelm Pütz, der sich besonders als Lehrer der Geschichte hervortat. Er konnte sich wohl keiner großen historischen Forschungen rühmen, die er selbst gemacht, aber er besaß ein seltenes Geschick, bei seinen Schülern die Lust an seinen Unterrichtsgegenständen anzuregen und zu weiteren Studien den Weg zu zeigen. Er hatte ein Handbuch geschrieben, das in dürrer Kürze die historischen Tatsachen und Verhältnisse angab und, in mehrere Bände eingeteilt, sich von den frühesten Perioden auf die neueste Zeit ausdehnte. Seine Lehrmethode war folgende: Einen großen Teil der Stunde brachte er damit zu, das geschichtliche Material, das er uns einprägen wollte, in freier Rede vorzutragen und dabei allgemeine Gesichtspunkte aufzustellen und soviel Detail einzufügen, wie erforderlich war, um seinen Vortrag nicht allein belehrend, sondern auch dramatisch und pittoresk und damit anziehend und leicht erinnerlich zu machen. Das so Vorgetragene hatte nun der Schüler in sich zu verarbeiten. Die dürren Angaben des Handbuchs dienten ihm dabei als Grundriß, um danach seine Erinnerung an die Einzelheiten des gehörten Vortrags aufzubauen. In der nächsten Lehrstunde hatten dann die Schüler, wie der Lehrer sie aufrief, das Gehörte ebenfalls in freiem Vortrage zu wiederholen und, sozusagen, in ihrer eigenen Sprache aus sich heraus zu reproduzieren. Von Zeit zu Zeit faßte er das Gelehrte in größeren Perioden in umfassendem und übersichtlichem Vortrage zusammen. So prägte sich dann die Geschichte nicht tabellenhaft oder anekdotisch, sondern periodenweise lebensvoll und von einem philosophischen Lichte erhellt der Phantasie und somit auch dem Gedächtnisse des Lernenden ein. Mir wurde dadurch die Geschichtsstunde und das damit zusammenhängende Studium, für das ich immer besondere Neigung gefühlt, statt einer Arbeit ein wahres Vergnügen, das sich mir nicht oft genug wiederholen konnte. Auf diese Weise wurde es mir möglich, daß, als ich einige Jahre später im Abiturientenexamen stand und Professor Pütz mich fragte, ob ich mich wohl getraue, die Geschichte der Regierung Alexanders des Großen frei darzustellen und die Karte zu den Feldzügen auf die große Tafel zu zeichnen, ich diese Aufgabe unbedenklich unternahm und befriedigend löste.

Pütz zog mich bald, nachdem ich sein Schüler geworden, näher an sich heran, und es entspann sich zwischen uns ein Verhältnis von freundschaftlicher Vertraulichkeit. Die für seine Lehrbücher empfangenen Honorare hatten ihn in den Stand gesetzt, während der großen Ferien Reisen in fremde Länder zu machen, viele merkwürdige Dinge zu sehen, Bekanntschaft mit bedeutenden Persönlichkeiten anzuknüpfen, und somit seinen Gesichtskreis über das bei Gymnasiallehrern gewöhnliche Maß hinaus zu erweitern. So hatte er in seinen Anschauungen etwas Weltbürgerliches gewonnen und galt in religiöser sowohl wie politischer Beziehung als ein „Aufgeklärter“. Da er uns eine Zeitlang auch den deutschen Unterricht gab und in meinen Aufsätzen Spuren einer mit der seinigen verwandten Denkweise entdecken mochte, so behandelte er mich fast wie einen jungen Kameraden, dem er erlaubte, in [45] seiner Gegenwart auf einen Augenblick den Schulknaben zu vergessen. Er erzählte mir gern von seinen Reisen und von den sozialen und politischen Einrichtungen und Händeln der Welt; und wenn die Rede auf Kirche und Staat kam, so sprach er nicht selten mit einem Anflug von Ironie, der mich merken lassen sollte, daß in seiner Meinung da manches anders sein dürfte. Er ermutigte auch Meinungsäußerungen meinerseits, und es machte ihm Vergnügen, zu sehn, daß ich nachgedacht hatte über diese und jene Dinge, die nicht gerade in dem gewöhnlichen Gedankenkreise der Schulbank lagen. Und wenn ich dann, so ermutigt, auch meiner Kritik des Bestehenden freimütigen Ausdruck gab, so hörte er wohl mit beistimmendem Lächeln zu, meinte aber zuweilen, so etwas dürften wir wohl unter uns ohne Rückhalt äußern, doch sei es geraten, im Gespräch mit weniger vertrauten Personen vorsichtiger zu sein.

Auch auf andere Weise erweiterte er meinen Horizont. Aus seiner Privatbibliothek lieh er mir mehreres von Goethe und von Schriftstellern der jüngeren Zeit. Selbst die Literaturen des Auslandes eröffnete er mir. Er gab mir die Schlegel-Tiecksche Übersetzung aus Shakespeare in die Hand, die ich mit Begierde verschlang. Auch machte er mich mit Cervantes und Calderon bekannt. Die Anfangsgründe des Italienischen lehrte er mich selbst, las mit mir die „Gefängnisse“ des Silvio Pellico im Original und Teile des Tasso und Ariost in Übersetzungen. So ging mir durch ihn eine neue Welt auf, und als eines der Wohltäter meiner Jugend gedenke ich seiner mit Dankbarkeit.

Auch mit ihm bin ich im späteren Leben wieder in Berührung gekommen. Gegen Mitte der siebziger Jahre, als ich Mitglied des Senats der Vereinigten Staaten war, empfing ich eines Tages durch die europäische Post ein Paket, das einen Brief von Professor Pütz mit einigen gedruckten Blättern enthielt. „Ich habe Ihnen oft Ihr Pensum korrigiert“, schrieb er, „nun korrigieren Sie mir einmal das meinige.“ Dann teilte er mir mit, er bereite soeben eine neue Ausgabe seines Leitfadens zur Weltgeschichte vor und wünsche mein Urteil zu haben über den Teil, der die jüngsten Ereignisse in Amerika betreffe. Diesen legte er mir auf den beifolgenden Blättern vor. Mit Freuden erfüllte ich seinen Wunsch und fand seine Darstellung in allen Einzelheiten so richtig, daß sie nicht der geringsten Korrektur bedurfte. Meine nächste Reise in Deutschland benutzte ich dazu, ihn aufzusuchen, und traf ihn in Köln. Von seinem Lehramt hatte er sich zurückgezogen und lebte in behaglichen Verhältnissen. Ich fand ihn allerdings sehr gealtert, aber noch lebhaften Geistes. Unser Wiedersehen war uns beiden eine herzliche Freude und wir feierten es mit einem heiteren Souper.

Mit meinem Eintritt in die höheren Klassen des Gymnasiums begann nun auch der Einfluß der jugendlichen Freundschaften auf mich zu wirken. Nach dem Ablauf des dritten Jahres hatte ich die Wohnung bei dem Schlossermeister aufgegeben und daran war die Musik schuld. Ich setzte meinen Klavierunterricht beständig und mit Liebe fort; aber da es in der Schlosserei kein Instrument gab, so mußte ich [46] zu einem Freunde gehen, der ein Klavier besaß, um meine Übungen zu machen. Dies wurde auf die Dauer zu beschwerlich; mein Vater suchte mir daher ein Unterkommen in einem andern Hause, wo ein Klavier zur Hand war. Da ich dort auch Besuche von meinem Freunden empfangen konnte, so begann für mich damit ein etwas freieres Leben. Unter meinen Mitschülern hatte ich immer gleichaltrige Freunde gehabt, mit denen mich gegenseitige warme Zuneigung verband, aber keinen, dessen Geistesrichtung und Bestrebungen mit den meinigen übereinstimmten, bis ich in die Tertia kam. Dann wurde ich mit einem Kreise junger Leute bekannt, die auch Verse schreiben, dieselben einander vorlasen und sich gegenseitig in der Kenntnis anderer literarischer Erscheinungen förderten. Sie waren etwas älter als ich und gehörten höheren Klassen an, nahmen mich aber in ihren Bund auf. Diejenigen davon, mit denen ich in diese freundschaftlichen Beziehungen trat, waren Theodor Petrasch, der Sohn eines Sekretärs der Provinzialregierung, der auch eine hohe Stellung im Freimauererorden einnahm, und Ludwig von Weise, Abkömmling eines alten kölnischen Patriziergeschlechts. Petrasch war eine liebenswürdige, heitere, enthusiastische, übersprudelnde Natur, während Weise bei sehr tüchtigem Talent und starkem Charakter in sich mehr die kritische, als die produktive Fähigkeit entwickelt hatte. Beide sprachen über religiöse und politische Dinge mit viel mehr Sicherheit als ich, und Petraschs freisinnige Äußerungen hatten schon die Aufmerksamkeit der Lehrer auf sich gezogen. Ja, er war bereits von dem Religionslehrer des Gymnasiums, einem recht gescheuten Manne, zur Rede gestellt worden und hatte diesem ein so offenes Bekenntnis seiner ketzerischen Ansichten abgelegt, daß der erschreckte Lehrer ihn zu weiteren Gesprächen über heilige Dinge einlud, ihn aber vorläufig von aller Teilnahme an religiösen Handlungen dispensierte, bis ihm ein neues Licht erschienen sein würde.

Mir selbst hatten dieselben Fragen schon recht schwere Stunden gemacht. Ich habe bereits erzählt, wie in früher Kindheit mein Glaube an die ewige Verdammnis der Andersgläubigen und an die Unfehlbarkeit und sittliche Größe des Priestertums bedenklich erschüttert worden war. Ich hatte seitdem über diese und verwandte Gegenstände viel und ernstlich nachgedacht. Endlich kam die Zeit, da ich konfirmiert werden, oder, wie wir es nannten, „zur ersten Kommunion gehen“ sollte. Als Vorbereitung wurde uns ein besonderer Unterricht in der katholischen Glaubenslehre durch den Religionslehrer des Gymnasiums zuteil. Ich gab mich diesem Unterricht hin mit aufrichtigen und wahrhaft frommen Wunsche, meine Zweifel zu überwinden. Ich bildete mir sogar ein, daß dies gelungen sei, und so ging ich durch den Akt der ersten Kommunion in einer Art von religiös schwärmerischer Stimmung. Aber unmittelbar darauf meldeten sich die alten Skrupel wieder, und zwar stärker als je vorher. Was mir nach wie vor am meisten widerstrebte, war der Glaubenssatz, daß die römische Kirche nicht allein die einzig wahre, sondern auch die allein seligmachende sei und daß es außerhalb derselben absolut kein Heil, sondern nur ewige Verdammnis gebe; daß Sokrates und Plato, daß alle Tugend des Heidentums, daß mein guter alter Freund, der Jude Aaron, daß selbst jedes neugeborene [47] Kind, das zufällig ohne Taufe gestorben, unrettbar im ewigen Höllenfeuer brennen müßte; – ja, daß ich selbst, wenn ich an der Verdammnis jener Unschuldigen einen noch so ehrlichen Zweifel hege, auch zu den Ewigverlorenen gehöre. Gegen diesen Satz lehnte sich nicht allein meine Vernunft, sondern es bäumte sich gegen ihn mein tiefinnerstes Gerechtigkeitsgefühl auf, wie mir denn auch stets von allen Schandtaten menschlicher Grausamkeit, denen wir in der Geschichte begegnen, die religiösen Verfolgungen die empörendsten gewesen sind. Diese Lehre schien mir dem Wesen der göttlichen Allgerechtigkeit so schreiend zu widersprechen, daß sie nur dazu diente, mir andere Glaubensartikel verdächtig zu machen.

Freilich versagen einige hohe Autoritäten in der Kirche dieser extremen und grausamen Lehre ihre Zustimmung und weisen den Seelen ungetaufter Kinder und denen tugendhafter Heiden einen Mittelzustand zwischen Himmel und Hölle an. Aber gewiß ist, daß die Religionslehrer meiner Jugend mich so lehrten, wie ich hier angegeben habe. Sie taten dies mit der rauhen und erbarmungslosen Logik, die das Dogma von der Erbsünde und die gepredigte Notwendigkeit der Kindertaufe zu erfordern schienen. Welch ein Segen würde es für die Kirche sein und für alle, die unter ihrem Einfluß stehen, wenn all ihre Lehrer in allgemeiner Übereinstimmung nicht nur ihren Gläubigen, sondern allen schuldlosen und tugendhaften, wenn auch ungetauften, Menschenseelen den Himmel öffneten mit all seiner Glückseligkeit!

Diese Gedanken beunruhigten mich furchtbar. Ich betete oft und inbrünstig um Erleuchtung, aber als Antwort auf mein Gebet kamen immer dieselben Zweifel wieder. Meinem Religionslehrer vertraute ich meinen Gemütszustand mit voller Offenheit. Wir hatten eine Reihe von Gesprächen, in denen er mir jedoch wenig zu sagen wußte, das ich nicht schon früher oft gehört hatte. Ich gestand meinem Lehrer freimütig, daß, während ich mich gern überzeugen ließe, er mich doch nicht überzeugt habe, worauf er auch mich von den kirchlichen Observanzen dispensierte, bis ich mich selbst würde gedrungen fühlen, dieselben wieder aufzunehmen. Er fuhr fort, mich mit Güte und Freundlichkeit zu behandeln, und ich könnte nicht sagen, daß die Geständnisse, die ich ihm gemacht, mir im Laufe meiner Schulzeit irgendwelche Schwierigkeiten verursacht hätten. Ich meinerseits studierte Kirchengeschichte und Schriften dogmatischen Inhalts mit gesteigertem Eifer und benutzte jede Gelegenheit, Prediger von Ruf zu hören; aber je länger und ernstlicher ich diese Studien fortsetzte, um so weniger konnte ich den Weg zu den meinem Gerechtigkeitsgefühl widerstrebenden Glaubenssätzen zurückfinden. Dabei blieb in mir ein starkes religiöses Bedürfnis tätig, eine tiefe Achtung vor dem religiösen Gedanken und ich habe nie einem leichtfertigen Spötter über religiöse Dinge ohne Widerwillen zuhören können.

Auf diesem Gebiete freilich konnten mir meine Freunde nicht viel Belehrendes erzählen; um so mehr aber auf einem andern.

Von der neuesten deutschen Literatur, besonders der politischen, wußte ich sehr wenig. Von Heine hatte mir mein Lehrer Pütz erzählt, aber ich kannte ihn eigentlich nur dem Namen nach; von Freiligrath [48] nur einige seiner Tropenbilder; von Gutzkow, Laube, Herwegh usw. gar nichts. Petrasch lieh mir Heines Buch der Lieder. Das war mir wie eine neue Offenbarung. Ich fühlte fast, als hätte ich nie vorher ein lyrisches Gedicht gelesen, und doch klang mir von Heines Liedern manches, als hätte ich es schon längst gekannt, als hätten die Feen es mir an meiner Wiege gesungen. Unverzüglich flog alles, was ich bis dahin an Versen geschrieben hatte, und das durchweg von der hochtrabenden deklamatorischen Sorte war, ins Feuer, und ich sah es mit Lust brennen. Das Lesen und Wiederlesen des Buchs der Lieder war mir eine unbeschreibliche Schwelgerei. Dann ging ich an die neuen Lieder, die Reisebilder, das Wintermärchen, Deutschland und den Atta Troll mit ihrer ätzenden politischen Satire, deren Witz dem Gemüt nicht wohl tat, aber die Gedanken auf den Zustand des Vaterlandes lenkte. Ferner las ich mit meinen Freunden auch Gedichte der revolutionären Himmelsstürmer, wie Herwegh, Hoffmann von Fallersleben und anderer, die wir meist nur in Abschriften besaßen.

Die revolutionären Leidenschaften die in einigen derselben Ausdruck fanden, waren uns allerdings in Wirklichkeit fremd. Aber die Angriffe auf die bestehenden Regierungen, besonders die preußische, schlugen doch eine Seite an, die in der Brust des Rheinländers leicht wiederklang. Jenes Stück des Rheinlandes mit seiner fröhlichen, leichtlebigen Bevölkerung hatte innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Periode allerlei bunte Schicksalswechsel erfahren. Vor der französischen Revolution hatte es unter der gemütlich-liederlichen erzbischöflich-kurfürstlichen Herrschaft gestanden. Dann, von französischen Heeren erobert, gehörte es eine Weile zu der französischen Republik und dem Kaiserreich. Endlich im Jahre 1815 wurde es zu Preußen geschlagen. Von diesen drei Herrschaften, deren rasche Aufeinanderfolge ein Gefühl wahrer Loyalität nicht aufkommen ließ, liebte der Rheinländer die preußische am wenigsten, obgleich sie unzweifelhaft bei weitem die beste war. Das kurz angebundene, autoritätssüchtige preußische Wesen, die stramme preußische Ordnung sagten dem etwas leichtsinnigen rheinischen Volk nicht zu. Dann war das Volk dieses Landesteils fast ausnahmslos katholisch, während der Begriff Preußen den Begriff Protestantismus in sich schloß. Überdies kamen altpreußische Beamte in ansehnlicher Zahl ins Rheinland, um die Rheinländer regieren zu helfen, und das setzte natürlich böses Blut. All diese Dinge liegen ließen die preußische Herrschaft am Rhein wie eine Art von Fremdherrschaft erscheinen, die, wie das fast immer der Fall ist, von Anfang an dem Gefühl der Eingeborenen widerstrebte. Im Laufe der Zeit sah man allerdings ein, daß die ehrliche und gut geregelte preußische Administrationsweise sehr große Vorzüge besaß. Aber die dem Rheinländer angeborene Oppositionslust war nun einmal angestachelt; der preußische Beamte blieb ein „hungriger Preuß“, und das Wort „Preuße“ überhaupt galt im Volksmunde als ein ziemlich ehrenrühriges Schimpfwort. In der Tat, wenn in einer Zänkerei von Schulknaben der eine den andern einen „Preußen“ gescholten hatte, so hielt es schwer, noch einen höhern Trumpf zu finden. Das sollte allerdings infolge der nationaldeutschen Einheitsbestrebungen und besonders der politischen Erregungen [49] der Jahre 1848–49 ganz anders werden; aber zur Zeit, als ich Gymnasiast war, stand der Preußenhaß am Rhein noch in voller Blüte. Uns jungen Leuten war freilich die provinziale und besonders die religiöse Engherzigkeit ziemlich fremd. Aber wir teilten doch das vorherrschende Gefühl, daß da manches anders werden müßte; daß es ein Skandal sei, dem Volke Rede- und Preßfreiheit vorzuenthalten; daß der alte preußische Absolutismus einer konstitutionellen Regierungsform zu weichen habe; daß die der deutschen Nation im Jahre 1813 von den Fürsten gegebenen Versprechungen schmählich gebrochen worden seien, und daß das zersplitterte deutsche Vaterland in ein geeinigtes großes Reich mit freien politischen Institutionen zusammengeschmiedet werden sollte. Der unruhig aufstrebende deutsche Nationalgeist, der damals die Gemüter der gebildeten Stände durchwehte und in der Literatur beredten Ausdruck fand, erregte in uns die wärmste Begeisterung. Wie die geträumte Freiheit und nationale Einheit zuwege gebracht werden sollten – ob wir zu diesem Zweck, wie Herwegh in einem Gedichte empfahl, das wir alle auswendig hersagen konnten, die eisernen Kreuze aus der Erde reißen und daraus Schwerter schmieden müßten, oder ob es einen Weg friedlicher Entwicklung nach dem ersehnten Ziele gäbe –, darüber waren unsere Gedanken keineswegs klar. Um so fester aber standen uns die Zielpunkte selbst, und wir suchten uns durch fleißiges Lesen von Zeitungen und Flugschriften über die Vorgänge des Tages und die Gedankenströmungen im Volke zu unterrichten. Auch konnten wir uns nicht enthalten, unsere Gesinnungen gelegentlich laut werden zu lassen. Ich war in der Obersekunda, als eines Tages unser Lehrer im Deutschen – damals nicht mehr mein Freund Pütz, sondern ein anderer auch recht fähiger Mann – uns die Aufgabe stellte, als deutschen Aufsatz eine Gedächtnisrede auf die Schlacht bei Leipzig zu schreiben. Da ich es für meine Pflicht hielt, das zu sagen, was ich wirklich dachte, so ließ ich bei dieser Veranlassung meine Ansichten über die dem deutschen Volke nach so heldenmütigen Anstrengungen gewordene Behandlung und meine Hoffnung auf eine nationale Regeneration des deutschen Vaterlandes freimütig aus. Es war mir heiliger Ernst dabei. Ich schrieb die Gedächtnisrede sozusagen mit meinem Herzblut. Als der Professor – sein Name war Nattmann – uns in der Klasse unsere Hefte mit seinen kritischen Bemerkungen zurückgab, reichte er mir das meinige ohne ein Wort. Ich fand unter meinem Aufsatz die Zensur: „Stylistisch sehr gut; aber was für nebelhafte Ansichten!“ Nach der Unterrichtsstunde rief er mich zu sich, legte seine Hand auf meine Schulter und sagte: „Was Sie da geschrieben haben, klingt ja ganz brillant. Aber so etwas kann doch auf einem königlich preußischen Gymnasium nicht passieren. Tun Sie’s nicht wieder!“ Er gab uns nie wieder ein Thema, das politische Anspielungen hätte veranlassen können.

Unterdessen setzte ich meine literarischen Studien eifrig fort, und mein schriftstellerischer Schaffenstrieb, nicht wenig von dem gelegentlichen Beifall meiner vertrautesten Freunde angespornt, hielt mich in beständiger Tätigkeit. Ich schrieb lyrische Gedichte in Menge und auch mehrere Tragödien geschichtlichen Inhalts. Von diesen Jugendsünden ist keine erhalten geblieben, um mir durch ihren Anblick mein [50] späteres Alter zu verbittern – oder vielleicht auch zu belustigen. Leicht schämt man sich ja des gar zu Unvollkommenen, das man hervorgebracht, oder der Selbstüberhebung, die dazu gehörte, um es zu unternehmen. Aber ich kann doch nicht ohne eine gewisse Rührung an jene Zeit zurückdenken, als ich mit so tiefem Ernst mich dem dichterischen Triebe hingab, und mit der Hoffnung – sicherlich mit dem Wunsche –, im Laufe der Zeit einmal dem Vaterlande wertvolle Schöpfungen zu schenken und in die Reihe seiner namhaften Schriftsteller zu treten.

Es versteht sich von selbst, daß meine literarischen Bestrebungen einen nicht geringen Teil der Zeit in Anspruch nahmen, die sonst andern Studien würde gehört haben. In den ersten Jahren meines Gymnasialkursus hatte ich bei der halbjährigen Zeugnisaustellung jedesmal in allen Fächern ohne Ausnahme die höchsten Zensuren gewonnen. Dann opferte ich diese stetige Gleichmäßigkeit meiner literarischen Neigung insofern, als ich in einigen Unterrichtsgegenständen, namentlich der Mathematik und der Naturwissenschaft, eben nur das tat, was streng gefordert wurde. Doch behauptete ich immerhin meine Stellung als einer der besseren Schüler der Klassen, in denen ich mich nacheinander befand.

Um so einfacher und bescheidener war mein Leben außerhalb der Schule. Die Vermögensverhältnisse meiner Eltern gaben mir die wertvollste Gelegenheit, die Tugend der Genügsamkeit zu üben. Ein regelmäßiges Taschengeld hatte ich eigentlich gar nicht. Ich erinnere mich auch nicht, meine Eltern jemals um ein solches gebeten zu haben. Sie dachten wohl selbst daran und steckten mir eine Kleinigkeit zu, wenn ich aus den Ferien nach Köln zurückging, oder wenn sie mich dort besuchten. Zuweilen kam ich wochenlang mit der Summe von fünf Silbergroschen aus. Der Besitz von zehn Groschen oder gar eines Talers gab mir das Gefühl von Reichtum. Auch wenn ich nichts besaß, was zuweilen der Fall war, kam ich mir dennoch nie arm vor. Die Denkweise, in die ich mich damals ohne viel Reflexion hineinlebte, ist mir in meinen späteren Schicksalen sehr viel wert gewesen. Die Freunde, mit denen ich umging, schienen in diesen Dingen viel besser gestellt zu sein als ich. Sie konnten sich manchen Genuß erlauben, den ich mir versagen mußte. Ich gewöhnte mich daran, das zu tun, ohne mich selbst darum geringer oder vom Schicksal schlecht behandelt zu dünken, und besonders ohne die geringste Regung von Neid in mir aufkommen zu lassen. Diese früh gepflegte Gewohnheit hat mich im späteren Leben vor mancher Störung meiner Gemütsheiterkeit bewahrt, denn es ist mein Los gewesen, fast immer in engen Beziehungen mit Menschen zu verkehren, die von dem, was man die Glücksgüter der Welt nennt – Reichtum, Macht, gesellschaftliche Stellung, – mehr besaßen als ich. Der Neid ist wohl von allen Leidenschaften diejenige, die den Menschen in sich am unglücklichsten macht. Unter Neid verstehe ich natürlich nicht etwa den bloßen Wunsch, begehrenswerte Dinge, die wir im Besitz von andern sehen, ebenfalls zu besitzen – denn solche Wünsche hegt wohl zuweilen die bestgeartete Menschennatur; sie sind oft dem edelsten Ehrgeiz nicht fremd. Ich verstehe vielmehr unter [51] Neid, gepaart mit solchen Wünschen, jene scheelsüchtige Mißgunst, die andern das, was sie besitzen, nicht gönnen will und ihnen dessen Genuß verderben oder zerstören möchte. Eine lange Erfahrung hat mir die Überzeugung gegeben, daß das wahrste, schönste Glück der Menschenseele in der Freude an dem Glück anderer besteht. Der Neidische aber sucht sein eigenes Glück darin, andere ihres Glückes beraubt zu sehen. Das ist von allen denkbaren Gemütsverfassungen die elendeste.

Die Erziehung kann jungen Leuten kaum einen größeren Dienst erweisen, als, indem sie lehrt, ihre Vergnügungen vom Gelde unabhängig zu machen. Dies ist viel leichter, als man gewöhnlich glaubt; man braucht nur von den Genüssen, die fast jede Umgebung bietet, diejenigen recht würdigen zu lernen, die nichts kosten. Auf diese Weise entdeckt man den wahren Genußreichtum des Lebens, welcher dem Reichen, der sich seine Genüsse zu kaufen gewohnt ist, oft zum großen Teil verborgen bleibt. Obgleich ich als Knabe nur äußerst beschränkte Mittel aufzuwenden hatte, waren meine Kunstgenüsse doch keineswegs gering. Von meinen Theaterbesuchen, die, wenn auch sehr selten und nicht kostspielig, doch die Grenze meiner finanziellen Kräfte berührten, habe ich schon gesprochen. Kaum geringere Freude machten mir andere Dinge, die sich mir frei boten. Sonntags morgens pflegte ich mich in der Wallraffschen Gemäldesammlung umzusehen, die damals in einem kleinen alten Gebäude auf der Trankgasse aufgestellt war. Einige Zimmer waren mit Bildern der alten kölnische Schule gefüllt, die mich, obgleich ich ihren kunstgeschichtlichen Wert nicht zu schätzen wußte, durch ihre Farbenpracht und die Naivetät der Darstellung anzogen. Eines „jüngsten Gerichts“ erinnere ich mich besonders, in welchem das grausam-heitere Grinsen einer Anzahl roter, blauer und grüner Teufel von phantastisch gräulicher Gestalt mich höchlich belustigten. Auch moderne Bilder gab es dort, darunter einige von bedeutendem Wert. Vor Bendemanns „trauernden Juden an den Wassern von Babylon“, einem berühmten Erzeugnis des Düsseldorfer Meisters, habe ich manche halbe Stunde in träumerischer Betrachtung gestanden. Wie das wohl immer der Fall ist, zog den Knaben zuerst das Gegenständliche des Gemäldes an, bis oft wiederholtes Anschauen die kritische Unterscheidung weckte und den Geschmack zu bilden begann.

Ebensowenig fehlte es an musikalischen Genüssen. Sonntags morgens fand im Dom die sogenannte „musikalische Hochmesse“ statt, bei der nicht selten auch der Erzbischof fungierte und der katholische Kultus seine ganze Pracht zur Schau stellte. Der Hauptreiz der Handlung, der außer dem frommen auch das kunstsinnige Publikum zuströmte, bestand jedoch in ihrem musikalischen Teil. Gewöhnlich wurde von einem vollständigen Orchester und ausgewählten Singstimmen eine Messe irgend eines bedeutenden Komponisten aufgeführt. Diese Aufführungen waren von eigentümlich wundersamer Wirkung. Ich habe schon erwähnt, wie ruinenhaft zu jener Zeit der Dom in seinem Äußern erschien. Das Innere entsprach zum großen Teil der äußeren Erscheinung. Wer durch das verwitterte Portal zwischen den Turmstumpfen in das Mittelschiff eintrat, der sah in einiger Entfernung vor sich eine kahle, graue Wand, die, unmittelbar jenseits des Kreuzschiffes zwischen [52] den mittleren Säulen aufgerichtet, den Chor gegen den Rest des Gebäudes abschloß. Dies war die Rückenwand des großen Orgelbaues, der an dieser ungewohnten Stelle provisorisch seinen Platz gefunden hatte, weil eben der Chor das einzige vollendete Stück der Kathedrale war. Die Orgel stand also sozusagen mit dem Rücken gegen den größten Teil der Kirche; und auf der Estrade vor der Orgel, dem Chor zugewendet, waren bei der „musikalischen Messe“ das Orchester und die Sänger aufgestellt. Wer sich nun in dem unterhalb des Chores gelegenen Teil des Domes befand, der hörte die Musik und den Gesang nicht direkt, sondern nur als ein an dem Säulenwalde und den himmelhohen Spitzbogengewölben hundertfältig gebrochenes Echo wie aus weiter Ferne, ja wie aus einer andern Welt. Das war ein wunderbares Wehen und Wogen von Tönen – die Geigen und Oboen wie das Flüstern und Seufzen des Frühlingswindes in den Wipfeln, die Trompeten und Posaunen und der mächtige Vollchor dem Brausen des Sturmes und dem Tosen der Meeresbrandung gleich. Zuweilen schien das Echo auf Augenblicke zu schweigen und eine Melodie oder Harmoniefolge flog klar durch den ungeheueren Raum, oder ein Sopransolo löste sich los von dem zauberhaften Wirrsal und schwebte darüber wie Engelsgesang. Dann war die Wirkung unbeschreiblich rührend, und ich erinnere mich, daß, wie ich still lauschend an eine der hohen Säulen gelehnt stand, mich etwas wie ein heiliger Schauer überlief. So dachte ich mir das, was ich die Sphärenmusik hatte nennen hören, oder das Konzert der Himmelskinder, wie ich sie auf den alten Bildern des Wallraffmuseums gemalt gesehen.

Der Sonntagmittag bot mir noch einen musikalischen Genuß anderer Art. Die Wachtparade der Garnison fand auf dem Neumarkt, dem großen Exerzierplatz statt. Die vortreffliche Kapelle des 28. Infanterieregiments spielte dann zum Parademarsch ihre martialischen Weisen und unterhielt darauf noch die Offiziere und das versammelte Publikum mit einigen gut ausgewählten Stücken, meist Opernmusik. Und da das Repertoir der Kapelle ein ziemlich reiches war, so halfen mir die Wachtparadenkonzerte nicht wenig zur Erweiterung meiner musikalischen Kenntnisse.

Da nun auch die Erzählungen meines vielgereisten Freundes Professor Pütz, sowie ein kunstgeschichtliches Werk, das er mir in die Hand gegeben, mein Interesse für antike und mittelalterliche Baukunst angeregt und meinen Sinn für architektonische Schönheit geweckt hatten, so gewährte mir die oftmalige und eingehende Betrachtung der vielen mittelalterlichen Bauwerke kirchlichen und weltlichen Charakters, deren die Stadt sich rühmen kann, manche schöne Stunde. An Kunstgenüssen fehlte es mir also durchaus nicht – obgleich ich mich fast ganz auf diejenigen zu beschränken hatte, die mir ohne Kosten zugänglich waren. Meine freien Nachmittage brachte ich gewöhnlich mit den Freunden zu, mit denen mich eine Verwandtschaft geistiger Bestrebungen verband. Wir lasen uns gegenseitig unsere dichterischen Erzeugnisse vor, schwelgten miteinander in unseren Lieblingsschriftstellern, oder philosophierten über Gott und die Welt, mit dem Ernst und der Weisheit, die sehr jungen, etwas frühreifen und enthusiastischen Leuten eigen zu sein [53] pflegt. Zuweilen ging ich auch nach Lind hinaus, eine halbe Wegstunde von Köln, wo mein Ohm Peter den „Münchhof“ bewohnte. Seine Söhne, meine Vettern Heribert und Otto, der eine ein Jahr älter, der andere ein Jahr jünger als ich, waren meine guten und lieben Kameraden. Da sie sich nicht für eine Gelehrtenlaufbahn vorbereiteten, sondern Landwirte werden sollten, so hatte ich weniger geistige Interessen mit ihnen gemein als mit meinen andern Freunden; aber sie waren Knaben von gewecktem Geist, vortrefflicher Gemütsart und ritterlichem Wesen, und wir vergnügten uns zusammen in der heitersten Weise. Wenn das Wetter das Umhertummeln in der freien Luft nicht zuließ, so unterhielten wir uns wohl im Hause mit Kartenspielen. Hier muß ich nun, um der Wahrheit treu zu bleiben, einen Vorfall erwähnen, der zeigt, daß meine Jugend keineswegs von bedenklichen Flecken frei war.

Anfangs spielten wir nur des Zeitvertreibes wegen. Wie wir aber Geschmack an der Sache gewannen, so machten wir bald kleine Einsätze, allerdings nur sehr geringe, da ich äußerst wenig Geld besaß, und meine Vettern freilich etwas mehr, aber auch nicht viel. Doch regte uns das abwechselnde Gewinnen und Verlieren so an, daß die Lust am Spiel schließlich mit uns durchging und zu einer Katastrophe führte. Meine Vettern besuchten eine Zeitlang die Bürgerschule in Köln und blieben die Woche über des Nachts in der Stadt in einem unsern Begriffen nach sehr hübschen Quartier. Dort versammelten wir uns dann und wann an freien Nachmittagen zu einem Kartenspiel. So ereignete es sich, daß, als ich einmal das in den nächsten Tagen zu bezahlende Schulgeld in der Tasche hatte und in fortwährendes Verlieren kam, ich mich von der Aufregung des Augenblicks hinreißen ließ, das mir von meinen Eltern für die Schule anvertraute Geld anzugreifen. Natürlich hoffte ich, das Verlorene zurückzugewinnen; ich spielte fieberhaft weiter; aber das Glück wandte sich nicht, und ich verlor das ganze Schulgeld im Spiel. Freilich betrug die Summe nur ein paar Taler, und meine Vettern halfen mir sofort aus der Not. Aber mein Schreck über das Geschehene war so groß, mein Schuldbewußtsein so peinigend, und, als ich meinen Eltern das Geständnis machte, meine Beschämung so tief – denn ich kam mir, nicht mit Unrecht, wie ein Verbrecher vor –, daß mir die inneren Leiden jener Tage zeitlebens als eine furchtbare Lehre gegenwärtig geblieben sind. Ich hatte an mir selbst eine ernste Erfahrung gemacht. Bei unserm Spiel war es mir nicht um das Gewinnen von Geld zu tun gewesen. In der Tat, es gab vielleicht wenig Menschen, die des Geldes weniger bedurften und die dessen Besitz weniger schätzen. Und doch hatte mich der böse Zauber, der dem Versuchen des Glückes eigen ist, zu einer Handlung verführt, die unter ungünstigen Verhältnissen und in größerem Maßstabe begangen, meinen Charakter hätte unheilbar schädigen können. Das Spiel wird zu den sogenannten noblen Passionen gerechnet; aber ich glaube, es gibt kein Vergnügen, das, einmal zur Passion geworden, dem Charakter gefährlicher ist. Es war vielleicht ein Glück für mich, daß diese Lehre in meinem Leben so früh kam und sich bei mir so schmerzhaft und tief eingrub.

[54] Lustige Tage gab es während der Schulferien, die ich, wenn nicht gerade Ausflüge zu den verschiedenen Oheimen gemacht wurden, in Liblar zubrachte. Dazu fanden sich häufig die Vettern von Lind, Herrig und Jülich zusammen, zuweilen gar verstärkt durch Schulfreunde von Köln. Das war die Zeit des Austobens, und sie wurde redlich benutzt. Die Alten der Familie freuten sich an den Jungen und mit ihnen. Zwei Vorkommnisse meines Ferienlebens sind mir besonders lebhaft im Gedächtnis geblieben. Ein „studierender“ Junge ist in einem Dorfe immer eine Art von Merkwürdigkeit, und es wird ihm manches Ungewöhnliche erlaubt. Nun war mein Vater auf meine Fortschritte recht stolz und mochte gern meine Talente den Nachbarn vorführen. Mit dem Lateinischen und Griechischen und mit meinen literarischen Leistungen, die ich übrigens auch gewöhnlich für mich behielt, ging das natürlich nicht; so versuchte er es denn auf dem musikalischen Felde. Mein Klavierspielen hatte ich fortgesetzt und auch etwas Generalbaß studiert. Besonderes Vergnügen machte es mir, auf dem Instrument zu improvisieren. Mein Vater, der daran großen Gefallen fand, meinte nun, so gut wie auf dem Klavier würde das auch vor dem versammelten Volk auf der Kirchenorgel gehen; und so beredete er den alten Organisten, der selbst ein sehr schwacher Musiker war, mich während der Messe an einer passenden Stelle ein Zwischenspiel oder am Schluß des Gottesdienstes während des Hinausgehens der Gemeinde ein Stück spielen zu lassen. Dies geschah, nicht etwa einmal, sondern oft, da es den Dorfleuten wohl zu behagen schien und der brave Organist keine Künstlereifersucht kannte. An einem Festtage, als der Graf Metternich mit seiner Familie in seiner Kapelle am Chor dem Gottesdienste beiwohnte und die Gemeinde ungewöhnlich zahlreich versammelt war, hielt ich es für angemessen, etwas Besonderes zu leisten. Beim Schluß der Messe also zog ich alle Register auf und spielte einen Marsch, den ich auf dem Neumarkt in Köln bei einer Wachtparade gehört und im Gedächtnis behalten hatte, mit so donnerndem Effekt, daß die Gemeinde, die bereits aufgestanden war, um die Kirche zu verlassen, wie von Erstaunen gebannt stehen blieb und der Graf aus seiner Kapelle hervortrat, als ob er zusehn wollte, was da eigentlich los sei. Als ich endlich schloß, meinten die Dorfleute, das sei einmal etwas Rechtes gewesen, und so etwas habe man in Liblar nie gehört. Dies war der Höhepunkt meiner Laufbahn als Orgelspieler. Sie sollte bald ein jähes Ende nehmen. Eines Sonntags wurde mir erlaubt, den Chor, der aus dem Küster und drei oder vier Sängern bestand, bei der Vesper zu begleiten. Der Regel gemäß fügte der Organist zwischen je zwei gesungenen Versen eine kurze Improvisation als Zwischenspiel ein. Dabei ließ ich nun meiner Kenntnis im Generalbaß freien Lauf. Einmal begann ich mein Zwischenspiel in der Tonart, in welcher der Chorgesang lag, schloß es aber eine Terz höher, um dann mit einem kühnen und raschen Übergang auf die ursprüngliche Tonart zurückzugehen. Auf solche Künste waren nun der Küster und seine Chorgänger nicht eingeübt. Sie wollten meinem kühnen Übergang nicht folgen, sondern setzten ihren Chor eine Terz höher ein, als sie es gewohnt waren und schrien dabei, daß sie rot im Gesicht wurden und ihnen die Kopfadern [55] zu springen drohten. Nach der Vesper erklärte der Küster höchst entschieden, mit den künstlichen Improvisationen und dem Generalbasse sei es nichts; dieser Unfug müsse aufhören, und der alte Organist sei ihm viel lieber. So war es denn mit meiner Glorie als Orgelspieler in Liblar für immer aus.

Auf einem andern Felde erfüllte sich mir ein ehrgeiziger Wunsch. Sehr früh hatte ich schießen lernen und es darin zu einer ziemlichen Geschicklichkeit gebracht. Als ich nun Sekundaner geworden war, und mir eine Kugelbüchse in die Hände fiel, die irgend einem Mitgliede unserer Familie gehört hatte, hielt ich die Zeit für gekommen, mich als vollgültigen Schützen an dem Vogelschießen der Sankt Sebastianus-Brüderschaft zu beteiligen. Ich ließ mich also in die Liste einschreiben, bot mich mehreren Mitgliedern, männlichen und weiblichen, als Vertreter beim Schießen an, und wurde in den meisten Fällen angenommen. Das Kugelgießen am Samstag vor Pfingsten war einer der feierlichsten Akte meines Lebens; und als ich mit Sonnenaufgang am Pfingstmontage aufwachte, fühlte ich, als sei für mich ein Tag großer Entscheidung angebrochen. Mit tiefem Ernst marschierte ich am Nachmittage hinter Hahnen Drickes, dem Trommler, und Schneidermeister Schäfer, dem „Fänt“, in den Reihen der Schützen nach dem Schießplatz; dem „Felde der Ehre“, wie ich es nannte; und als nach dem dreimaligen Umzuge um die Vogelstange das Gebet kam, war ich vielleicht einer der Inbrünstigsten. Ich hatte sogleich zu Anfang mehrere Schüsse, von denen keiner fehl ging. Hahnen Drickes belohnte mich mit dem üblichen Trommelwirbel, und ich fürchte, ich schaute zuweilen mit einem Blick umher, der Bewunderung suchte. Nur ein Schuß blieb mir noch übrig. Aber der hölzerne Vogel war schon sehr zersplittert, und es wurde mit jedem Augenblicke ungewisser, ob meine Nummer noch erreicht werden würde. Mein Herz schlug hoch. Meine letzte Nummer wurde wirklich noch erreicht. Da oben hing nur noch ein kleiner Fetzen von Holz an der Eisenspitze der Vogelstange. Ich setzte die Büchse an die Schulter mit dem Gefühl, als ob dieser Schuß das ganze Schicksal meiner Zukunft enthalte. Mit mächtiger Anstrengung zwang ich mich zur Kaltblütigkeit; mein Blick blieb wirklich klar und meine Hand fest. Aber als ich abgedrückt hatte, schwamm es mir vor den Augen. Ich hörte nur, wie Hahnen Drickes auf seinem Kalbfell raste und wie die umstehende Menge schrie. Das Große war also geschehen. Ich hatte „den Vogel abgeschossen“. Ich war Schützenkönig! Nicht weit von mir stand mein Vater. Er lachte aus vollem Halse und freute sich offenbar über die Maßen. Nun hängte man mir die große silberne Schilderkette um die Schultern, die mich fast zu Boden drückte, und man setzte mir einen hohen Hut auf mit der alten Flitter- und Blumenkrone. Es war ein stolzer Augenblick. Aber ich hatte den Vogel nicht für mich selbst abgeschossen, sondern nur als Vertreter für eine andere Person. Wer war diese Person? Eine Sankt Sebastianus-Schwester, eine alte Waschfrau. Sie wurde herbeigeholt und auch mit einigen Bändern und Blumen geschmückt. Als meiner Königin mußte ich ihr den Arm geben, und so marschierten wir denn feierlich hinter Trommel und Fahne ins Dorf zurück. Die Schützen knallten mit ihren Büchsen, [56] die Kinder jubelten, und die alten Leute standen vor ihren Türen, grüßten mit den Händen und riefen meinen Namen. Aber ich fühlte doch, als ob wir beiden, die alte Waschfrau und ich, in diesem Triumphzuge, der mir in meiner Phantasie immer so feierlich erschienen war, ein recht groteskes Bild darstellten. Ich glaubte sogar, einige Leute über diesen Aufzug spöttisch lachen zu sehen. Aber, schlimmer noch als dies, ich bemerkte auf den Gesichtern einiger der älteren Schützen etwas wie einen Ausdruck des Unwillens. Mein Ohr fing sogar eine Bemerkung auf, es sei doch eigentlich nicht passend, daß das Schützenfest der altehrwürdigen Sankt Sebastianus-Brüderschaft zu einem Knabenspiel werde. Ich konnte mir innerlich nicht leugnen, daß diese Ansicht etwas Berechtigtes habe. So fiel denn in der Stunde des Triumphes, von dem ich vorher soviel geträumt hatte, in den Kelch des Erfolges und der Freude ein schwerer Tropfen Wermut hinein. Es war die alte Erfahrung, mir damals noch neu, daß es selten eine Freude ohne bittere Beimischung gibt, und daß die Erfüllung eines Wunsches gewöhnlich anders aussieht, als man sie sich vorher gedacht. Diese Erfahrung war mir bestimmt in meinem Leben noch recht oft zu machen.

Unterdessen waren über die Familie dunkle Wolken heraufgezogen. Der Abzug meines Großvaters von der Burg hatte allerlei Folgen gehabt, die sich nach und nach als unheildrohend entwickelten. Es war als sei der Familie der feste Boden unter den Füßen weggeglitten und alles ins Schwanken geraten. Der Ertrag der Verkäufe des Inventars wurde, wenn ich mich recht erinnere, meinem Onkel Georg, dem jüngsten Sohn meines Großvaters, der die Ackerwirtschaft auf der Burg hätte führen sollen, zu geschäftlicher Verwendung überlassen. Dieser tastete eine Zeitlang ohne festen Plan umher und kam endlich auf den Gedanken, in Getreide zu handeln. In Verbindung damit entschloß sich mein Vater, der auch das dringende Bedürfnis einer Erweiterung seiner Erwerbsquellen fühlte, neben unserm Hause ein Gebäude zu errichten, das zu ebener Erde einen großen Saal und darüber geräumige Getreidespeicher enthalten sollte. Mein Vater hatte in einem der vielen Bücher, die er gelesen, die Beschreibung einer neuen Bauart mit gepreßten Erdquadern gefunden, die ihm außerordentlich einleuchtete und besonders sehr wohlfeil vorkam. Sie hatte für ihn den großen Reiz des Neuen. So ging er denn ans Werk, und der Bau wurde erfolgreich ausgeführt, nur kostete das Experiment viel mehr, als mein Vater im voraus berechnet hatte. Auch stellte es sich bald heraus, daß der festlichen Gelegenheiten für den Gebrauch des Saales zu wenige waren, um das darauf verwendete Kapital zu einer gut zahlenden Geldanlage zu machen. Mit dem Getreidespeicher ging es in der Folge noch schlimmer. Der Getreidehandel meines Onkels Georg nahm bald den Charakter der Spekulation an, und man versprach sich goldene Berge davon. Wenn der Führer des Geschäfts ins Gedränge kam, so sprangen ihm die Brüder und Schwäger natürlich bei, und bald fanden sich alle in Unternehmungen verwickelt, für die keiner von ihnen besonderes Geschick besaß. Wie ich sie vorher schon beschrieben habe, keiner von ihnen war ein scharfer Rechner und Händler. Es ging gegen das Kavalierartige in ihrer natürlichen Anlage. Mein Oheim Jakob, der Bürgermeister von [57] Jülich, hatte allerdings mehrere der Eigenschaften, deren ein Kaufmann bedarf. Er war in allen Dingen gewissenhaft, ordentlich und exakt. Aber der sichere Blick in der Berechnung des Vorteils, der Instinkt des Händlers fehlten auch ihm. Ebensowenig war mein Vater ein guter Geschäftsmann. Er interessierte sich viel mehr für das, was er in seinen populär-naturwissenschaftlichen Werken fand, als für die Dinge, die seine Geschäftsbücher füllen sollten. Es schien ihm unmöglich zu sein, die allernötigste Ordnung in seinen Papieren zu halten. In unserm Wohnzimmer stand ein Pult mit einem Klappdeckel, in dem er seine Rechnungen, Quittungen, Geschäftsbriefe usw. aufbewahrte. Ich erinnere mich, ihn oft gesehen zu haben, wie er an diesem Pult arbeitete mit einem verworrenen Haufen von Papieren vor sich, wie sein Gesicht einen immer hülfloseren und ungeduldigeren Ausdruck annahm, und wie er dann plötzlich aufstand und die Papiere in ihrem wilden Durcheinander mit seinem Ellbogen in das Innere des Pultes zurückschob, um den Deckel schließen zu können. Und diese Untugend fürchte ich, habe ich von meinem Vater geerbt, denn es ist immer darüber geklagt worden, daß es auf meinem Schreibtisch wüst aussehe.

Die gegenseitigen Hülfeleistungen brachten nach und nach unter den Brüdern und Schwägern so große Verwirrung hervor, daß endlich keiner von ihnen mehr genau wußte, wie seine eigenen Angelegenheiten standen. Um in diese Konfusion Licht zu bringen, versammelten sie sich zuweilen, mit dem Vorsatz, nur von Geschäften zu sprechen, bis alles in übersichtliche und befriedigende Ordnung gebracht sein würde. Dabei hätte nun freilich manches gesagt werden müssen, was dem einen oder dem anderen hätte unangenehm sein können, – und davor scheute sich jeder. So begannen sie denn damit, sich zusammen zu Tisch zu setzen und sich gegenseitig an die köstlichen Tage zu erinnern, die sie miteinander verlebt, und an die tollen Streiche, die sie zusammen ausgeführt. Allmählich wurde dann aus der beabsichtigten Geschäftskonferenz ein Familienfest der heitersten Art. Sie aßen und tranken und freuten sich so herzlich miteinander, daß es gar zu schade gewesen wäre, die Gemütlichkeit durch die Erwähnung unangenehmer Dinge zu stören. Nachdem dies einige Tage so fortgegangen war, erinnerten sie sich, daß es nun für die von auswärts hergekommenen Zeit sei, nach Hause zu reisen. Dann nahmen sie rührenden Abschied, küßten einander, weinten auch wohl gar ob der Trennung und gingen jeder seines Weges, ohne daß von den bösen Geschäften, wegen deren sie sich versammelt, auch nur einen Augenblick die Rede gewesen wäre. Natürlich gerieten ihre Angelegenheiten so in einen immer heilloseren Zustand, und einige gewagte Getreidespekulationen, die alles wieder gutmachen sollen, aber wie gewöhnlich fehlschlugen, dienten nur dazu, die Lage noch bedeutend zu verschlimmern.

Mein Vater war an diesen Spekulationen zwar nur indirekt beteiligt, aber doch genug, um in die daraus entstehenden Schwierigkeiten verwickelt zu werden. Obgleich ich mit diesen Dingen möglichst wenig behelligt wurde und die Jugend sie ja auch gewöhnlich leicht nimmt, so entging es mir doch nicht, daß meine Eltern zuweilen in drückender Sorge waren, und ich fing an, diese Sorge ernstlich zu teilen. Ich [58] selbst warf die Frage auf, ob es ihnen möglich sein werde, mich länger im Gymnasium zu halten. Diese Frage wurde dadurch entschieden, daß ich mir ein Stipendium erwirkte, das einen großen Teil der Kosten meines Aufenthaltes in Köln deckte, und daß ich den Rest durch Privatstunden erwarb, die ich Schülern in den unteren Klassen des Gymnasiums gab. Dies unternahm ich mit großem Eifer und nicht ohne Erfolg. Freilich bezahlten mir die meisten meiner Schüler nur 2½ Silbergroschen die Stunde; fünf Groschen die Stunde sah ich für ein sehr schönes Honorar an. So arbeitete ich mich bis in die Unterprima durch.

Nun trat in der Lage meiner Eltern plötzlich eine hoffnungsvolle Änderung ein. Mein Vater fand Gelegenheit, das Eigentum in Liblar, Haus, Garten und Saalbau um einen Preis zu verkaufen, der ihn in den Stand setzen würde, seine Verbindlichkeiten zu decken und noch etwas für die Gründung einer neuen Existenz übrig zu behalten. Sobald der Verkauf abgeschlossen war, zog er mit der Familie nach Bonn, wo ich in Jahresfrist, nachdem ich das Gymnasium absolviert, die Universität beziehen sollte. In Bonn kam er durch ein Arrangement mit einem alten Bekannten in Besitz eines geräumigen Hauses, dessen unterer Teil als ein Restaurant mit Mittagstisch für Studenten diente, während in den obern Stockwerken mehrere Zimmer vermietet wurden. Mein Freund Petrasch, der unterdessen zur Universität gegangen war, bezog eines derselben. Alles ließ sich befriedigend an.

Aber unsere Lage verdunkelte sich wieder in erschreckender Weise. Der Käufer des Eigentums in Liblar, mit dem, wie es schien, mein Vater sich nicht gehörig vorgesehen, und der bei dem Abschluß des Kaufes nur eine geringe Anzahlung geleistet hatte, erklärte plötzlich, daß ihm der Kauf leid geworden sei, und daß er die bereits erlegte kleine Summe aufgeben, aber keine weitere Zahlung machen werde. Das war ein harter Schlag. Mein Vater versuchte, den Käufer gerichtlich an seinen Kontrakt zu halten, doch das war eine langwierige und unsichere Sache. Ein anderer Käufer fand sich nicht. Nach Liblar zurückgehn konnte mein Vater auch nicht, da er nun in Bonn gebunden war. Nun begannen die Wechsel fällig zu werden, die er im Vertrauen auf das Eingehen der Kaufsumme seinen Gläubigern gegeben hatte. Er konnte seine Versprechen nicht einhalten; die Wechsel wurden protestiert, und plötzlich empfing ich in Köln die Nachricht, daß einige der Gläubiger zur Erzwingung der Zahlung meinen Vater hatten ins Schuldgefängnis sperren lassen. Das traf mich wie ein Donnerschlag. Ich lief nach dem Gefängnis und sah meinen Vater hinter einem Gitter. Es war eine erschütternde Begegnung, aber wir sprachen uns gegenseitig Mut zu. Er setzte mir seine Umstände auseinander, und wir überlegten, was wohl getan werden könnte, um ihn aus dieser demütigenden und für unsere Familie so entsetzlichen Lage zu befreien.

Ich war siebzehn Jahre alt und sollte in die Oberprima gehn. Aber nun war es mit meinem Verbleiben in Köln zu Ende. Ich nahm also von meinen Lehrern und Freunden einen eiligen Abschied und widmete mich ganz den Angelegenheiten der Familie. Meine Oheime wollten gern nach Kräften helfen, aber sie selbst steckten in den schwersten [59] Verlegenheiten. Geldgeschäfte waren mir durchaus fremd und meiner Neigung zuwider. Doch ist die Not ein wunderbarer Schulmeister, und ich hatte die Empfindung, als wäre ich plötzlich um viele Jahre älter geworden. Nach vielem Hin- und Herreisen und unablässigen, sorgenvollen Bemühungen gelang es, die Gläubiger so weit zu befriedigen, daß sie meinen Vater freiließen und sich zu den erforderlichen Akkommodationen bequemten. Das waren schwere Tage.

Als mein Vater wieder imstande war, die geschäftlichen Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, warf sich die Frage auf, was nun mit mir geschehen solle. Sollte ich meine Studien aufgeben und eine andere Laufbahn beginnen? Dieser Gedanke wurde sofort verworfen. Aber die Umstände erlaubten nicht, daß ich nach Köln zurückging. Ich mußte bei der Familie bleiben. Es wurde daher der kühne Plan gefaßt, ich solle sofort anfangen, als nicht-immatrikulierter Student Vorlesungen an der Universität zu hören, dabei aber privatim meine Gymnasialstudien fortsetzen und im Herbste des nächsten Jahres das Abiturientenexamen in Köln als „Auswärtiger“ absolvieren. Dieser Plan war deshalb kühn, weil es wohl schwierig erschien, die Gymnasialstudien nebenbei bis auf den erforderlichen Punkt fortzuführen, und weil die „Auswärtigen“ bei dem Abiturientenexamen besonders strenge behandelt zu werden pflegten. Aber ich zauderte nicht, das Wagestück zu unternehmen. Mein Beruf war mir unterdessen auch klar geworden. Ich liebte vor allen geschichtliche und Sprachstudien und glaubte, schriftstellerische Fähigkeit zu besitzen. Ich beschloß also, mich auf eine Professur der Geschichte vorzubereiten. Nach vollendetem Universitätskursus hoffte ich die erwerbslose Privatdozentenperiode bis zur Erlangung einer Professur mit dem Ertrag literarischer Arbeiten überbrücken zu können. So fing ich denn an, philologische und geschichtliche Vorlesungen zu besuchen.

Mein Abschied vom Gymnasium bringt mich zu der früher schon erwähnten Frage zurück, ob nicht der Lehrplan der deutschen Gymnasien, sowie der korrespondierenden Anstalten in andern Ländern, veraltet und unpraktisch geworden sei. Ist es weise, einen so großen Teil der Zeit und der Lernkraft der Schüler auf das Studium des Lateinischen und des Griechischen und der klassischen Literaturen zu verwenden? Würde man nicht der jungen Generation einen größeren Dienst erweisen, wenn man an die Stelle des Lateinischen und des Griechischen das Studium moderner Sprachen und Literaturen setzte, deren Kenntnis in den praktischen Geschäften des Lebens viel nutzbarer wäre? Dieser Frage ist ihre Berechtigung gewiß nicht abzusprechen. Das Lateinische ist nicht mehr, was es in den meisten Ländern der sogenannten zivilisierten Welt bis zum Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, ja in einigen bis zu einem viel jüngerem Zeitpunkt war: die Sprache der Diplomatie, des Rechts, der Philosophie, der gesamten Wissenschaft. Nicht einmal die Fähigkeit, lateinische Zitate in die Rede einzustreuen, ist jetzt noch erforderlich, um den gebildeten Menschen zu dokumentieren. Die Literaturen des klassischen Altertums sind nicht mehr die einzigen, in denen wir große Dichterschöpfungen in vollendeter Formenschönheit, Muster der Geschichtschreibung und der Beredsamkeit und Tiefe des philosophischen [60] oder wissenschaftlichen Gedankens finden. In den modernen Literaturen gibt es reiche Schätze davon, und ebenso von vortrefflichen Übertragungen, die auch demjenigen, der die alten Sprachen nicht versteht, die Meisterwerke des antiken Geistes zugänglich machen.

Und doch – wenn ich mich jetzt in meinen alten Tagen nach vielfacher Lebenserfahrung frage, welchen Teil des Unterrichts, den ich in meiner Jugend empfangen, ich mit dem geringsten Bedauern entbehren würde, so würde meine Antwort keinen Augenblick zweifelhaft sein. Ich habe ja freilich – und leider – von dem Latein und Griechisch, das ich als Schüler wußte, im Lauf der bewegten Zeiten viel vergessen.

Aber die ästhetischen und sittlichen Anregungen, die jene Studien mir gaben, die idealen Maßstäbe, die sie mir errichten halfen, die geistigen Horizonte, die sie mir eröffneten, sind mir niemals verloren gegangen. Jene Studien waren nicht ein bloßes Mittel zur Erwerbung von Kenntnissen, sondern im besten Sinne des Wortes ein Kulturelement. Und so sind sie mir mein ganzes Leben hindurch eine unerschöpfliche Quelle erhebenden Genusses geblieben.

Wäre mir noch einmal die Wahl gegeben zwischen den klassischen Studien und den sogenannten „nützlichen“ an ihrer Stelle, so würde ich, für mich selbst, unzweifelhaft im wesentlichen denselben Lehrplan wählen, den ich durchgemacht habe. Ich würde das um so unbedenklicher tun, als ich die klassischen Studien wahrscheinlich nie im späteren Leben hätte aufnehmen können, hätte ich sie nicht in meinen Gymnasialjahren begonnen, und als die Kenntnis der alten Sprachen mir später auch bei dem Erlernen der modernen von unschätzbarem Vorteil gewesen ist. Wer Lateinisch versteht, wird das Französische, Englische, Spanische, Italienische und Portugiesische nicht allein viel leichter lernen, sondern auch viel besser. Ich kann von mir selbst sagen, daß ich in der Tat nur die lateinische Grammatik ganz gründlich verstanden habe, daß aber diese Kenntnis mir die grammatischen Studien in den modernen romanischen und germanischen Sprachen aller Mühseligkeit entkleidet, ja spielend leicht gemacht hat. – Während ich also dem jetzt so beliebten Nützlichkeitsargument in bezug auf die Veränderung des Lehrplans sein Anrecht auf ernstliche Beachtung keineswegs abspreche, so kann ich doch nicht umhin zu gestehen, daß ich persönlich dem alten klassischen Kursus sehr viel Gutes und Schönes zu verdanken habe, das ich nicht entbehren möchte.

Student an der Universität zu sein, ist der schönste Traum des Gymnasialschülers – das Ziel seiner Sehnsucht. Ich hatte davon keine Ausnahme gemacht. Nun war ich an der Universität. Aber wie? Als bloßer Zuläufer, der sein Recht auf die akademische Bürgerschaft erst durch eine schwere Prüfung zu gewinnen hatte; als eine fragliche Existenz, kaum einer demütigenden Lage entgangen, von bitteren Sorgen gedrückt, mit sehr unsicherem Ausblick auf die Zukunft. So geschah es mir wieder, daß das, was ich erhofft hatte, in einer traurigen Gestalt kam. In der Erfüllung konnte ich den vorhergegangenen Wunsch kaum wiedererkennen.





[61]
Viertes Kapitel.

Der Student.

Obgleich ich noch nicht regelrechter Student war, so wurde mir doch von einem Kreise vortrefflicher junger Leute, der Burschenschaft Frankonia, eine wohltuend warme Begrüßung. Dies verdankte ich meinen Kölner Freunden Theodor Petrasch und Ludwig von Weise, die vor mir die Universität bezogen, sich dieser Burschenschaft angeschlossen und ihren Verbindungsgenossen allerlei übertriebene Dinge von mir erzählt hatten. Nun war ich zu jener Zeit ein über die Maßen schüchterner Jüngling, so schüchtern in der Tat, daß ich mich nur bei meiner Familie und meinen intimen Freunden mit Behagen gehen ließ, während die Begegnung mit fremden Menschen mich gewöhnlich stumm machte, wenn nicht gar außer Fassung setzte. Meine Verlegenheit wurde um so schlimmer, da ich sogleich merkte, daß meine Kölner Freunde in der Frankonia, die zum großen Teil aus sehr tüchtigen jungen Leuten aus Norddeutschland bestand, mit mir besondere Parade machen wollten. Als ich nun über und über errötete und kaum ein Wort hervorzubringen wußte, wenn die Studenten mich anredeten, so war die Enttäuschung so groß, daß mein guter Petrasch mir dieselbe kaum verhehlen konnte. Ich werde nie das Gefühl der Hilflosigkeit vergessen, das mich überkam, als er mich dem damaligen Sprecher der Frankonia, Johannes Overbeck, vorstellte. Overbeck, ein geborener Hamburger, war ein hübscher junger Mann, mehrere Jahre älter als ich, von selbstbewußtem Wesen. Er studierte Archäologie und hatte schon ein Bändchen Gedichte drucken lassen. Alles dies imponierte mir gewaltig, und ich vermochte in der Unterhaltung mit ihm kaum über das notdürftigste Ja oder Nein hinauszukommen. Ich erschien mir selbst wie ein linkischer Landjunge, der sich in gebildeter Gesellschaft nicht zu benehmen weiß, und schämte mich gründlich. Es war eben das erstemal in meinem Leben, daß ich mit Leuten aus anderen Teilen Deutschlands zusammentraf und diese, besonders die Norddeutschen, hatten etwas Vornehm-Überlegenes in ihrem Wesen, dem ich mich nicht gewachsen fühlte. Im späteren Leben ist es mir noch oft beschieden gewesen, ähnliche Gemütszustände durchzumachen.

Meine unregelmäßige Stellung in der Studentenschaft erlaubte mir nicht, als vollberechtigtes Mitglied in die Frankonia einzutreten, aber ich wurde als ein sogenannter „Mitbummler“ der Verbindung angenommen und durfte an ihren gesellschaftlichen Versammlungen auf der „Kneipe“ teilnehmen, fast wie einer, der dazu gehörte. Da die Frankonia sich vor andern studentischen Vereinen durch einen feineren Ton auszeichnete und das massenhafte Biertrinken nicht zur Pflicht machte, so wurde meine Mäßigkeit mir nicht unbequem. Ich saß nun unter den muntern, gesprächigen und zum Teil recht geistvollen Gesellen lange als ein stiller, fast stummer Beobachter. Endlich kam auch meine Stunde.

Die „Kneipabende“ fanden häufig ihren Glanzpunkt in dem Vorlesen der sogenannten „Kneipzeitung“. Irgend ein Mitglied schrieb einen Aufsatz oder ein Gedicht, gewöhnlich satirischen oder sonstwie heitern Inhalts, und trug das Produkt der versammelten Gesellschaft vor. [62] Eine gute Kneipzeitung zu schreiben, war Gegenstand besondern Ehrgeizes, und nicht selten wurde auf diesem Felde recht Anerkennenswertes geleistet. Es machte sich ganz von selbst, daß ich als still zuschauender Mitbummler die Eigentümlichkeiten meiner neuen Freunde studierte, und ich schrieb dann eine Parodie von Auerbachs Kellerszene im Faust, in welcher ich die hervorragendsten Leute der Frankonia als handelnde Personen vorführte. Das Reimen wurde mir leicht, die Verse flossen bequem und nicht unmusikalisch, die Satire war gutmütig, aber treffend. Meinem Freunde Petrasch teilte ich mein Machwerk im Vertrauen mit. Er jauchzte vor Vergnügen und meinte, besseres sei in dieser Art noch selten geleistet worden. Das glaubte ich ihm nicht, und um keinen Preis hätte ich seinem Drängen nachgegeben, daß ich meine Arbeit bei dem nächsten Kneipabend vorlesen solle. Dann erbot er sich, die Vorlesung selbst zu übernehmen, und dieses gestattete ich nun unter der Bedingung, daß ich nicht als Verfasser genannt werde. Er versprach alles. Mein Herz klopfte mir bis in die Kehle, als ich die Vorlesungen mit anhörte, und ich fühlte mein Erröten, als eins übers andere mal die Gesellschaft in Gelächter und Beifall ausbrach. Der Erfolg war durchschlagend. Den Verfasser erklärte Petrasch nicht nennen zu dürfen, aber damit gab sich die Gesellschaft nicht zufrieden. An mich schien niemand zu denken. Petrasch, der auf meine Leistung so stolz war, als wäre sie seine eigene gewesen, winkte mir über den Tisch zu und flüsterte hörbar: „Darf ich es nicht sagen?“ Dies allein würde das Rätsel gelöst haben, hätte nicht ein anderes Mitglied der Gesellschaft das Manuskript erblickt und meine Handschrift erkannt. Nun gab es großen Jubel. Von allen Seiten stürzte man auf mich ein; des Umarmens war kein Ende, und Petrasch rief immer wieder: „Habe ich es Euch nicht gesagt?“

Das Verschwinden meiner anderen dichterischen Erzeugnisse aus jener Zeit ist mir eine Beruhigung. Aber ich gestehe, diese „Kneipzeitung“ möchte ich gern noch einmal wiedersehen, denn sie hat mir zur Zeit einen unschätzbaren Dienst geleistet. Ihr Erfolg weckte mein Selbstvertrauen. Sie machte den befangenen Landjungen, der auf dem besten Wege war, eine lächerliche Figur zu spielen, plötzlich zu einer sehr respektierten Person in seiner Umgebung. Meine Schüchternheit im Verkehr mit den neuen Kameraden hörte bald auf, meine Zunge zu lähmen, und es bildeten sich höchst angenehme und förderliche Freundschaftsverhältnisse, von denen später noch die Rede sein wird. Viel Zeit konnte ich allerdings meinen Freunden während jenes ersten Universitätsjahres nicht widmen, denn das noch zu bestehende Maturitätsexamen, von dem meine ganze Zukunft abhing, schwebte wie ein drohendes Gespenst vor mir und ließ mir keine Ruhe. Neben den geschichtlichen und philologischen Vorlesungen, die ich bei Aschbach und Ritschl hörte, hatte ich mir alles, was in der Oberprima gelehrt wurde, im Wege des Selbstunterrichts anzueignen; und mit Ausnahme der Mathematik und der Naturwissenschaften gelang mir dies, allerdings mit vieler Arbeit, aber doch ohne wesentliche Schwierigkeiten. Endlich, im September 1847, kam die gefürchtete Krisis, und ich reiste nach Köln, von den angstvollen Gebeten meiner Familie und den wärmsten Wünschen meiner Freunde begleitet. Alles ging vortrefflich. Auch begünstigte mich das [63] Glück ein wenig. Ich wußte das ganze sechste Buch der Iliade auswendig herzusagen, und es traf sich, daß der Examinator im Griechischen mich gerade aus diesem Buch übersetzen ließ. So konnte ich denn den Text beiseite legen und das mir aufgegebene Stück ohne einen Buchstaben anzusehen ins Deutsche übertragen, was nicht wenig Aufsehen erregte. Meine schriftstellerischen Aufsätze, deutsche und lateinische, sowie meine Leistungen in andern Fächern gefielen so gut, daß man mir meine Schwäche in der höhern Mathematik und den Naturwissenschaften nicht anrechnete. Als die Prüfung vorüber war, und ich das Zeugnis der Reife empfing, gab mir der Regierungskommissar, der mir früher furchtbar wie das dunkle Schicksal erschienen, einen besonders warmen Händedruck mit seinen Wünschen für mein ferneres Wohlergehen auf den Weg.

Triumphierend kam ich nach Bonn zurück. Nun erst konnte ich in der Universität regelrecht immatrikuliert werden und stand dann als vollgültiger, ebenbürtiger Student unter meinen Genossen. Mit neuer Begeisterung und nun auch mit einem Gefühl der Sicherheit gab ich mich meinen philologischen und geschichtlichen Studien hin und dachte mit größerer Ruhe an meine Zukunft, in der meine Phantasie mir eine Professur der Geschichte an einer Universität und eine schöne literarische Tätigkeit vormalte. Ich hoffte, den schlimmsten Stürmen des Lebens entronnen zu sein und einer ruhigen Laufbahn entgegen zu gehen, die allem, was ich an Ehrgeiz besaß, vollständig genügen würde. Wie wenig ahnte ich damals die sonderbaren Schicksale, die so bald all meine Zukunftspläne zerstören und mich in so ganz andere Bahnen werfen sollten! Der heitere Sinn, den mir die gütige Natur geschenkt, und die genügsame Genußfähigkeit, die meine Jugendjahre mir anerzogen, machten mich für den Reiz des freien Studentenlebens in hohem Grade empfänglich. Auch war mir das Glück wieder besonders günstig gewesen, indem es mich sogleich bei meinem Eintritt in die akademische Welt mit dem allerbesten Kreise von jungen Männern in freundliche Berührung gebracht hatte.

Friedrich Spielhagen sagt in seinen Memoiren, daß die Burschenschaft Frankonia „unter den studentischen Verbindungen jener Zeit zweifellos die vornehmste“ gewesen sei. Das war sie in der Tat. Freilich zählte sie unter ihren Mitgliedern keine Söhne hochadeliger Häuser, noch auch Leute von ungewöhnlichem Reichtum. Wenigstens galt der Reichtum für nichts. Um so stärker war in ihr ein geistig vornehmer Ton und ein ernstes wissenschaftliches Streben vertreten, und ich glaube, keine der damaligen studentischen Gesellschaften hatte so viele Jünglinge aufzuweisen, die später als tüchtige Menschen auf ihren verschiedenen Lebenswegen bekannt geworden sind. So traf ich dort zusammen mit Johannes Overbeck, der sich als Archäologe hohe Auszeichnung gewann; von dem gesagt werden sollte, daß er das beste Buch über Herkulanum und Pompeji geschrieben habe, ohne jemals dort gewesen zu sein, und der schließlich an der Leipziger Universität als Professor der Archäologie glänzte; mit Julius Schmidt aus Eutin, der, ohne die regelmäßige Gymnasialbildung genossen zu haben, sich in den vordersten Rang der Astronomen durcharbeitete und, nachdem er der [64] Welt eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten von seltener Vortrefflichkeit geschenkt, vor wenigen Jahren als Direktor der Sternwarte in Athen starb; – mit Karl Otto Weber aus Bremen, einem Jüngling von sprudelndem Geist und unwiderstehlichem Liebreiz des Gemütes, dessen ausgezeichnete Leistungen als Mediziner ihm später eine Professur in Heidelberg gewannen, und der durch eine diphtheritische Ansteckung, die er sich bei einer Operation in einem desperaten Falle zuzog, seinen Tod gefunden hat, wie ein Held auf dem Schlachtfelde fallend; – mit Ludwig Meyer, der dazu bestimmt war, sich als Irrenarzt und Direktor verschiedener Anstalten rühmlich hervorzutun und dann einen Lehrstuhl an der Universität Göttingen einzunehmen; mit Adolph Strodtmann, der als Biograph Heines, als Verfasser einer Reihe von literargeschichtlichen Schriften und als Übersetzer Vortreffliches gesleistet hat, und von dem im Laufe dieser Erzählung noch oft die Rede sein wird; – mit Friedrich Spielhagen, in dem wir trotz seines etwas verschlossenen und seltsamen Wesens schon damals einen bedeutenden, sittlich und geistig hoch angelegten Menschen erkannten, und der später als Stern erster Größe unter die Romandichter des Jahrhunderts trat; – und mit einer weiteren Reihe von ebenso geistvollen wie liebenswürdigen jungen Leuten von ernstem Streben, die in der Folge zu ehrenvollen, wenn auch weniger hervorragenden Stellungen emporstiegen.

In diese Burschenschaft Frankonia wurde ich nun nach bestandenem Maturitätsexamen als vollberechtigtes Mitglied aufgenommen und fühlte mich, nachdem ich meine Schüchternheit überwunden, heimisch darin. Obgleich in dieser Gesellschaft fleißig und mit ernstem Zielbewußtsein gearbeitet wurde, so war ihr doch alle griesgrämige, kopfhängerische Stubenhockerei fremd, und es fehlte nicht an jugendlichem Übermut. Freilich brach dieser Übermut nicht, oder doch nur selten in denjenigen Exzessen aus, die sonst für das deutsche Studentenleben als charakteristisch gelten. Es gab allerdings einige unter uns, die im Biertrinken Erkleckliches zu leisten vermochten. Aber das Biertrinken wurde keineswegs als eine Kunst gepflegt, in deren Ausbildung man eine Ehre gesucht hätte. Noch weniger hatte der Mäßige von seinen Freunden Mißachtung oder Spott zu befürchten. Mäßigkeit war vielmehr die Regel, und wer diese Regel zu oft oder zu stark verletzte, mußte sich einen Verweis von den Vorstehern der Verbindung gefallen lassen und sogar der Ausschließung gewärtig sein. Ebensowenig nahmen wir an dem Duellunfug teil, in dem die studentischen Korps ihrem Ruhm suchten. Ich kann mich nur zweier Fälle erinnern, in denen, während ich zu der Verbindung gehörte, ein Frankone auf die Mensur ging, und diese Fälle rechneten wir uns keineswegs zur Ehre an.

Es gibt jetzt wohl kein zivilisiertes Volk mehr, in dem die aufgeklärteste öffentliche Meinung nicht das Duell als ein Überbleibsel der Barbarei vergangener Zeitalter ansieht und verurteilt. Während man eine ungewöhnlich tiefe Ehrenkränkung oder eine Schmach, die einer Verwandten oder Freundin zugefügt worden ist, vielleicht noch als eine Entschuldigung des Zweikampfs mit dem Degen oder der Pistole gelten läßt, so erkennt man das Duell doch nicht mehr als eine wirkliche Ehrenrettung, noch auch als einen Beweis wahren Mutes an, und der [65] gewohnheitsmäßige Duellant, der sich durch häufige Rencontres in den Verdacht bringt, die Gelegenheit zum Streit mutwillig aufzusuchen, erwirbt sich eher den Ruf eines rohen wenn nicht gar verbrecherischen Raufboldes als den eines Helden. Der wahre Gentleman hat aufgehört, sich der Anrufung der Organe des Gesetzes zum Schutz seiner eigenen oder der Seinigen Ehre zu schämen, wenn diese Ehre eines Schutzes bedürfen sollte, und mit Recht hat man angefangen, die Ehre desjenigen verdächtig zu finden, der zu ihrer Verteidigung die gesetzlose Gewalttat den von dem Gesetz gebotenen Mitteln vorzieht. Diese Anschauungsweise bildet sich unwiderstehlich zur öffentlichen Meinung der gesitteten Menschheit aus.

In welchem Lichte steht nun dieser öffentlichen Meinung gegenüber derjenige Teil der „gebildeten Jugend“ auf den deutschen Universitäten da, der nicht etwa gelegentlich zur Rettung wirklich gekränkter Ehre zu dem Duell seine Zuflucht nimmt, sondern das Duell als eine Art von gesellschaftlicher Unterhaltung kultiviert und in der Zahl der ohne irgendwelchen ernstlichen Grund ausgefochtenen Zweikämpfe eine Auszeichnung sucht? Die auf den Universitäten üblichen Vorsichtsmaßregeln haben „die Paukerei“ insofern gefahrlos gemacht, als dabei gewöhnlich nur eine blutige Schramme auf dem Gesicht herauskommen kann. Sich so zu schlagen, erfordert daher nicht mehr Kühnheit, als sich einen Zahn ausziehen zu lassen; vielleicht gar nicht einmal so viel. Eine wahrhafte Mutprobe kann ein solches Duell somit gewiß nicht genannt werden. Die Veranlassung dazu besteht höchst selten in etwas anderem als einer läppischen Zänkerei, mutwillig herbeigeführt nur um eine Herausforderung zu provozieren. Und der Student, der auf diese Weise sein Gesicht mit einem Netz von garstigen Schmarren verunstaltet hat, will dann als ein Held gelten, der tapferer und besser ist als andere, die auf verständigere Art ihre Jugend genießen und den Aufgaben des Lebens gerecht zu werden suchen. Man will das Studentenduell durch die Behauptung verteidigen, daß dadurch unziemliche Streitigkeiten verhütet und gemeine Prügeleien verpönt werden. Aber diese Verteidigung erscheint sofort als völlig haltlos, wenn man auf die Hochschulen anderer Länder blickt, wo das Duell unbekannt, und wo die gemeine Prügelei ebenso selten ist wie auf den deutschen Universitäten – und in der Tat die unziemliche Zänkerei noch viel seltener, denn eine unziemlichere Zänkerei kann es kaum geben, als die mutwillige, durchaus grundlose, die unter den deutschen Korpsburschen üblich ist, um Duelle herbeizuführen.

Auch will man behaupten, daß durch das Duell bei den jungen Leuten das Ehrgefühl angeregt werde. Was für ein Ehrgefühl? Ist es ehrenhaft, ohne den geringsten vernünftigen Grund einen Zweikampf auszufechten? Ist es ehrenhaft, durch ein mutwillig ausgesprochenes beleidigendes Wort irgend jemand zum Duell zwingen zu wollen? Ist es ehrenhaft, diejenigen mit Verachtung zu behandeln, die nicht willig sind, sich um nichts zu schlagen? Diese Anregung des sogenannten Ehrgefühls, die in der Tat auf nichts anderes als die Anregung einer flachen, kindischen Ruhmredigkeit, einer rohen „Renommisterei“ hinausläuft, ist tatsächlich nur die Pflege eines falschen Ehrbegriffes, einer [66] groben Selbsttäuschung, welche der Jugend nur gefährlich werden kann, indem sie gerade die sittlichen Anschauungen verwirrt, deren Klarheit die wesentlichste Grundbedingung für den Charakter des wahren Gentleman ausmacht. Eine solche Anregung des Ehrgefühls, die nur in einer sehr wohlfeilen Äußerlichkeit besteht, läßt zu leicht vergessen, daß der sittliche Mut des Mannes, der für das, was er als wahr und recht erkennt, unerschrocken, unbeugsam und uneigennützig in den Kampf der Meinungen und Interessen eintritt, hoch erhaben steht über allen Glorien der Mensur und allen Heldentaten des Klopffechters. Und man hat nur zu oft die Erfahrung gemacht, daß die kampflustigsten Studenten gerade dieses echten und höheren Mutes bar, im spätern Leben die servilsten Augendiener wurden, dabei aber immer noch mit den Schmarren im Gesicht als Zeichen ihrer Tapferkeit paradierten. Es hat sich auf natürlichste Weise in dieser Klasse jenes grundsatzlose „Strebertum“ ausgebildet, das in dem Wettbewerb um Stellung und Beförderung sich nicht auf das eigene Wissen und Können, sondern auf gesellschaftliche Verbindung und die Protektion der Mächtigen verläßt und so, was es an Erfolg gewinnt, an Charakter verlieren muß.

Dies war die Ansicht über das Duell, die zu meiner Zeit in der Burschenschaft Frankonia vorherrschte, und es ist gewiß, daß es uns dabei nicht an Ehr- und Selbstgefühl fehlte. Solche Grundsätze verhinderten uns jedoch keineswegs, die Leibesübung zu pflegen, die der Fechtboden bietet, und nicht wenige von uns wären fähig gewesen, sich auch auf der Mensur Respekt zu verschaffen. Ich muß sogar gestehen, daß mir die Fechtschule besonderes Vergnügen machte, und Spielhagen rühmt mir in seinen Memoiren nach, daß ich „eine ebenso gewandte wie wuchtige Klinge führte“. Die Versuchung, mit der erlernten Kunst gelegentlich im Zweikampf einen Unverschämten abzustrafen, lag nahe, aber ich freue mich, dieser Versuchung gewissenhaft widerstanden zu haben. Übrigens trat mir diese Versuchung auch nur einmal recht unmittelbar in den Weg. Eines Abends rannte mich auf dem Markt ein angetrunkener Korpsbursch an, offenbar mit der Absicht, mich zu einer Forderung zu provozieren. Einen Augenblick hatte ich mich zu überwinden, gewann aber dann Besonnenheit genug, ihm ruhig ins Gesicht zu sehen und zu sagen: „Ach, lassen wir doch diese Kinderei!“ Das schien ihn zu verblüffen, denn ohne ein weiteres Wort trollte er sich von dannen.

Sonst übten wir nach Herzenslust die Gebräuche und genossen die Vergnügungen, die dem deutschen Studentenleben eigentümlich sind. Wir trugen mit Stolz unsere Verbindungsfarben auf unseren Mützen und Bändern. Wir „kneipten“ mit Maß und sangen. Wir hatten unsere Kommerse und gingen durch die üblichen Zeremonien mit gebührlicher Feierlichkeit. Wir schoben Kegel und machten unsere Ausflüge nach den umliegenden Dörfen, und es war keine gelehrte Ziererei, sondern eine wirkliche Belustigung, wenn bei solchen Gelegenheiten einige von uns, die ihren Homer besonders fleißig studiert hatten, sich auf Griechisch in homerischen Versen unterhielten, die sie in launiger Weise auf das anwendeten, was man eben tat oder beobachtete. Auch „Spritztouren“ weiter den Rhein hinauf und in die reizenden Nebentäler [67] erlaubten wir uns, und gesegnet sei das Andenken der Wirte, die nicht engherzig auf der sofortigen Bezahlung ihrer Rechnungen bestanden, gesegnet vor allem das Andenken des biederen Nathan in St. Goarshausen, im Schatten der Loreley, der jeden Frankonen bei sich aufnahm und hegte und pflegte, als wär er sein eigenes Kind. Und wie schwelgten wir in der Poesie der jugendlichen Freundschaften, die mehr als alles andere die jungen Jahre so glücklich machten. Der gereifte Mann soll sich niemals der idealen Schwärmerei schämen, die ihn einst den Arm um die Schulter des Freundes legen und von unzertrennlicher Brüderlichkeit träumen ließ. So werde ich mich auch der Tränen nicht schämen, die ich so reichlich wie irgend ein anderer vergoß, wenn am Schluß des Semesters einzelne Mitglieder unseres Kreises auf Nimmerwiederkehr davonziehen mußten, und wenn dann beim Abschiedstrunk die Gläser zum letzten Male erklangen und das Lied gesungen wurde:

„Wohlauf noch getrunken
Den funkelnden Wein!
Ade nun ihr Lieben,
Geschieden muß sein!“

Ich erinnere mich mehr als eines Abschiedes, bei dem die letzten Strophen des Liedes vor Schluchzen nicht mehr hervorwollten. Noch jetzt kann ich dieses Lied nicht hören, ohne daß es mir mit tiefer Rührung das Herz ergreift, denn ich sehe noch die lieben Gesellen vor mir, wie sich beim Scheiden ihre Augen füllten und sie einander wieder und wieder in die Arme fielen. O diese sorglose, sonnige, idealisch schwärmerische Jugendzeit mit ihren Freunden und Freuden! Wie schnell wurde sie mir von dem bittern Ernst des Lebens überschattet!

Es war am Anfang des Wintersemesters von 1847/48, daß ich den Professor Gottfried Kinkel kennen lernte – eine Bekanntschaft, die für mein späteres Leben von sehr großer Bedeutung werden sollte. Kinkel hielt Vorlesungen über Literatur und Kunstgeschichte, von denen ich eine besuchte. Ebenso nahm ich teil an einem von ihm geleiteten Kursus rhetorischer Übungen. Dies brachte uns in nähere persönliche Berührung. Kinkel war am 11. August 1815 geboren, also zur Zeit, als ich ihm nahe kam, 32 Jahre alt. Er war der Sohn eines evangelischen Pfarrers in Oberkassel am Rhein; und ebenfalls für die theologische Laufbahn bestimmt, studierte er an den Universitäten von Bonn und Berlin. Im Jahre 1836 ließ er sich an der Bonner Universität als Privatdozent der Kirchengeschichte nieder, machte wegen geschwächter Gesundheit 1837 eine Reise nach Italien, wo er sich dem Studium der Kunstgeschichte hingab, und wurde nach seiner Rückkehr Hilfsprediger der evangelischen Gemeinde in Köln. Dahin reiste er jeden Sonntag von Bonn aus, um seine Predigten zu halten, die sich durch einen seltenen rednerischen Schwung auszeichneten. Inzwischen war auch seine Dichtergabe, die durch persönliche Berührung mit Simrock, Wolfgang Müller, Freiligrath und andern beständig neue Anregung empfangen, zur Geltung gekommen. Besonders sein romantisches Epos „Otto der Schütz“ gewann ihm einen bedeutenden Namen. In Köln lernte er die geschiedene Gattin des Buchhändlers Matthieux [68] kennen, eine Frau von außergewöhnlichen Geistesgaben. Auf einer Rheinfahrt, bei welcher der Kahn umschlug, rettete er sie aus den Wellen, und bald darauf, im Jahre 1843, heiratete er sie. Diese Verbindung mit einer geschiedenen katholischen Frau würde die Stellung des evangelischen Theologen unhaltbar gemacht haben, wäre dieselbe nicht schon durch seine ausgesprochene freisinnige Richtung untergraben gewesen. So gab denn Kinkel die Theologie auf und wurde 1846 an der Universität Bonn als außerordentlicher Professor der Kunst- und Kulturgeschichte angestellt.

Seinen Vorlesungen verlieh die interessante Persönlichkeit des Professors sowie sein fesselnder Vortrag einen besonderen Reiz. Kinkel war ein auffallend schöner Mann, von regelmäßigen Gesichtszügen und von herkulischem Körperbau, über sechs Fuß groß, strotzend von Kraft. Unter seiner von schwarzem Haupthaar beschatteten breiten Stirn leuchtete ein Paar dunkler Augen hervor, deren Feuer selbst durch die Brille, die er damals durch seine Kurzsichtigkeit zu tragen gezwungen war, nicht gedämpft wurde. Mund und Kinn waren von einem schwarzen Vollbart umrahmt. Kinkel besaß eine wunderbare Stimme – zugleich stark und weich, hoch und tief, gewaltig und rührend in ihren Tönen, schmeichelnd wie die Flöte und schmetternd wie die Posaune, als umfaßte sie alle Register der Orgel. In späteren Jahren hat man ihm vorgeworfen, daß in dem Gebrauch, den er von dieser Stimme machte, eine gewisse affektierte Effekthascherei zu bemerken sei. Das mag so gewesen sein, nachdem seine Kräfte angefangen hatten abzunehmen. Aber zu der Zeit seiner vollsten Jugendblüte, als ich ihn zuerst hörte, war es gewiß nicht so. Da klang diese Stimme wie eine Naturkraft, die von selbst aus ungesehenen Quellen entsprang und ohne Anstrengung und Absicht ihre Wirkung hervorbrachte. Ihm zuzuhören war ein musikalischer Genuß und ein intellektueller zugleich. Eine durchaus ungesuchte, natürliche und daher ausdrucksvolle und graziöse Gestikulation begleitete die Rede, die in gehaltvollen, wohlgeordneten und häufig poetisch angehauchten Sätzen dahinfloß und auch trockenen Gegenständen einen anziehenden Reiz verlieh.

Als sich nun Kinkel erbot, seine Schüler in die Kunst des Redens einzuweihen, ergriff ich diese Gelegenheit des Lernens mit Begierde. Er hielt uns keine theoretischen Vorlesungen über Rhetorik, sondern begann sofort damit, uns bedeutende Muster vorzuführen, zu erklären und uns daran zu üben. Als solche Muster wählte er unter anderen größere rednerische Passagen aus den Dramen Shakespeares, und so wurde mir die Aufgabe, die berühmte Leichenrede des Marcus Antonius in Julius Cäsar in ihrer Bedeutung zu erklären, die beabsichtigten Effekte und die Mittel, mit welchen diese erreicht werden sollten, darzulegen und schließlich die ganze Rede deklamatorisch, oder vielmehr rednerisch, vorzutragen. Mit meiner Lösung dieser Aufgabe sprach Kinkel seine Zufriedenheit aus und lud mich dann ein, ihn in seinem Hause zu besuchen. Sogleich folgte ich dieser Einladung, und trotz meiner noch immer nicht ganz überwundenen Schüchternheit entwickelte sich bald zwischen dem Lehrer und dem Schüler ein freundschaftliches Verhältnis. Es war in der Tat nicht schwer, sich mit Kinkel einzuleben. [69] Er besaß in hohem Maße die heitere Ungebundenheit des Rheinländers. Er liebte es, den Professor beiseite zu legen und im Familien- und Freundeskreise sich in zwangloser Fröhlichkeit gehen zu lassen. Er leerte sein Glas Wein, lachte über einen guten, oder auch gar einen schlechten Spaß herzlich und laut, zog aus allen Lebensverhältnissen soviel Freude, wie daraus zu ziehen war, und grämte sich möglichst wenig, wenn sich ihm das Schicksal unfreundlich erwies. So fühlte man sich bald vertraut und heimisch in seiner Gesellschaft. Gegner hatte er freilich auch. Diese rechneten es ihm als Charakterfehler an, daß er „eitel“ sei. Aber wer ist das nicht – jeder in seiner Weise? Eitelkeit ist die gewöhnlichste und natürlichste aller Charakterschwächen, und zugleich auch die unschädlichste und verzeihlichste, wenn sie unter dem Einflusse eines gesunden Ehrgeizes steht. Ins Maßlose getrieben, wird sie lächerlich und straft sich selbst. So hat’s mich eine lange Lebenserfahrung gelehrt.

Nichts hätte anmutender sein können, als Kinkels Familienleben. Frau Johanna war durchaus nicht schön. Ihre mittelgroße Figur war breit und platt; Hände und Füße, wenn auch nicht besonders groß, doch unzierlich geformt; die Gesichtsfarbe dunkel; die Züge grob und ohne weiblichen Reiz. Dazu verstand sie gar nicht, sich zu kleiden. Ihre Kleider waren gewöhnlich ein wenig zu kurz, so daß ihre breiten Füße, die fast immer in weißen Strümpfen steckten und mit gekreuzten Schuhbändern geschmückt waren, mehr als wünschenswert Aufmerksamkeit auf sich zogen. Aber aus ihren stahlblauen Augen strahlte eine dunkle Glut, die auf Ungewöhnliches deutete. In der Tat, der Eindruck des Unschönen verschwand sofort, wenn sie zu sprechen anfing. Auch dann schien sie zuerst noch von der Natur vernachlässigt zu sein; denn ihre Stimme hatte etwas Heiseres und Trockenes. Aber was sie sagte, pflegte den Zuhörer sofort zu fesseln. Nicht allein sprach sie über viele Gegenstände höherer Bedeutung mit tiefem Verständnis, großem Scharfsinn und auffallender Klarheit, sondern sie wußte auch gewöhnlichen Dingen, alltäglichen Vorkommnissen, durch ihre lebendige, geistvolle Darstellungsgabe ein eigentümliches Interesse zu verleihen. Und immer ließ sie das Gefühl zurück, daß hinter dem, was sie sagte, noch ein großer Reichtum von Kenntnissen und Gedanken aufgespeichert sei. Dazu besaß auch sie den munteren rheinischen Humor, der allen Dingen gern ihre scherzhafte Seite abgewinnt und unter allen Umständen das Genießbare des Lebens hervorsucht. Sie hatte eine ungemein gründliche musikalische Bildung genossen und spielte das Klavier mit Meisterschaft. Ich habe Beethovensche und Chopinsche Kompositionen selten so vollendet wiedergeben hören wie von ihr. Man konnte von ihr sagen, daß sie die Grenzlinie, die den Dilettantismus von der wahren Künstlerschaft scheidet, weit überschritten hatte. Sie komponierte ebenso reizend, wie sie spielte. Obgleich ihre Stimme kein Klangmetall besaß und sie im Singen die Töne scheinbar nur andeuten konnte, sang sie doch mit ergreifender Wirkung. Sie verstand wirklich die Kunst, ohne Stimme zu singen.

Wer nun diese beiden äußerlich so verschiedenen Menschen in ihrem häuslichen Leben beisammen beobachtete, der mußte den Eindruck [70] empfangen, daß sie aneinander ihre herzliche Freude hatten und die Kämpfe des Lebens mit einer Art von herausfordernder Heiterkeit zusammen durchkämpften. Noch stärker wurde dieser Eindruck, wenn man ihr Glück über die Kinder sah, mit denen ihre Ehe gesegnet war. Auch bildete das Kinkelsche Haus den Mittelpunkt eines Kreises geistesverwandter Menschen, deren gesellige Stunden an geistvoller Fröhlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Es waren dies durchweg Männer und Frauen von freisinniger Denkart auf dem religiösen wie dem politischen Gebiet, die denn auch ihre Meinungen mit kecker Ungebundenheit auszusprechen liebten. An Stoff fehlte es in jenen Tagen nicht.

Die Revolte, die infolge der Ausstellung und Anbetung des sogenannten „heiligen Rocks“ in Trier unter den Katholiken ausgebrochen war und die deutsch-katholische Bewegung hervorgebracht hatte, stand noch in Blüte und gab auch unter den Protestanten dem Drang nach Denk- und Lehrfreiheit neue Anregung. Auch auf dem politischen Felde wehte ein scharfer Luftzug. Die traurige Selbstironie, die öde Kannegießerei vergangener Tage hatte dem Streben Platz gemacht, klar gesteckte Ziele ins Auge zu fassen, und auch dem Glauben, daß dieselben erreichbar seien. Man fühlte das Kommen großer Veränderungen, wenn man auch nicht erkannte, wie nahe es schon bevorstand. In dem Kinkelschen Kreise nun hörte ich manches klar ausgesprochen, was mir bis dahin nur mehr oder minder nebelhaft vorgeschwebt hatte. Ein Rückblick auf den damaligen politischen Geistes- und Gemütszustand der Klasse von Deutschen, zu denen ich gehörte, mag dazu dienen, deren Haltung in den Bewegungen, die dem Jahre 1848 vorangingen, verständlich zu machen.

Das patriotische Herz verweilte gern bei der Erinnerung an das heilige römische Reich deutscher Nation, das einst in seiner Blüte der bekannten Welt Gesetze vorgeschrieben. Aus dieser Erinnerung entsprang dann jene Kyffhäuserromantik mit ihren Zukunftsträumen von der Wiedergeburt deutscher Macht und Herrlichkeit, die für die Jugend einen so poetischen Reiz hatte. Mit Scham gedachte man der Zeit der nationalen Zerissenheit und des öden Absolutismus nach dem dreißigjährigen Kriege, als deutsche Fürsten, alles nationalen Gefühles bar, stets bereit standen, den Interessen und dem Ehrgeiz des Auslandes zu dienen, ja ihre eigenen Untertanen zu verkaufen, um mit dem Erlös den Luxus ihrer liederlichen Hofhaltung zu bestreiten; und mit gleicher Scham der Rheinbundsperiode, als eine Reihe deutscher Fürsten, die von Bayern, Sachsen und Württemberg an der Spitze, bloße Vasallen Napoleons wurden; als ein Teil Deutschlands dazu diente, den andern Teil dem verhaßten Fremdling zu Füßen zu legen, und als der Kaiser des hoffnungslos zerfallenen Reiches im Jahre 1806 seine Krone niederlegte und deutscher Kaiser und deutsches Reich auch dem Namen nach aufhörten zu sein.

Dann kam nach langer, leidenvoller Erniedrigung die große Volkserhebung gegen die napoleonische Zwingherrschaft im Jahre 1813, und mit ihr die Geburt des neuen deutschen Nationalgefühls. An dieses Nationalgefühl appellierte das berühmte Manifest von Kalisch, in dem der König von Preußen in Verbindung mit dem russischen Kaiser das [71] deutsche Volk zu den Waffen rief und ihm zugleich eine neue und wehrhafte nationale Einigung und Beteiligung des Volkes an dem Geschäfte des Regierens in konstitutionellen Formen in Aussicht stellte. Die Wiedergeburt eines einigen deutschen Nationalreichs, Aufhören der absoluten Willkürherrschaft durch Einführung volkstümlicher Regierungsinstitutionen im Innern – das war das Versprechen des preußischen Königs, wie das Volk es verstand –, das war die Hoffnung, mit der das Volk in den Kampf ging, den es dann mit begeistertem Heldenmut und einer Opferwilligkeit ohne Grenzen siegreich durchkämpfte.

Aber mit dem Siege kam wieder eine Periode bitterer Enttäuschung. Gegen eine einheitliche Reichsverfassung Deutschlands erhob sich nicht nur die Eifersucht des außerdeutschen Europa, sondern auch die Souveränitätsgelüste der kleineren deutschen Fürsten, besonders derer, die als Mitglieder des Rheinbundes in ihrem Range erhöht worden waren; und dazu die selbstsüchtig intrigierende Politik Österreichs, das mit seinen außerdeutschen Besitzungen einen außerdeutschen Ehrgeiz hatte, oder vielmehr von einem außerdeutschen Eigennutz inspiriert wurde. Und diese österreichische Politik wurde geleitet von dem Fürsten Metternich, dem jede Regung deutschen Patriotismus ebenso fremd war, wie er jeden freiheitlichen Gedanken haßte und das Volk als solches fürchtete. So brachten denn die Friedensschlüsse dem deutschen Volk nicht annähernd den verdienten und gehofften Lohn für seine Opfer, und aus dem Wiener Kongreß, der, um Europa auf unabsehbare Zeit eine feste Gestalt zu geben, den Völkerschacher im großen betrieb, ging für die deutsche Nation nichts hervor, als ein Allianzvertrag zwischen den deutschen Staaten, „der deutsche Bund“, mit seinem Organ, dem „Bundestag“, einer Versammlung der Bevollmächtigten der verschiedenen Regierungen ohne die geringste Spur einer Vertretung der Stände oder des Volks. Von einer Garantie und Verwirklichung bürgerlicher Rechte, Preßfreiheit, Versammlungsrecht, öffentlicher Rechtspflege war nicht die Rede. Im Gegenteil, der Bundestag, ohnmächtig als eine Vertretung der Nation nach außen, entwickelte sich nur zu einer gegenseitigen Versicherungsgesellschaft absolutistischer Regierungen, zu einer zentralen Polizeibehörde für die Unterdrückung jeder nationalen oder freiheitlichen Regung im Innern.

Der König von Preußen, Friedrich Wilhelm III., hatte unzweifelhaft die in den Tagen der Not und des nationalen Aufschwungs gemachten Versprechen ehrlich gemeint. Aber seine beschränkte Hausvaternatur, sich selbst eines redlichen Willens bewußt, war leicht geneigt, eine möglichst unbeschränkte Autorität seinerseits als notwendig für das Heil der Welt anzusehen. Jedes Streben im Volke nach freien Staatseinrichtungen stellte sich ihm als ein Angriff auf diese absolute Autorität und somit als ein revolutionärer Exzeß dar, und die bloße Äußerung des Wunsches, daß die 1813 gemachten Versprechungen erfüllt werden sollten, war ihm, da er darin eine rebellische Anmaßung des Untertanen sah, Grund genug, diese Erfüllung aufs Ungewisse hinauszuschieben. So wurde er, unbewußt vielleicht, zum Werkzeuge Metternichs, des bösen Genius Deutschlands. Das Ergebnis war eine Periode stupider Reaktion, eine Periode von Ministerkonferenzen zur Vereinbarung despotischer [72] Maßregeln, von grausamen Demagogenverfolgungen, barbarischen Preßknebeleien, brutaler Polizeiwillkür, zuweilen unterbrochen von liberalen Anläufen in einigen der kleineren Staaten, denen dann noch empörendere Repressionsmaßregeln von Bundes wegen zu folgen pflegten. Und darüber schwebte der Bundestag, die angebliche Verkörperung deutscher Einheit, als wirkliche Verkörperung der bundesmäßig organisierten Polizeiwillkür. So waren die Opfer und der Heldenmut des deutschen Volkes in dem Kampf um nationale Unabhängigkeit belohnt, so die schönen Verheißungen des Jahres 1813 erfüllt worden. Es war eine Zeit tiefster Entwürdigung. Selbst der Franzose, der die Wucht der deutschen Waffen gefühlt, verspottete, nicht ohne Grund, die klägliche Demütigung des Siegers. Der Deutsche war versucht, sein Vaterland zu verachten. Er ironisierte sich selbst.

Die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. im Juni 1840 erweckte neue Hoffnungen. Er war als Mann von Geist bekannt und hatte als Kronprinz schöne Erwartungen erregt. Man hielt ihn für unfähig, die starre Politik seines Vaters weiterzuführen. Es war auch gerade damals, als die Bedrohung der Rheingrenze durch das französische Ministerium Thiers das deutsche Nationalgefühl wieder einmal mächtig aufbrausen machte, und dann das von millionenstimmigem Chor gesungene Lied „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein!“, wie dreißig Jahre später die „Wacht am Rhein“, den Franzosen drohend entgegenschallte. In der Tat schienen des neuen Königs erste Äußerungen und die Berufung bedeutender Männer zu hohen Stellen die Hoffnung zu ermutigen, daß er ebenso national gesinnt sei wie der patriotischste Teil des deutschen Volkes, und daß die liberalen Strömungen der Zeit in ihm Verständnis und Würdigung finden würden. Eine neue Enttäuschung folgte. Sobald die Forderung hervortrat, daß nun endlich das alte Versprechen der Einführung einer Repräsentationsverfassung erfüllt werden sollte, änderte sich des Königs Ton. Diese Forderung wurde schroff von ihm zurückgewiesen und die Zensur mit erneuter Strenge gegen die Presse gehandhabt. Friedrich Wilhelm IV. war von einem mystischen Glauben an die absolute Königsgewalt von Gottes Gnaden erfüllt. Er hegte romantische Phantasien, die ihn für manche der politischen und sozialen Institutionen des Mittelalters mehr einnahmen als für die Forderungen der Neuzeit. Er hatte Einfälle, aber keine Überzeugungen; Launen, aber keine echte Willenskraft; Witz, aber keine Weisheit. Er besaß den Ehrgeiz, etwas Bedeutendes tun zu wollen, um seinen Namen in die Weltgeschichte zu zeichnen. Aber während er sich und das Volk über allerlei Projekte unterhielt, wollte er doch im wesentlichen alles beim alten lassen. Er glaubte dem Volke den Schein eines Anteils an der Regierung bieten zu können, ohne jedoch die Allgewalt seiner Krone im geringsten zu schmälern. Aber diese Versuche endeten wie alle ähnlichen, von andern Monarchen zu andern Zeiten gemachten. Das Scheinbare und Ungenügende, das er gab, diente nur dazu, bei dem Volke das Verlangen nach dem Wesenhaften und Zulänglichen zu verstärken und zu erhitzen. Revolutionen beginnen oft mit Scheinreformen. Die Provinziallandtage, die der König berief in der Erwartung, daß sie sich bescheiden auf die [73] ihnen vorgeschriebenen Aufgaben beschränken würden, petitionierten heftig um erweiterte Vertretung des Bürger- und Bauernstandes und um Preßfreiheit. Die 1842 eingerichteten „ständischen Ausschüsse“, welche die Stelle einer einheitlichen Volksvertretung einnehmen, aber nur sehr beschränkte Befugnisse haben sollten, machten die Nichterfüllung des alten Versprechens einer wirklichen Repräsentationsverfassung nur um so fühlbarer und dem Volksgeiste klarer. Das Experiment des Scheinbar-Gebens und Alles-Behaltens konnte nur kläglich mißlingen. Die Petitionen der Provinziallandtage um Preßfreiheit, Schwurgericht und Landesverfassung wurden immer dringlicher. Es half nichts, daß die königliche Regierung diese Petitionen ärgerlich zurückwies, daß sie die Zensur noch mehr verschärfte, daß sie, um die schon erwähnten liberalen religiösen Bewegungen zu dämpfen, die Schulen unter die strengste Kontrolle stellte und frommgläubige Lehrer und entsprechende Lehrbücher an die Stelle von freisinnigeren setzte; daß sie die Lehrfreiheit der Universitäten verkümmerte und selbst die Richter durch Disziplinargesetze zu unterjochen suchte. Die Unzufriedenheit wurde allmählich so allgemein, der Sturm der Petitionen so heftig, das Widerstreben des Volkes gegen den Polizeidespotismus, wie er sich in einzelnen Konflikten, in Köln und Königsberg, betätigte, so drohend, daß die alte Parade der absoluten Königsgewalt nicht mehr ausreichen wollte und ein neuer Schritt auf dem Wege liberaler Neuerung durchaus notwendig schien.

So entschloß sich denn König Friedrich Wilhelm IV. den „Vereinigten Landtag“, eine aus den Mitgliedern der sämtlichen Provinziallandtage bestehende Versammlung, auf den 11. April 1847 nach Berlin zu berufen. Aber es war wieder das alte Spiel. Diese Versammlung sollte ein Parlament vorstellen und doch keines sein. Ihre Berufung sollte für immer ganz von dem Belieben des Königs abhängen. Ihre Befugnisse wurden auf das ängstlichste beschränkt. Sie sollte keine Gesetze machen und keinerlei bindende Beschlüsse fassen können. Sie sollte dem König nur als „Beirat“ bei seinen Entschließungen dienen und ihre Wünsche ihm gegenüber nur im Wege der Petition ausdrücken. In der Rede, mit welcher der König den „Vereinigten Landtag“ eröffnete, erklärte er nachdrücklich, dies sei nun das Äußerste, zu dem er sich verstehen werde; er könne nie und nimmer das Eindrängen eines „beschriebenen Blatts Papier“, einer geschriebenen Konstitution, zwischen Fürst und Volk zugeben; daß Volk selbst wolle nicht das Mitregieren von Repräsentanten; die Vollgewalt der Könige dürfe nicht gebrochen werden; „die Krone solle nach den Gesetzen Gottes und des Landes und nach eigener freier Bestimmung herrschen; sie könne und dürfe nicht nach dem Willen von Majoritäten regieren“; und er, der König, würde die Versammlung nie berufen haben, hätte er nur den geringsten Zweifel gehegt, daß ihre Mitglieder „ein Gelüst hätten nach der Rolle sogenannter Volksrepräsentanten“. Dies sollte nun ausgesprochenerweise die Erfüllung, „und mehr als die Erfüllung“ der in der Zeit der Not gegebenen Versprechungen darstellen.

Allgemeine Enttäuschung und erhöhte Unzufriedenheit folgten dieser Verkündigung. Aber die von dem Könige gemachte Konzession bedeutete [74] doch viel mehr, als er selbst wohl berechnet hatte. Wer mit absoluter Gewalt regieren will, der darf keine öffentliche Diskussion der Politik und Handlungen der Regierung durch Männer gestatten, die dem Volk näher stehen. Der Vereinigte Landtag konnte allerdings nicht beschließen, sondern nur debattieren. Aber daß er debattieren konnte, und daß diese Debatten tagtäglich durch getreue Zeitungsberichte in die Intelligenz des Landes übergingen, das war eine Neuerung von unberechenbarer Tragweite. Die Haltung des Vereinigten Landtages, auf dessen Bänken sich manche Männer von ungemeiner Fähigkeit und freisinnigen Grundsätzen zusammenfanden, war durchaus würdig, besonnen und maßvoll. Aber der Kampf gegen den Absolutismus begann sogleich, und das Volk folgte ihm mit erregter Teilnahme. Es geschah, was in der Weltgeschichte schon oft geschehen ist: jeder Schritt vorwärts brachte dem Volke die Notwendigkeit weiterer Schritte vorwärts zu lebhafterem Bewußtsein. Und als nun der König, sich der wachsenden Bewegung entgegenstemmend, die gemäßigsten Forderungen des Vereinigten Landtags mit schroffen Worten abschlug und die Versammlung „ungnädig“ entließ, da war die öffentliche Stimmung durch die Regierung selbst in die Bahn gelenkt worden, in der revolutionäre Gedanken wachsen. Einzelne revolutionäre Köpfe hatte es zwar schon lange gegeben. Aber in ihrer Isolierung hatten sie als Träumer gegolten und konnten nur geringe Gefolgschaft gewinnen. Jetzt aber verbreitete sich in weiten Kreisen das Gefühl, daß ein wirkliches Gewitter im Anzuge sei, wenn auch fast niemand die Schnelligkeit seines Kommens voraussah. Früher hatte man sich über das aufgeregt, was Thiers und Guizot in den französischen Kammern, oder Palmerston und Derby im englischen Parlament, oder gar was Hecker, Rotteck und Welcker in der kleinen badischen Landesversammlung sagten. Jetzt lauschte man mit nervöser Begierde jedem Wort, das im Vereinigten Landtag des bedeutendsten deutschen Staates von den Lippen Camphausens, Vinckes, Beckeraths, Hansemanns und anderer liberaler Führer fiel, und es lag ein Gefühl in der Luft, als ob dieser Vereinigte Landtag in seiner Stellung und Aufgabe der französischen Nationalversammlung des Jahres 1789 nicht ganz unähnlich sei. Im Kinkelschen Kreise waren diese Dinge oft Gegenstand lebhafter Besprechung.

Wir Studenten brachten diesen Ereignissen wohl weniger klares Verständnis, aber nicht geringeres Interesse entgegen, als die älteren Leute. Die Burschenschaft hatte ja auch ihre politische Tradition. In den Jahren unmittelbar nach den Befreiungskriegen hatte sie in erster Linie den Ruf nach der Erfüllung der gegebenen Versprechungen erhoben. Sie hatte mit Eifer den nationalen Sinn gepflegt, wenn dieser Eifer auch zuweilen in eine töricht-übertriebene Deutschtümelei ausartete. In den sogenannten Demagogenverfolgungen hatte sie eine ansehnliche Zahl der Opfer gestellt. Die politische Tätigkeit der alten Burschenschaft war allerdings von den jüngeren Verbindungen nicht fortgesetzt worden; aber „Gott, Freiheit, Vaterland“ war doch die Devise geblieben; man trug das verbotene schwarz-rot-goldene Band noch unter der Weste, und viele Mitglieder der neuen burschenschaftlichen Verbindungen erkannten es als ihre Pflicht an, der Tradition getreu, sich [75] von allem, was in der politischen Welt vorging, wohl unterrichtet zu halten und daran einen regen Anteil zu nehmen. So fanden denn die liberalen Bewegungen der Zeit in uns begeisterungsfähige Parteigenossen, wenn auch wir jungen Leute über das, was praktisch zu tun sei, nicht besonders klare Rechenschaft zu geben wußten.

Im Verfolg meiner Studien hatte ich mich mit großem Eifer auf die Geschichte Europas zur Zeit der Reformation geworfen. Ich dachte daraus in der Zukunft als Professor der Geschichte meine Spezialität zu machen. Die großen Charaktere jener Periode zogen mich mächtig an, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, einige davon dramatisch zu gestalten. So entwarf ich denn den Plan einer Tragödie, deren Hauptfigur Ulrich von Hutten sein sollte, und fing an, einzelne Szenen davon auszuarbeiten. Am Anfang des Wintersemesters 1847–48 hatte ich einen jungen Studenten aus Detmold kennen lernen, der zwar nicht in die Frankonia eingetreten war, aber sich doch als „Mitkneipant“ zu der Verbindung hielt. Er hieß Friedrich Althaus. Mehr als irgend ein anderer Mensch meiner Bekanntschaft entsprach er der Vorstellung, die man sich von einem idealen deutschen Jüngling macht. Er war eine durchaus reine und edle Natur und dazu reich mit geistigen Gaben ausgestattet. Da wir so ziemlich dieselben Studien verfolgten, so fanden wir uns leicht. Wir wurden eng miteinander befreundet, und diese Freundschaft ist lange über die Universität hinaus gleich warm geblieben. Ihm vertraute ich mein Huttengeheimnis an, und er ermutigte mich, meinen Plan auszuführen. Glücklich waren die Stunden, wenn ich ihm vorlas, was ich geschrieben und er mir darüber sein gewöhnlich viel zu günstiges Urteil gab. So verging der größte Teil des Winters in angeregten, genußreichen und auch ersprießlichen Bestrebungen. Da kam plötzlich ein gewaltiger Schicksalssturm, der mich wie so viele andere mit unwiderstehlicher Macht aus allen vorausgeplanten Bahnen riß.




Fünftes Kapitel.

Das Jahr der Revolution.

Eines Morgens gegen Ende Februar 1848 – wenn ich mich recht erinnere, war es ein Sonntagmorgen – saß ich ruhig in meinem Dachzimmer, am Ulrich von Hutten arbeitend, als plötzlich einer meiner Freunde fast atemlos zu mir hereinstürzte und rief: „Da sitzest Du! Weißt Du es denn noch nicht?“

„Nun, was denn?“

„Die Franzosen haben den Louis Philipp fortgejagt und die Republik proklamiert!“

Ich warf die Feder hin – und der Ulrich von Hutten ist seitdem nie wieder berührt worden. Wir sprangen die Treppe hinunter, auf die Straße. Wohin nun? Nach dem Marktplatz. Dort pflegten die Mitglieder der Korps und der Burschenschaften jeden Tag unmittelbar [76] nach dem Mittagessen zusammenzukommen, jede Gesellschaft an ihrer bestimmten Stelle, um zu verabreden, was des Nachmittags etwa unternommen werden solle. Aber es war nun erst Vormittag, die regelmäßige Versammlungsstunde noch nicht gekommen. Nichtsdestoweniger wimmelte der Markt von Studenten, alle, wie es schien, von demselben Instinkt getrieben. Sie standen in Gruppen zusammen und sprachen eifrig; kein Geschrei, nur aufgeregtes Gerede. Was wollte man? Das wußte wohl niemand? Aber da nun die Franzosen den Louis Philipp fortgejagt und die Republik proklamiert hatten, so mußte doch auch gewiß hier etwas geschehen. Einige Studenten hatten ihre „Schläger“, wohl die harmloseste aller Waffen, mit sich auf den Markt gebracht, als hätte es augenblicklich gegolten, anzugreifen oder sich zu verteidigen. Man war von einem vagen Gefühl beherrscht, als habe ein großer Ausbruch elementarer Kräfte begonnen, als sei ein Erdbeben im Gange, von dem man soeben den ersten Stoß gespürt habe, und man fühlte das instinktive Bedürfnis, sich mit andern zusammenzuscharen. So wanderten wir in zahlreichen Banden umher – auf die Kneipe, wo wir es jedoch nicht lange aushalten konnten – zu andern Vergnügungsorten, wo wir uns mit wildfremden Menschen ins Gespräch einließen und auch bei ihnen dieselbe Stimmung des verworrenen, erwartungsvollen Erstaunens fanden; dann auf den Markt zurück, um zu sehen, was es da geben möge; dann wieder anderswohin, und so weiter, ziellos und endlos, bis man endlich tief in der Nacht, von Müdigkeit übermannt, den Weg nach Hause fand.

Am nächsten Tage sollte man zu den gewöhnlichen Vorlesungen gehen. Man versuchte es auch mit der einen oder andern. Aber was wollte das nützen? Die eintönig dröhnende Stimme des Professors klang wie aus einer weiten Entfernung herüber. Was er sagte, schien uns nichts anzugehen. Die Feder, die nachschreiben sollte, lag still. Endlich schlug man seufzend das Heft zu mit dem Gefühl, daß man jetzt Wichtigeres zu tun, sich dem Vaterland zu weihen habe. Und das tat man, indem man möglichst schnell wieder die Gesellschaft der Freunde aufsuchte, um das was geschehen war und was kommen müßte, weiter zu besprechen. In diesen Gesprächen arbeiteten sich nun bald auch die Schlagworte durch, die den allgemeinen Drang des Volksgeistes ausdrückten. Jetzt sei der Tag gekommen, die „deutsche Einheit“ zu gewinnen und ein großes, mächtiges „deutsches Nationalreich“ zu gründen. In erster Linie die Berufung eines Nationalparlaments. Dann kam die Forderung der bürgerlichen Rechte und Freiheiten, freie Rede, freie Presse, freies Versammlungsrecht, Freizügigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, freigewählte Volksvertretung mit gesetzgebender Gewalt, Minister-Verantwortlichkeit, Selbstverwaltung der Gemeinden, Bewaffnung des Volkes, Bürgerwehr mit selbstgewählten Offizieren usw. – kurz das, was man ein „konstitutionelles Regierungswesen auf breiter demokratischer Grundlage“ nannte. Republikanische Ideen wurden zuerst nur spärlich laut. Man schwärmte vielmehr für das deutsche Kaisertum mit all seinem Nimbus von Kyffhäuserpoesie. Aber das Wort Demokratie war bald vielen Zungen geläufig, und ebenso hielten viele es für selbstverständlich, daß, wenn die Fürsten versuchen sollten, dem [77] Volke die geforderten Rechte und Freiheiten vorzuenthalten, Gewalt an die Stelle der Petition treten müsse. Freilich sollte die politische Regeneration des Vaterlandes zuerst auf friedlichem Wege erstrebt werden.

Wenige Tage nach dem Ausbruch dieser Bewegung wurde ich neunzehn Jahre alt. Ich erinnere mich, von dem, was vorging, so gänzlich erfüllt gewesen zu sein, daß ich meine Gedanken kaum etwas anderem zuwenden konnte. Ich war wie manche meiner Freunde von dem Gefühl beherrscht, daß endlich die große Gelegenheit gekommen sei, dem deutschen Volke seine Freiheit und dem deutschen Vaterlande seine Einheit und Größe wieder zu gewinnen, und daß es nun die erste Pflicht eines jeden Deutschen sei, alles zu tun und alles zu opfern für diesen heiligen Zweck. Es war uns tiefer, feierlicher Ernst darum.

Der erste Dienst, den die neue Zeit uns auferlegte, hätte kaum lustiger sein können. Kurz nachdem die Nachricht von den revolutionären Ereignissen in Frankreich gekommen war, fing der Bürgermeister der Stadt Bonn an, zu fürchten, daß die öffentliche Sicherheit gefährdet sei. Freilich fielen trotz der allgemeinen Aufregung keine Ruhestörungen vor, aber der Bürgermeister, von allerlei Ängsten geplagt, bestand darauf, daß eine Bürgerwehr organisiert werden müsse, um des Nachts die Stadt und die nächste Umgegend abzupatrouillieren. Dieser Bürgerwehr beizutreten, wurden auch die Studenten aufgefordert, und da die Bürgerwehr auch auf unserem Programm stand, so leisteten wir dieser Aufforderung bereitwillig Folge. Ich meldete mich sogleich mit mehreren meiner Freunde; Studenten aus andern Kreisen taten dasselbe, und zwar in solcher Zahl, daß bald die Bürgerwacht großenteils aus Studenten bestand. Unsere Aufgabe war, Ruhestörer und verdächtige Individuen aufzugreifen und auf der Wache abzuliefern, Zusammenrottungen bösartiger Natur zum Auseinandergehen zu veranlassen, das Eigentum zu beschützen und überhaupt über die öffentliche Sicherheit zu wachen. Da nun in der Tat die öffentliche Sicherheit in keiner Weise bedroht war und das Patrouillieren in Stadt und Umgebung keinen ernsten Zweck hatte, so fanden die Studenten natürlich in der ganzen Sache eine Gelegenheit zu harmloser Belustigung. Mit „Schlägern“ bewaffnet, deren eiserne Scheiden man nach Kräften auf dem Pflaster rasseln ließ, zog man durch die Straßen. Jeder einzelne Bürger, den man in später Nacht draußen antraf, wurde in pomphaften Redensarten aufgefordert, auseinander zu gehen und sich nach seinen respektiven Wohnungen zu verfügen, oder, wenn ihm das besser gefiele, uns auf die Wachtstube zu begleiten und ein Glas mit uns zu trinken. Stießen wir einmal mit einer aus Bürgern bestehenden Patrouille zusammen, so wurde dieselbe unfehlbar als eine bösartige Zusammenrottung festgenommen und zur Wachstube gebracht, worauf dann ein fröhliches Verbrüderungsfest folgte. Und da die guten Bürgersleute auch den Humor der Situation leicht einsahen, so ließen sie sich den Spaß gern gefallen. Ein Hoch auf das „neue deutsche Reich“ und die „Konstitution auf breiter demokratischer Grundlage“ zu trinken, waren sie ebenso bereit wie wir.

Während dies lustig genug aussah, gestalteten sich sonst die Dinge sehr ernsthaft – so ernsthaft, wie es im Grunde des Herzens auch uns [78] zumute war. Von allen Seiten kamen aufregende Nachrichten. In Köln herrschte drohende Gärung. In den Wirtshäusern und auf den Straßen erklang die Marseillaise, die damals noch in ganz Europa als die allgemeine Freiheitshymne galt. Auf dem Domhof und dem Altenmarkt wurden große Versammlungen gehalten, um die Forderungen des Volkes zu beraten. Eine zahlreiche Deputation mit dem ehemaligen Artillerieleutnant August von Willich an der Spitze drang in den Saal des Stadtrats, von diesem verlangend, daß die Munizipalbehörde die in der Versammlung formulierten Forderungen des Volkes als ihre eigenen an den König befördere. Der Generalmarsch wurde geschlagen, das Militär schritt gegen die Volkshaufen ein, und Willich sowie ein anderer früherer Artillerieleutnant, Fritz Anneke, wurden verhaftet. Darauf immer größere Aufregung. Die rheinischen Mitglieder des Vereinigten Landtages beschworen den Oberpräsidenten der Provinz, dem König die sofortige Bewilligung der Forderungen des Volkes als das einzige Rettungsmittel vor blutigen Konflikten vorzustellen. In Koblenz, Düsseldorf, Aachen, Krefeld, Kleve und anderen rheinischen Städten fanden ähnliche Demonstrationen statt. In Süddeutschland – Baden, Rheinhessen, Nassau, Württemberg, Bayern – flammte der Geist der neuen Zeit wie ein Lauffeuer auf. In Baden bewilligte der Großherzog schon Anfang März alles Verlangte. In Württemberg, Nassau und Hessen-Darmstadt erlangte man dieselben Zusicherungen fast ebenso schnell. In Bayern, wo schon vor der französischen Februarrevolution die berüchtigte Lola Montez dem Zorn des Volkes hatte weichen müssen, folgte nun ein Auflauf dem andern, um den König Ludwig zu liberalen Zugeständnissen zu treiben. Der Kurfürst von Hessen-Kassel gab nach, als das Volk sich bewaffnet hatte und zur Empörung sich bereit zeigte. Die Gießener Studenten sagten bereitwillig den aufständischen Hessen ihre Hülfe zu. In Sachsen erzwang die trotzige Haltung der Bürgerschaft von Leipzig unter Robert Blums Führung das Nachgeben des Königs. Von Wien kam große Kunde. Die Studenten der Universität waren es dort, die den Kaiser von Österreich zuerst mit freiheitlichen Forderungen bestürmten. Blut floß, und der Sturz Metternichs war die Folge. Die Studenten organisierten sich als die bewaffnete Garde der Volksrechte. In den großen Städten Preußens war eine gewaltige Regung. Nicht allein Köln, Koblenz und Trier, sondern auch Breslau, Königsberg und Frankfurt a. O. sandten Deputationen nach Berlin, um den König zu bestürmen. In der preußischen Hauptstadt wogte das Volk auf den Straßen, und man sah entscheidungsvollen Ereignissen entgegen.

Während all diese Nachrichten wie ein gewaltiger von allen Seiten zugleich brausender Sturm auf uns hereinbrachen, war man in der kleinen Universitätsstadt Bonn auch eifrig damit beschäftigt, Adressen an den König abzufassen, sie zahlreich zu unterzeichnen und nach Berlin zu schicken. Am 18. März hatten auch wir unsere Massendemonstration. Eine große Volksmenge sammelte sich zu einem feierlichen Zuge durch die Straßen der Stadt. Die angesehensten Bürger, nicht wenige Professoren, eine Menge Studenten und eine große Zahl von Handwerkern und anderen Arbeitern marschierten in Reih und Glied. An der Spitze [79] des Zuges trug Kinkel eine schwarz-rot-goldene Fahne. Auf dem Marktplatz angekommen, bestieg er die Freitreppe des Rathauses und sprach zu der versammelten Menge. Er sprach mit wunderbarer Beredsamkeit in den vollsten Orgeltönen seiner Stimme von der wiedererstehenden deutschen Einheit und Größe und von der Freiheit und den Rechten des deutschen Volkes, die von den Fürsten bewilligt oder vom Volke erkämpft werden müßten. Und als er zuletzt die scharz-rot-goldene Fahne schwang und der freien deutschen Nation eine herrliche Zukunft voraussagte, da brach eine Begeisterung aus, die keine Grenzen kannte. Man klatschte in die Hände, man schrie, man umarmte sich, man weinte. Im Nu war die Stadt mit schwarz-rot-goldenen Fahnen bedeckt, und nicht nur die Burschenschaften, sondern fast jedermann trug bald die schwarz-rot-goldene Kokarde an Mütze oder Hut.

Während wir an jenem 18. März durch die Straßen marschierten, flogen plötzlich unheimliche Gerüchte von Mund zu Mund. Es war berichtet worden, daß der König von Preußen nach langem Zaudern sich entschlossen habe, gleich den anderen deutschen Fürsten, die von allen Seiten auf ihn einstürmenden Forderungen des Volkes zu bewilligen. Nun aber flüsterte man sich zu, das Militär habe plötzlich aufs Volk geschossen und es wüte ein blutiger Kampf in den Straßen von Berlin. Dies stellte sich später insofern als begründet heraus, als der Kampf in Berlin wirklich stattfand; aber sonderbarerweise war das Gerücht zu uns an den Rhein gekommen, ehe in Berlin der Kampf begonnen hatte.

Auf den Rausch des Enthusiasmus folgte nun eine kurze Zeit banger Erwartung. Man fühlte, daß ein Konflikt zwischen Volk und Heer große Entscheidungen bringen müsse. Endlich kam die volle Kunde von den Ereignissen in der Hauptstadt. Der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., hatte die Petitionen, die auf ihn einströmten zuerst mit verdrießlichem Schweigen empfangen. Er hatte seinen unumstößlichen Entschluß, niemals eine konstitutionelle Beschränkung seiner Königsgewalt zuzulassen, noch vor kurzem so ausdrücklich, ja so herausfordernd, kundgegeben, daß der Gedanke, einer drängenden Volkslaune Zugeständnisse zu machen, die seiner Meinung nach nur der Ausfluß eines durchaus freien Königswillens sein sollten, ihm schier unfaßlich war. Aber von Tag zu Tag gestaltete sich die Lage drohender. Nicht nur wuchs das Ungestüm der Forderungen, die von Deputationen aus allen Teilen des Landes dem König überbracht wurden, sondern man begann auch in Berlin, „unter den Zelten“, Volksversammlungen zu halten, denen viele Tausende zuströmten, um die Stichworte der liberalen Richtung, von feurigen Rednern ausgesprochen, mit brausendem Beifall zu begrüßen. Auch die Berliner Stadtverordneten, von der steigenden Strömung ergriffen, nahten dem Thron mit einer Adresse, die der König, wie es hieß, „gnädig“ aufnahm; aber seine Antwort war immer noch zu ausweichend und unbestimmt, als daß sie die Bittsteller hätte beruhigen können. Mittlerweile gab es blutige Zusammenstöße zwischen dem Volk, das in Massen auf den Straßen und öffentlichen Plätzen wogte, und dem Militär, das zur Verstärkung der Polizeimacht herangezogen war. Ein Kaufmann und ein Student wurden in einem solchen Getümmel von Soldaten getötet, und mehrere Personen, darunter einige [80] Frauen, verwundet. Die durch diese Vorfälle erregte bittere Stimmung wurde einigermaßen beschwichtigt durch das Gerücht, daß sich der König endlich zu wichtigen Zugeständnissen entschlossen habe, die am 18. März öffentlich verkündigt werden sollten. Er hatte sich in der Tat zu einem Erlaß verstanden, durch den die Preßzensur als abgeschafft erklärt und die Aussicht auf weitere liberale Reformen und auf eine der nationalen Einheit günstige Regierungspolitik eröffnet werden sollte.

Am Nachmittage des verhängnisvollen 18. März versammelte sich eine ungeheure Volksmasse auf dem freien Platz vor dem königlichen Schloß, um die glückliche Verkündigung zu hören. Der König erschien auf dem Balkon und wurde mit begeisterten Zurufen begrüßt. Er versuchte zur Menge zu sprechen, konnte aber nicht gehört werden. Doch da man allgemein glaubte, daß alle Forderungen des Volks bewilligt seien, so war man bereit zu einem Jubelfest. Da erhob sich ein Ruf, die Entfernung der Truppen fordernd, die um das Schloß her aufgestellt waren und den König von seinem Volk zu trennen schienen. Offenbar erwarteten die Versammelten, daß auch dieses Verlangen gewährt werden würde, denn mit großer Anstrengung wurde ein Durchgang für die Truppen durch die dichtgedrängte Menge eröffnet. Da erscholl ein Trommelwirbel, der jedoch zuerst für ein Signal zum Abzug der Truppen gehalten wurde. Aber, statt abzuziehen, drangen nun Linien von Kavallerie und Infanterie auf die Menge ein, offenbar zu dem Zweck, den Platz vor dem Schlosse zu säubern. Dann krachten zwei Schüsse von der Infanterie her, und nun wechselte die Szene plötzlich und furchtbar wie mit Zauberschlag.

Mit dem wilden Schrei: „Verrat! Verrat!“ stob die Volksmasse, die noch einen Augenblick vorher dem König zugejubelt hatte, auseinander, sich in die nächsten Straßen stürzend, und allenthalben erscholl der zornige Ruf: „Zu den Waffen! Zu den Waffen!“ Bald waren in allen Richtungen die Straßen mit Barrikaden gesperrt. Die Pflastersteine schienen von selbst aus dem Boden zu springen und sich zu Brustwehren aufzubauen, auf denen dann schwarz-rot-goldene Fahnen flatterten – und hinter ihnen Bürger aus allen Klassen, Studenten, Kaufleute, Künstler, Arbeiter, Doktoren, Advokaten – hastig bewaffnet mit dem, was eben zur Hand war – Kugelbüchsen, Jagdflinten, Pistolen, Spießen, Säbeln, Äxten, Hämmern usw. Es war ein Aufstand ohne Vorbereitung, ohne Plan, ohne System. Jeder schien nur dem allgemeinen Instinkt zu folgen. Dann wurden die Truppen zum Angriff befohlen. Wenn sie nach heißem Kampf eine Barrikade genommen hatten, so starrte ihnen eine andere entgegen – und wieder eine und noch eine. Und hinter den Barrikaden waren die Frauen geschäftig, den Verwundeten beizustehen und die Kämpfenden mit Speise und Trank zu stärken, während kleine Knaben eifrig dabei waren, Kugeln zu gießen oder Gewehre zu laden. Die ganze schreckliche Nacht hindurch donnerten die Kanonen und knatterte das Gewehrfeuer in den Straßen der Stadt.

Der König schien zuerst entschlossen zu sein, den Aufstand um jeden Preis niederzuschlagen. Aber als die Straßenschlacht nicht enden wollte, kam ihm ihre furchtbare Bedeutung peinlich zum Bewußtsein. [81] Mit jedem einlaufenden Bericht stieg seine qualvolle Aufregung. In einem Augenblick gab er Befehl, den Kampf abzubrechen, im nächsten ihn fortzusetzen. Endlich kurz nach Mitternacht schrieb er mit eigener Hand eine Proklamation „An meine lieben Berliner“. Er sagte darin, daß das Abfeuern der beiden Schüsse, das die Aufregung hervorgerufen habe, ein bloßer Zufall gewesen sei, daß aber „eine Rotte von Bösewichtern, meist aus Fremden bestehend“, durch trügerische Entstellung dieses Vorfalles gute Bürger getäuscht und zu diesem entsetzlichen Kampf verführt hätte. Dann versprach er, die Truppen zurückzuziehen, sobald die Aufständischen die Barrikaden fortgeräumt haben würden, und schloß mit diesen Sätzen: „Hört die väterliche Stimme Eures Königs, Bewohner Meines treuen und schönen Berlins, und vergeßt das Geschehene, wie Ich es vergessen will und werde in Meinem Herzen, um der großen Zukunft willen, die unter dem Friedenssegen Gottes für Preußen, und durch Preußen für Deutschland anbrechen wird. Eure liebreiche Königin und wahrhaft treue Mutter und Freundin, die sehr leidend darniederliegt, vereint ihre innigen tränenreichen Bitten mit den Meinen. Friedrich Wilhelm.“ Aber die Proklamation verfehlte ihren Zweck. Sie war von Kanonendonner und Musketenfeuer begleitet, und die kämpfenden Bürger nahmen es übel, vom Könige eine „Rotte von Bösewichtern oder deren leichtgläubige Opfer“ genannt zu werden.

Endlich am Nachmittage von Sonntag den 19. März, als General Möllendorf von den Aufständischen gefangen genommen worden, wurde der Rückzug der Truppen angeordnet. Es wurde Friede gemacht mit dem Verständnis, daß die Armee Berlin verlassen, und daß Preußen Preßfreiheit und eine Konstitution haben solle auf breiter demokratischer Grundlage. Nachdem das Militär aus Berlin abmarschiert war, geschah etwas, das an wuchtigem dramatischem Interesse wohl niemals in der Geschichte der Revolution übertroffen worden ist. Stille, feierliche Züge von Männern, Frauen und Kindern bewegten sich dem königlichen Schlosse zu. Die Männer trugen auf ihren Schultern Bahren mit den Leichen der in der Straßenschlacht getöteten Volkskämpfer – die verzerrten Züge und die klaffenden Wunden der Gefallenen unbedeckt, aber mit Lorbeer, Immortellen und Blumen umkränzt. So marschierten diese Züge langsam und schweigend in den inneren Schloßhof, wo man die Bahren in Reihen stellte – eine grausige Leichenparade – und dazwischen die Männer, teils noch mit zerrissenen Kleidern und pulvergeschwärzten und blutbefleckten Gesichtern, und in den Händen die Waffen, mit denen sie auf den Barrikaden gekämpft; und bei ihnen Weiber und Kinder, die ihre Toten beweinten. Auf den dumpfen Ruf der Menge erschien Friedrich Wilhelm IV. in einer oberen Gallerie, blaß und verstört, an seiner Seite die weinende Königin. „Hut ab!“ hieß es, und der König entblößte sein Haupt vor den Leichen da unten. Da erklang aus der Volksmasse heraus eine tiefe Stimme und begann den Choral: „Jesus meine Zuversicht“, und alles stimmte ein in den Gesang. Als er beendigt war, trat der König mit der Königin still zurück, und die Leichenträger mit ihrem Gefolge schritten in grimmer Feierlichkeit langsam davon. [82]

Dies war in der Tat für den König eine furchtbare Strafe; aber zugleich eine schlagende Antwort auf den Satz in seiner Proklamation an die „lieben Berliner“, in dem er die Volkskämpfer „eine Rotte von Bösewichtern“ oder deren verführte Opfer genannt hatte. Wären wirklich solche „Bösewichter“ oder „Anarchisten“ in der jetzigen Bedeutung des Wortes, in jener Menge gewesen, so würde Friedrich Wilhelm IV. schwerlich die schreckliche Stunde überlebt haben, als er allein und schutzlos dastand, und vor ihm die Volkskämpfer frisch vom Schlachtfelde, mit dem vom Anblick ihrer Toten geweckten Groll im Herzen, und mit Waffen in ihren Händen. Aber ihr Ruf in jenem Augenblick war nicht: „Tod dem Könige!“ sondern „Jesus meine Zuversicht“.

Auch ist die Geschichte jener Tage von keinem Fall gemeinen Verbrechens seitens des Volkes befleckt worden. Freilich wurden zwei Privathäuser verwüstet, aber nur weil ihre Eigentümer die Barrikadenkämpfer während des Kampfes an die Soldaten verraten hatten. Während die Aufständischen die ganze Nacht hindurch im vollen Besitz eines großen Teils der Stadt waren, gab es doch keine begründete Klage wegen Diebstahls oder mutwilliger Zerstörung. Das Privateigentum war vollkommen sicher. Der Kanonendonner hatte kaum aufgehört, als sich die Läden wieder öffneten.

Der Prinz von Preußen, derselbe Prinz von Preußen, der später im Laufe der Ereignisse als Kaiser Wilhelm I. der populärste Monarch seiner Zeit wurde, mußte unmittelbar nach dem Straßenkampf vor dem Zorn des Volkes fliehen. Ob mit Recht oder Unrecht, das Gerücht bezeichnete ihn als den Mann, der den Truppen den Befehl gegeben habe, auf das Volk zu feuern. Er verließ Berlin während der Nacht und eilte nach England. Ein aufgeregter Haufe sammelte sich vor seinem Palais „Unter den Linden“. Das Gebäude hatte keinerlei Wache zu seinem Schutz. Ein Student, wie erzählt wird, malte das Wort „Nationaleigentum“ auf die Front des Hauses, und eine weitere Bewachung war nicht vonnöten.

Aus dem Zeughause wurden Waffen unter das Volk verteilt. Der König erklärte, er habe sich überzeugt, daß der Friede und die Sicherheit der Stadt nicht besser beschützt werden könnten als durch die Bürger selbst. Am 21. März erschien Friedrich Wilhelm IV. wieder unter dem Volke, zu Pferde, mit einer schwarz-rot-goldenen Binde um den Arm und einer schwarz-rot-goldenen Fahne folgend, die man auf sein Verlangen vor ihm hertrug, während ein gewaltiges schwarz-rot-goldenes Banner im selben Augenblick auf der Kuppel des Königsschlosses erschien. Er sprach mit freier Ungebundenheit zu den Bürgern. Er erklärte, „er wolle sich an die Spitze der Bewegung für ein einiges Deutschland stellen“; „Preußen solle in dem freien Deutschland aufgehn“. Er beteuerte, „daß er nichts im Auge habe als ein konstitutionelles und geeinigtes Deutschland“. An der Universität wendete er sich zu den versammelten Studenten und sagte: „Ich danke Ihnen für den glorreichen Geist, den Sie in diesen Tagen bewiesen haben. Ich bin stolz darauf, daß Deutschland solche Söhne besitzt“. Es war allgemein verstanden, daß eine neues und verantwortliches Ministerium [83] gebildet worden sei, bestehend aus Mitgliedern der liberalen Opposition; daß eine preußische Nationalversammlung berufen werden sollte, eine frei gewählte, um dem Königreich Preußen eine Verfassung zu geben, und daß von dem Volke aller deutschen Staaten ein deutsches Nationalparlament gewählt werden und sich in Frankfurt versammeln sollte, um das ganze Deutschland unter einer konstitutionellen Nationalregierung zu vereinigen. Das Volk von Berlin war außer sich vor Freude. Nur eine Stimme des Mißtrauens wurde laut, die eines unbekannten Mannes, der, nachdem der König gesprochen, aus der Menge hervor ausrief: „Glaubt ihm nicht, Brüder! Er lügt! Er hat immer gelogen!“ Einige Bürgerwehrleute schützten den unglücklichen Rufer vor dem Zorn der Umstehenden und brachten ihn rasch zu der nächsten Polizeiwache, wo er bald als ein Verrückter entlassen wurde. „Die Helden, die für die große Sache der politischen und sozialen Freiheit gestritten und sie uns durch ihre todesmutige Hingebung erkämpft haben“, wie der Magistrat von Berlin in einer Proklamation die im Straßenkampf Gefallenen nannte, wurden von 20000 Bürgern im feierlichen Zuge zum Begräbnis im Friedrichshain begleitet, und der König stand auf dem Balkon mit entblößtem Haupt, als die Särge das Königsschloß passierten.

Dies war die große Kunde, die von Berlin aus über das ganze Land ging. So schien die Sache der bürgerlichen Freiheit einen entschiedenen Sieg gewonnen zu haben. Die Könige und Fürsten, zuvorderst der König von Preußen, hatten feierlich gelobt, dieser Sache zu dienen. Der Jubel des Volkes kannte keine Grenzen.

Seit dem deutsch-französischen Kriege von 1870 und der Errichtung des neuen deutschen Kaiserreichs hat man sich in Deutschland vielfach daran gewöhnt, das Jahr 1848 das „tolle Jahr“ zu nennen und die „Gedankenlosigkeit“ zu verspotten, mit welcher damals großartige Programme entworfen, umfassende Forderungen gestellt, weitausschauende Bewegungen ins Werk gesetzt und dann grausamen Enttäuschungen und Katastrophen entgegengeführt wurden. Verdient das deutsche Volk von 1848 solchen Spott? Wahr ist, daß die Repräsentanten des Volksgeistes jener Zeit nicht verstanden, mit den bestehenden Verhältnissen zu rechnen und eine siegreich und hoffnungsvoll begonnene Bewegung zu dem gewünschten Ende zu führen. Ebenso wahr ist es, daß dadurch jene Bewegung zerfahren und in manchen Dingen phantastisch erschien. Aber wen sollte das jetzt noch, im Rückblick gesehn, wundernehmen? Hier war ein Volk, das, obgleich in Wissenschaft, Philosophie, Literatur und Kunst hoch entwickelt, in politischen Dingen unter strenger Vormundschaft gelebt hatte. Dieses Volk hatte nur aus der Ferne beobachten können, wie andere Nationen ihr Selbstbestimmungsrecht oder ihren tätigen Anteil an der Regierung ausübten, und diese fremden Nationen hatte es bewundern und vielleicht beneiden lernen. Es hatte das Wirken freier Institutionen in Büchern studiert und in Zeitungsberichten verfolgt, sich nach dem Besitz solcher Institutionen gesehnt und nach ihrer[3] Einführung im eigenen Lande gestrebt. Aber bei all diesem Beobachten Lernen, Sehnen und Streben hatte das herrschende Bevormundungssystem es von aller Erfahrung in der Ausübung des [84] politischen Selbstbestimmungsrechts ausgeschlossen. Es hatte nicht praktisch lernen dürfen, was die politische Freiheit tatsächlich sei. Es hatte die Lehren, welche aus dem Gefühl der Verantwortlichkeit im politischen Handeln entspringen, nie empfangen. Freie Staatseinrichtungen lagen außerhalb seiner Lebensgewohnheiten; sie waren ihm nur abstrakte Begriffe, über die der Gebildete und ernsthaft Denkende politisch-philosophische Spekulationen anstellte, während sie dem Ungebildeten oder Oberflächlichen nur politische Stichworte lieferten, in deren Gebrauch sich die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden gefiel.

Plötzlich, nach langer innerer Gärung einem fremden Anstoß folgend, erhob sich dieses Volk. Seine Fürsten gestanden ihm alles zu, was sie ihm früher verweigert, und es sah sich im vollen Besitz einer ungewohnten Macht. Ist es zu verwundern, daß die überraschende Wandlung manchen verworrenen Wunsch und manche ziellose Bestrebung hervorbrachte? Wäre es nicht wunderbarer gewesen, hätte das Volk, bestimmter erreichbarer Zwecke sich wohl bewußt, zu deren Erfüllung mit sicherem Blick die richtigen Mittel gefunden und zugleich eine weise Wertschätzung dessen gezeigt, was es in den bestehenden Verhältnissen Gutes gab? Erwarten wir, daß der Bettler, der plötzlich zum Millionär wird, sogleich von seinem ungewohnten Reichtum den besten Gebrauch zu machen verstehe? Und doch kann nicht von der großen Mehrheit des deutschen Volkes gesagt werden, daß sie, wie allgemein auch die Unklarheit ihrer politischen Begriffe gewesen sein mag, in der revolutionären Bewegung des Jahres 1848 der Hauptsache nach etwas Unvernünftiges oder Unerreichbares verlangt hätte. Vieles von dem, was damals angestrebt wurde, ist ja seither verwirklicht worden. Die im Jahre 1848 begangenen Irrtümer betrafen mehr die angewendeten Mittel als die vorgesteckten Ziele. Und die größten dieser Irrtümer entsprangen aus der kindlichen Vertrauensseligkeit, mit der man die vollständige Erfüllung all der den Königen und Fürsten, besonders dem König von Preußen, mit Gewalt abgerungenen Versprechen erwartete. Es ist müßig, sich in Spekulationen zu ergehen über das, was hätte sein können, wenn das, was war, anders gewesen wäre. Aber eins ist doch gewiß: Hätten die Fürsten, unbeirrt von den Umtrieben der reaktionären Parteien auf der einen und von gelegentlichen Exzessen auf der andern Seite mit unentwegter Treue und mit Aufbietung all ihrer Macht das getan, was sie dem Volke in den Märztagen Ursache gegeben hatten, von ihnen zu erwarten, so würden die wesentlichsten der im Jahre 1848 angestrebten Ziele sich als damals schon durchaus erreichbar erwiesen haben. Daß man im Vollgenuß des „Völkerfrühlings“, welchem sich das Volk mit solcher Gefühlswollust hingab, dieses Vertrauen hegte, statt sich gegen die Reaktion, die vorauszusehen war, die nötigen Garantien zu sichern, war wohl nicht klug, aber diese Unklugheit entsprang aus keiner unedlen Quelle. Sicherlich tut man dem deutschen Volke Unrecht, wenn man die Mißerfolge der Jahre 1848 und 49 hauptsächlich auf seiner Führer Rechnung schreibt.

Was aber dem deutschen Volk die Erinnerung an den Frühling 1848 besonders wert machen sollte, ist die begeisterte Opferwilligkeit für die große Sache, die damals mit seltener Allgemeinheit fast alle Gesellschaftsklassen [85] durchdrang. Das ist eine Stimmung, die, wenn sie auch zuweilen phantastische Übergriffe veranlassen mag, ein Volk in sich selbst achten, deren es sich gewiß nicht schämen soll. Es wird mir warm ums Herz, so oft ich mich in jene Tage zurückversetze. Ich kannte in meiner Umgebung viele redliche Männer, Gelehrte, Studierende, Bürger, Bauern, Arbeiter, mit oder ohne Vermögen, mehr oder minder auf ihre tägliche Arbeit angewiesen, um sich und ihren Angehörigen einen anständigen Lebensunterhalt zu sichern; ihrem Beruf ergeben, nicht allein aus Interesse, sondern auch aus Neigung; aber damals jeden Augenblick bereit, Stellung, Besitz, Aussichten, Leben, alles in die Schanze zu schlagen für die Freiheit des Volks und für die Ehre und Größe des Vaterlandes. Man respektierte den, der bereit war, sich für eine große Idee totschlagen zu lassen. Und wer immer, sei es Individuum oder Volk, Momente solch opferwilliger Begeisterung in seinem Leben gehabt hat, der halte die Erinnerung in Ehren.

Ich fand mich bald, ohne daß es meine Absicht gewesen wäre, unter den Studenten in eine ins Auge fallende Stellung vorgeschoben, und zwar durch die erste Rede, die ich in meinem Leben gehalten habe. Es wurde eine Studentenversammlung nach der Aula der Universität berufen – ich weiß nicht mehr zu welchem speziellen Zweck. Professor Ritschl, unser erster Philologe und damals, wenn ich mich recht erinnere, Dekan der philosophischen Fakultät – ein sehr angesehener und beliebter Mann –, führte den Vorsitz. Der Saal war gedrängt voll, und ich stand mitten unter der Menge. Über den Gegenstand, der zur Verhandlung kam, hatte ich viel nachgedacht und mir eine Meinung gebildet; aber ich war nicht zur Versammlung gegangen mit dem Vorsatz, an der Debatte teilzunehmen. Da hörte ich einen Redner etwas sagen, das meiner Ansicht stark entgegen war und mich aufregte. Einem plötzlichen Impuls folgend, verlangte ich das Wort und fand mich im nächsten Augenblick zur Versammlung sprechend. Ich habe mir später nie wieder genau das zurückrufen können, was ich sagte. Ich erinnere mich nur, daß ich mich in einem mir bis dahin unbekannten nervösen Zustande befunden, daß ich am ganzen Leibe gebebt, daß mir Gedanken und Worte in einem ununterbrochenen Strome zugeflossen, daß ich mit ungestümer Schnelligkeit gesprochen, und daß der darauf folgende Beifall mich fast wie aus einem Traume aufgeweckt hatte. Das war meine erste öffentliche Rede. Als die Versammlung sich aufgelöst hatte, traf ich am Ausgang mit Professor Ritschl zusammen. Da ich Vorlesungen bei ihm hörte, so kannte er mich. Er legte mir die Hand auf die Schulter und fragte:

„Wie alt sind Sie denn?“

„Neunzehn Jahre.“

„Das ist schade“, anwortete er. „Man wird nun bald ein Nationalparlament wählen und Sie sind noch zu jung, um ein Mitglied davon zu werden.“ Ich wurde rot bis über die Ohren. Daß ich Mitglied eines Parlaments werden könne – zu einer solchen Hoffnung hatte sich mein Ehrgeiz noch nicht verstiegen. Ich fürchtete, der Professor habe sich einen Spaß mit mir erlaubt.

Es währte jedoch nicht lange, bis ich wieder in den Vordergrund kam. Wie jeder andere Stand, so hatten auch die Studenten ihre [86] eigentümlichen Beschwerden und Forderungen, die in der „neuen Zeit“ zur Geltung kommen mußten. Bei den preußischen Universitäten gab es einen Beamten, der „Regierungsbevollmächtigte“ geheißen, dessen Pflicht zum Teil darin bestand, die politische Haltung der Professoren und der Studenten zu überwachen. Das Amt war zur Zeit der Demagogenhetze nach der berüchtigten Karlsbader Konferenz geschaffen worden und stand daher in sehr üblem Geruch. Unser Regierungsbevollmächtigter war Herr von Bethmann-Hollweg. Mehr seines Amtes als seiner persönlichen Eigenschaften wegen war er höchst unpopulär bei der Studentenschaft. Wir fühlten, daß ein solches Amt, ein Produkt der Periode tiefster Knechtschaft und Erniedrigung, zu der neuen Ordnung der Dinge nicht mehr passe und daher schleunigst abzuschaffen sei. Es wurde eine Studentenversammlung nach der Reitbahn der Universität berufen, und da der Zweck derselben ruchbar geworden war, so hielten sich die Professoren davon zurück. Meine Rede in der Aula hatte mir ein gewisses Ansehen gegeben, und so wurde ich zum Vorsitzenden der Versammlung gewählt. Es wurde beschlossen, eine Adresse an den akademischen Senat zu richten mit der Forderung, daß der Regierungsbevollmächtigte sofort entfernt werden solle. Als Vorsitzender erhielt ich den Auftrag, die Adresse auf der Stelle zu schreiben. Dies geschah. Sie bestand aus vier oder fünf Zeilen. Die Versammlung nahm dieselbe sofort an und beschloß – wie man denn in jener Zeit das Dramatische liebte –, sich ohne Verzug in Masse nach dem Hause des Rektors der Universität zu begeben um ihm das Schriftstück persönlich zu überreichen. So marschierten wir denn, 7 bis 800 Mann stark, in gedrängter Kolonne nach der Wohnung des Rektors auf der Koblenzer Straße und klingelten. Der Rektor, Herr van Calker, Professor der Philosophie, ein bejahrtes, ängstlich aussehendes Männchen, erschien bald an der Tür, und ich las ihm die in recht energischer Sprache abgefaßte Adresse vor. Einen Augenblick sah er sich die Menge von Studenten, die sich um seine Haustüre drängten und leider sein kleines holländisches Blumengärtchen niedertraten, schüchtern an, und dann sagte er uns in oft stockender Rede, wie sehr erfreut er sei von dem frischen, hoch aufstrebenden Geist der deutschen Jugend, und wie Großes die Studierenden in dieser wichtigen Zeit leisten könnten, und daß er sehr gern unsere Adresse dem akademischen Senat und der Regierung zu baldiger Erwägung und Erledigung mitteilen werde. Wir sahen dem braven Manne, dem niemand Übles wollte, leicht an, daß es ihm mit seiner Freude an diesem aufstrebenden Geist der deutschen Jugend durchaus nicht geheuer war, dankten ihm für seine Bereitwilligkeit, verabschiedeten uns höflich und marschierten zurück nach dem Marktplatz. Dort wurde uns berichtet, daß, während wir den Rektor besucht, der Regierungsbevollmächtigte schleunigst seine Koffer gepackt habe und bereits abgereist sei.

Während der Jubel über die „Märzerrungenschaften“ zuerst allgemein zu sein schien und selbst die Anhänger der absoluten Königsgewalt gute Miene zum bösen Spiel machten, begann doch sehr bald die Zerfetzung in verschiedene Parteigruppen zwischen denjenigen, denen es hauptsächlich um die Herstellung der Ordnung und Autorität zu tun [87] war – den Konservativen, – denjenigen, die dem langsamen Fortschritt huldigten und eine demgemäße Verfassung wünschten – den Konstitutionellen, – und denjenigen, welche die Sicherung der Revolutionsfrüchte nur in einem Aufbau der neuen Zustände „auf breitester demokratischer Grundlage“ sehen konnten – den Demokraten. Mich führte sowohl instinktiver Trieb als Überlegung auf die demokratische Seite. Da traf ich wieder mit Kinkel zusammen, und unsere Freundschaft wurde bald eine sehr intime. Im Laufe unserer gemeinschaftlichen Tätigkeit wich das steifere Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler einem durchaus kameradschaftlichen Ton und das formelle „Sie“ in der Anrede dem vertraulichen „Du“.

Nun begann eine eifrige Agitationstätigkeit, die uns fast ganz in Anspruch nahm. Kinkel, der eine außerordentliche Arbeitskraft besaß und sehr fleißig war, hielt freilich noch seine Vorlesungen, und ich hörte diejenigen, die ich belegt hatte, mit ziemlicher Regelmäßigkeit, aber mein Herz war nicht dabei wie früher. Um so eifriger studierte ich für mich neuere Geschichte, besonders die Geschichte der französischen Revolution, und las eine Menge von philosophisch-politischen Werken und von Pamphleten und Zeitschriften jüngsten Datums, welche die Probleme des Tages zum Gegenstande hatten. Auf diese Weise suchte ich meine politischen Begriffe zu klären und die sehr großen Lücken meiner geschichtlichen Kenntnisse notdürftig auszufüllen, ein Bedürfnis, das ich um so lebhafter empfand, als ich meine agitatorische Arbeit für eine heilige Pflicht ansah. Diese Arbeit war in der Tat nicht gering. Zuerst organisierten wir einen demokratischen Klub, aus Bürgersleuten und Studenten bestehend, der in einem von Professor Loebell, einem sehr geistvollen Manne, geleiteten „konstitutionellen Klub“ einen nicht zu verachtenden Rivalen hatte. Dann wurde als örtliches Organ der demokratischen Partei die „Bonner Zeitung“ gegründet, ein täglich erscheinendes Blatt, deren Redaktion Kinkel übernahm, während ich als regelmäßiger Mitredakteur fungierte und täglich einen oder mehrere Artikel zu liefern hatte. Und schließlich wanderten wir ein- oder mehrmals jede Woche, in der Tat so oft wir Zeit fanden, nach den umliegenden Ortschaften hinaus, um den Landleuten das politische Evangelium der neuen Zeit zu predigen und auch dort demokratische Vereine zu organisieren. Unzweifelhaft förderte der neunzehnjährige Journalist und Volksredner sehr viel unverdautes Zeug zutage, aber er glaubte aufrichtig und heiß an seine Sache und würde jeden Augenblick bereit gewesen sein, für das, was er sagte und schrieb, sein Herzblut einzusetzen.

Meine Tätigkeit in dieser Richtung hätte kurz nach ihrem Anfange beinahe ein jähes Ende gefunden. Schon lange vor dem Ausbruch der Märzrevolution hatte das Volk der Herzogtümer Schleswig und Holstein große Anstrengungen gemacht, unter einer Personalunion mit Dänemark eine politisch-selbständige Existenz zu gewinnen. Im März 1848 brach dort ein allgemeiner Aufstand aus, dessen Zweck es war, diese selbständige Stellung zu sichern und nicht allein Holstein, sondern auch Schleswig zu einem Teil des deutschen Bundesgebiets zu machen. Diese Erhebung fand in ganz Deutschland die lebhafteste Sympathie, [88] und an verschiedenen Orten wurden Aufrufe zur Bildung von Freikorps erlassen, um durch bewaffneten Zuzug das Volk der Herzogtümer gegen die Dänen zu unterstützen. Besonders an den Universitäten fanden diese Aufrufe sofortigen Anklang, und Studenten in nicht geringer Zahl zogen nach Schleswig-Holstein, um sich dort in die Freikorps einreihen zu lassen. Mein erster Impuls war, dasselbe zu tun. Ich war bereits allen Ernstes mit den Vorbereitungen dazu beschäftigt, als Kinkel mich überredete, von meinem Vorsatz abzustehn, da die Befreiung Schleswig-Holsteins von dem dänischen Joch vom deutschen Parlament und von den deutschen Regierungen als eine nationale Sache anerkannt werde, und die dort einrückenden preußischen und anderen Bundestruppen viel besser geeignet seien, den Krieg zu führen, als lose organisierte und wenig eingeübte Freischaren. Auch verhehlte er mir nicht, daß es ihm sehr darum zu tun sei, mich bei sich in Bonn zu behalten, wo ich, wie er mich zu überzeugen suchte, durch agitatorische Arbeit dem Vaterlande viel bessere Dienste leisten könne. In der Tat schlug sich das in Schleswig-Holstein organisierte Studentenkorps recht brav, war aber der überlegenen Disziplin und Taktik der dänischen Truppen gegenüber allerlei schlimmen Zufällen ausgesetzt, so daß seine Leistungen zu den von seinen Mitgliedern gebrachten Opfern in keinem Verhältnis standen. Davon wurde ich noch mehr überzeugt durch die Erzählungen mehrerer Studenten, die, nachdem sie eine Zeitlang in Schleswig-Holstein Kriegsdienste getan, ihre Studien wieder aufnahmen.

Mehrere davon kamen nach Bonn, und von diesen trat mir Adolf Strodtmann, der später sich in der deutschen Literatur einen angesehenen Namen erworben hat, besonders freundschaftlich nahe. Er war der Sohn eines protestantischen Pfarrers in Hadersleben, einer kleinen Stadt im Herzogtum Schleswig. Vater und Sohn hingen mit Begeisterung der deutsch-nationalen Sache an, und der junge Adolf, der kurz vor dem Ausbruch der schleswig-holsteinische Erhebung das Gymnasium absolviert hatte, trat sogleich in das Studentenfreikorps ein. Wenige hätten zum Kriegsdienst untauglicher sein können, denn er war nicht allein sehr kurzsichtig, sondern auch recht taub. Er erzählte uns oft mit viel Humor von seiner einzigen kriegerischen Tat. In dem Treffen bei Bau, wo das Studentenkorps von den Dänen überrascht und übel zugerichtet wurde, merkte er an dem allgemeinen Tumult, daß etwas Ungewöhnliches los sei. Die Kommandos, die gegeben wurden, verstand er nicht; doch stellte er sich in eine Reihe mit mehreren andern, fand sich aber bald im Pulverdampf allein. „Dann“, setzte er hinzu, „schoß ich meine Büchse zweimal ab, weiß aber bis zu diesem Augenblick nicht, ob ich in der richtigen oder verkehrten Richtung geschossen. Ich sah so schlecht, daß ich die Dänen von den Unsrigen nicht unterscheiden konnte. Ich fürchte gar, ich habe in der verkehrten Richtung geschossen, denn plötzlich fühlte ich etwas wie einen starken Schlag in den Rücken, fiel hin und blieb liegen, bis mich die Dänen aufhoben und fortschafften. Es fand sich, daß ich in den Rücken geschossen worden, und daß die Kugel durch und durch gegangen war. Natürlich kann mich nur ein Däne in den Rücken geschossen haben; und da ich während des Gefechts auf demselben Fleck stehen blieb, muß ich von Anfang an den Dänen [89] den Rücken gekehrt und in der Richtung der Unsrigen geschossen haben.“ Gefährlich verwundet wurde Strodtmann auf die „Dronning Maria“, das dänische Gefangenschiff, gebracht und nach einiger Zeit ausgewechselt. Nach seiner Genesung, die merkwürdig schnell erfolgte, kam er zur Bonner Universität, um Sprachen und Literatur zu studieren.

Seine körperlichen Gebrechen machten ihn zu einer etwas sonderbaren Person. Seine Taubheit veranlaßte allerlei spaßhafte Mißverständnisse, über die er selbst gewöhnlich der Erste war herzlich zu lachen. Er sprach mit sehr lauter Stimme, als wären wir alle ebenso taub gewesen wie er. Infolge seiner Verwundung hatte er sich angewöhnt, beim Gehen die eine Schulter – ich glaube es war die linke – vorzuschieben, als hätte er sich durch eine uns anderen unsichtbare Menschenmenge durchdrängen müssen, und er sah so schlecht und war dabei so unaufmerksam, daß er gegen alle möglichen Gegenstände anlief. Aber er war eine aufrichtige, frische, enthusiastische Natur; von eigentümlich naiven Lebensanschauungen; höchst aufopferungsfähig und allen großmütigen und edlen Impulsen offen. Er besaß einen merkwürdigen literarischen Formensinn. Seine Verse, deren er viele machte, und die er gern mit seiner Donnerstimme verlas, zeichneten sich gewöhnlich nicht durch Gedankentiefe, noch durch reiche Phantasie, noch durch feine poetische Empfindung aus – wohl aber durch eine seltene Ausdrucksfülle und einen prächtigen musikalischen Tonfall. So hat er denn auch in der Folge als Übersetzer französischer, englischer und dänischer Dichter und Prosaiker sehr Vortreffliches geleistet. Seine politischen Ansichten waren zu jener Zeit von entschieden demokratischer Färbung, und er schloß sich Kinkel mit großer Wärme an. So wurden er und ich intime Freunde.

Die politische Feststimmung, die unmittelbar nach der Märzrevolution alles in so rosigem Licht erscheinen ließ, begann bald sich zu verdunkeln. In Süddeutschland, wo die Meinung Boden faßte, daß die Revolution nicht hätte vor den Thronen stillstehen sollen, fand ein republikanischer Aufstand statt unter der Führung des brillanten und ungestümen Volksführers Hecker. Dieser Aufstand wurde schnell mit Waffengewalt unterdrückt. Im ganzen fanden solche Versuche im Lande zuerst wenig Sympathie. Die allgemeinen Wünsche der liberalen Massen gingen nicht hinaus über die Herstellung der nationalen Einheit und die „konstitutionelle Monarchie auf breiter demokratischer Grundlage“. Aber der republikanische Gedanke verbreitete sich und gewann Stärke, wie die „Reaktion“ eine mehr und mehr drohende Gestalt annahm.

Das Nationalparlament in Frankfurt, das im Frühling gewählt worden war, um die Souveränität der deutschen Nation in einer nationalen Regierung zu verkörpern, zählte unter seinen Mitgliedern eine Menge von Berühmtheiten auf den Feldern der Politik, Jurisprudenz, Philosophie, Wissenschaft und Literatur. Es zeigte sich bald eine Neigung, mit glänzenden, aber mehr oder minder fruchtlosen Debatten einen großen Teil der Zeit zu vergeuden, die dazu hätte verwandt werden sollen, durch promptes und entschiedenes Handeln die Errungenschaften der Revolution unter Dach und Fach zu bringen und so gegen feindliche Angriffe zu sichern. [90]

Aber unsere Blicke waren mit noch größerer Sorge auf Berlin gerichtet. Preußen war bei weitem der stärkste unter den ganz deutschen Staaten. Österreich bildete dagegen ein Konglomerat von verschiedenen Nationalitäten – Deutsche, Magyaren, Slaven, Italiener. Das deutsche Element, zu dem die Dynastie und die politische Hauptstadt gehörten, war bis dahin das führende gewesen, wie es auch das vorgeschrittenste an Reichtum und Zivilisation war, wenn auch nicht das stärkste an Zahl. Aber die Slaven, die Magyaren und die Italiener, besonders angeregt durch die revolutionären Bewegungen von 1848, strebten nach nationaler Autonomie; und obgleich Österreich in den letzten Jahrhunderten des alten deutschen Reichs und dann auch nach den napoleonischen Kriegen die Führerstelle eingenommen hatte, so war es doch sehr zweifelhaft, ob seine nichtdeutschen Interessen mit einer ähnlichen Stellung in dem unter einer konstitutionellen Regierung vereinigten Deutschland verträglich sein würden. Tatsächlich zeigte es sich später, daß die gegenseitige Eifersucht der verschiedenen Nationalitäten die österreichische Zentralregierung in den Stand setzte, jede dieser Nationalitäten durch die anderen einem despotischen Regiment zu unterwerfen, und daß trotz allem, was die Märzrevolution versprochen, die nichtdeutschen Interessen und die der Dynastie in der Politik Österreichs die vorherrschenden waren. Aber Preußen war, einen kleinen polnischen Distrikt ausgenommen, ein rein deutsches Land, und bei weitem der stärkste unter den deutschen Staaten im Punkte der Volkszahl, der fortschrittlichen Tendenzen, der wirtschaftlichen Tätigkeit, und besonders der militärischen Wehrkraft. Man fühlte daher allgemein, daß die Entwicklung in Preußen für das Schicksal der Revolution entscheidend sein würde.

Eine Weile schien sich Friedrich Wilhelm IV. zu gefallen in der Rolle des Führers der nationalen Bewegung, die er im Sturm und Drang der Märztage auf sich genommen hatte. Seine bewegliche Natur schien von einem neuen Enthusiasmus erwärmt zu sein. Er machte Spaziergänge auf den Straßen Berlins und redete vertraulich mit den Leuten. Er sprach von der Durchführung von konstitutionellen Regierungsprinzipien wie von einer Sache, die sich von selbst verstehe. Laut pries er „das Volk von Berlin“, das sich so edel und hochherzig gegen ihn benommen habe, wie es sich vielleicht in keiner andern Stadt der Welt benehmen würde. Er verordnete, daß die Armee die schwarz-rot-goldene Kokarde zugleich mit der preußischen tragen solle. Auf dem Paradeplatz in Potsdam erklärte er den mürrischen Offizieren der Garde, „daß er sich glücklich, frei und wohlbewahrt unter seinen Bürgern in Berlin fühle, daß er alles, was er gegeben und getan, aus voller freier Überzeugung gegeben und getan, und daß darum keiner sich erdreisten möge, daran zu zweifeln“. Aber als die preußische Nationalversammlung in Berlin zusammengetreten war und anfing, Gesetze zu beschließen und konstitutionelle Grundsätze zu betonen, und im Geiste der Revolution in Regierungsgeschäfte einzugreifen, da öffnete sich das Ohr des Königs nach und nach andern Einflüssen; und diese Einflüsse umgaben ihn um so bequemer, als er von Berlin nach seinem Potsdamer Palast hinüberzog. Damit hörte des Königs unmittelbare Berührung mit dem Volke auf; seine Gespräche mit den neuen liberalen Ministern beschränkten [91] sich auf kurze und formelle Audienzen, und Stimmen, die an alte Sympathien, Vorurteile und Wünsche erinnerten, waren stets seinem Ohr am nächsten.

Da war zuerst die Armee, von jeher das Schoßkind der Hohenzollern, jetzt voll von verhaltenem Grimm über die „Schande“, die ihr geworden durch den Abzug von Berlin nach dem Straßenkampf, und dürstend nach „Rache“ und der Wiederherstellung ihres alten Prestige. Da war der Hofadel, dessen Geschäft es immer gewesen war, dem Herrscher zu schmeicheln und die eigene Wichtigkeit durch die erhöhte Glorie seiner Person zu vergrößern. Da war der Landadel, das Junkertum, dessen feudale Vorrechte durch den Geist der Revolution theoretisch geleugnet und durch die gesetzgeberische Aktion der Volksvertreter praktisch verkürzt wurden, und der es sich nun angelegen sein ließ, des Königs Stolz anzustacheln. Da war die alte Bureaukratie, deren Macht durch die Revolution gebrochen worden, obgleich das Personal so ziemlich dasselbe geblieben war, und die sich jetzt bemühte, ihre alte Machtstellung wieder zu gewinnen. Da war der „altpreußische“ Geist, der allen nationalen Bestrebungen, die das Prestige und die Wichtigkeit des spezifischen Preußentums zu schmälern drohten, feindlich war, und der in den Marken und den östlichen Provinzen nicht unbeträchtliche Stärke besaß. All diese Einflüsse, die im Volksmunde gemeinhin als „die Reaktion“ bezeichnet wurden, wirkten zusammen, um den König von der Bahn, die er in den Märztagen betreten, abzuwenden mit der Hoffnung, ihn zur möglichst vollständigen Wiederherstellung der alten Ordnung der Dinge benutzen zu können – wohl wissend, daß, wenn sie ihn kontrollierten, sie durch ihn die preußische Armee kontrollieren würden, und in dieser Armee eine ungeheure, vielleicht entscheidende Macht in den Kämpfen der Zukunft. Und diese „Reaktion“ wurde sehr gekräftigt durch eine schlaue Ausbeutung gelegentlicher Straßenexzesse, die in Berlin vorkamen – Exzesse, die in einem freien Lande wie England oder Amerika wohl verschärfte Polizeimaßregeln veranlassen, aber keinen vernünftigen Menschen hinreichend beunruhigen würden, um die Durchführbarkeit der bürgerlichen Freiheit oder konstitutioneller Regierungsprinzipien in Frage zu stellen. Aber diese Vorkommnisse wurden in Preußen emsig dazu benutzt, um die furchtsamen Seelen des Bürgertums mit dem Gespenst allgemeiner Anarchie zu schrecken und den König zu überzeugen, daß die Wiederherstellung einer möglichst unumschränkten Königsgewalt zur Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung durchaus nötig sei.

Auf der andern Seite wirkte das augenscheinliche Wachstum der Reaktion dahin, diejenigen, denen es um nationale Einheit und konstitutionelle Regierung auf demokratischer Grundlage am ernstlichsten zu tun war, radikaleren Tendenzen mehr und mehr zugänglich zu machen.

Die Wirkung des raschen Fortschritts dieser Reaktion machte sich auch in meiner Umgebung wohl bemerklich. Die Mitgliederschaft unseres demokratischen Vereins bestand so ziemlich zu gleichen Hälften aus Bürgersleuten und Studenten. Unter den Bürgersleuten taten sich besonders hervor ein Kaufmann namens Anselm Unger, ein Mann von nicht außerordentlichen, aber doch anständigen Fähigkeiten, gutem Charakter [92] und einigem Vermögen; ferner ein Schankwirt namens Friedrich Kamm, der früher Bürstenmacher gewesen war, auch ein Mann unbescholtenen Rufs; aber er gehörte, wenigstens seiner Redeweise nach, zu den grimmen Revolutionären, wie sie sich in der französischen Revolution unter den Terroristen fanden, zu den Blutig-Unversöhnlichen, die nicht zufrieden sein wollten, „bis der letzte Fürst und der letzte Aristokrat mit den Gedärmen des letzten Pfaffen erdrosselt wäre“ usw. – Unter den Studenten gehörten Strodtmann, den ich bereits erwähnt, Ludwig Meier, ein Mediziner, eine brave, enthusiastische Natur, und ein Westfale namens Brüning, der sich durch eine ungewöhnliche Redegabe auszeichnete, aber nach einigen Monaten aus unseren Reihen verschwand, zu den Eifrigsten. Kinkel war der anerkannte Führer des Klubs, und ich nahm einem Sitz im Exekutivausschuß ein. Anfangs wäre uns eine konstitutionelle Monarchie mit allgemeinem Stimmrecht und wohl gesicherten bürgerlichen Freiheiten vollkommen genügend gewesen. Aber die Reaktion, deren drohendes Aufsteigen wir beobachteten, brachte uns bald zu dem Glauben, daß es für die Freiheit keine Sicherheit gebe als in der Republik. Von dieser Überzeugung war es nur ein Schritt bis zu dem weiteren Glauben, daß in der Republik und nur in der Republik die Heilung aller Schäden des Gemeinwesens, die Lösung aller politischen und sozialen Probleme zu finden sei. Der Idealismus, der in dem republikanischen Staatsbürger die höchste Verkörperung der Menschenwürde sah, war in uns durch das Studium des klassischen Altertums genährt worden, und über alle Zweifel, ob und wie die Republik in Deutschland eingeführt und inmitten des europäischen Staatensystems behauptet werden könne, half uns die Geschichte der französischen Revolution hinweg. Dort fanden wir ja, wie das scheinbar Unmögliche geleistet werden kann, wenn nur die ganze in einer großen Nation ruhende Energie geweckt und mit der erforderlichen Kühnheit gehandhabt wird. Vor dem wilden Terrorismus, welcher die nationale Erhebung in Frankreich mit Strömen unschuldigen Bluts befleckte, schraken wohl die meisten von uns zurück. Aber wir hofften, auch ohne solche Extreme fertig werden zu können, und die Geschichte der französischen Revolution lieferte uns immerhin Vorbilder genug, denen wir folgen zu dürfen glaubten und die unsere Phantasie lebhaft erregten. Wie verführerisch solches Phantasiespiel ist, waren wir uns natürlich nicht bewußt. Wie es gewöhnlich geht, suchten wir zuerst unsere Vorbilder in gewissen Äußerlichkeiten nachzuahmen, und so wurde, um den Grundsatz der bürgerlichen Gleichheit unter den Mitgliedern unseres Klubs zu versinnlichen, die Regel eingeführt, daß es für alle, wie verschieden auch ihre Lebensstellungen sein mochten, in den Verhandlungen des Vereins nur einen Titel, eine Anrede geben solle, nämlich „Bürger“. So gab es denn keinen „Herrn Professor Kinkel“ mehr, sondern nur einen „Bürger Kinkel“, „Bürger Unger“, „Bürger Kamm“, „Bürger Schurz“ usw. Daß uns diese Spielerei von seiten unserer Gegner mancherlei Spott zuzog, störte uns nicht. Uns war es ernstlich dabei zumute; wir meinten nur, durch die Einführung dieses Stiles der notwendigen politische Entwicklung ihren Ton vorgezeichnet zu haben. Des Inhaltes unserer Klubdebatten erinnere ich mich zu wenig, um zu sagen, wie viel [93] Vernunft und wie viel Unvernunft es darin gab. Jedenfalls wurden sie mit Wärme, zuweilen mit merkwürdiger Beredsamkeit, und seitens der meisten Teilnehmer gewiß mit vollkommener Aufrichtigkeit der Überzeugung geführt.

Im Laufe des Sommers empfingen Kinkel und ich den Auftrag, unsern Klub bei einem Kongresse demokratische Vereine in Köln zu vertreten. Diese Versammlung, in der ich mich sehr schüchtern und durchaus schweigsam verhielt, ist mir dadurch merkwürdig geblieben, daß ich dort mehrere der hervorragenden Männer jener Zeit zuerst von Angesicht zu Angesicht sah, unter andern den Sozialistenführer Karl Marx. Er war damals 30 Jahre alt und bereits das anerkannte Haupt einer sozialistischen Schule. Der untersetzte, kräftig gebaute Mann mit der breiten Stirn, dem pechschwarzen Haupthaar und Vollbart und den dunkeln blitzenden Augen zog sofort die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Er besaß den Ruf eines in seinem Fache sehr bedeutenden Gelehrten, und da ich von seinen sozialökonomischen Entdeckungen und Theorien äußerst wenig wußte, so war ich um so begieriger, von den Lippen des berühmten Mannes Worte der Weisheit zu sammeln. Diese Erwartung wurde in einer eigentümlichen Weise enttäuscht. Was Marx sagte, war in der Tat gehaltreich, logisch und klar. Aber niemals habe ich einen Menschen gesehen von so verletzender, unerträglicher Arroganz des Auftretens. Keiner Meinung, die von der seinigen wesentlich abwich, gewährte er die Ehre einer einigermaßen respektvollen Erwägung. Jeden, der ihm widersprach, behandelte er mit kaum verhüllter Verachtung. Jedes ihm mißliebige Argument beantwortete er entweder mit beißendem Spott über die bemitleidenswerte Unwissenheit, oder mit ehrenrühriger Verdächtigung der Motive dessen, der es vorgebracht. Ich erinnere mich noch wohl des schneidend höhnischen, ich möchte sagen des ausspuckenden Tones, mit welchem er das Wort „Bourgeois“ aussprach; und als „Bourgeois“, das heißt als ein unverkennbares Beispiel einer tiefen geistigen und sittlichen Versumpfung, denunzierte er jeden, der seinen Meinungen zu widersprechen wagte. Es war nicht zu verwundern, daß die von Marx befürworteten Anträge in der Versammlung nicht durchdrangen, daß diejenigen, deren Gefühl er durch sein Auftreten verletzt hatte, geneigt waren, für alles das zu stimmen, was er nicht wollte, und daß er nicht allein keine Anhänger gewonnen, sondern manche, die vielleicht seine Anhänger hätten werden können, zurückgestoßen hatte.

Ich brachte von dieser Versammlung eine wichtige Erfahrung mit mir nach Hause: daß, wer ein Führer oder ein Lehrer des Volkes sein will, seine Zuhörer mit Achtung behandeln muß; daß selbst der überlegenste Geist an Einfluß auf andere verlieren wird, wenn er diese durch fortwährende Demonstrationen seiner Überlegenheit zu demütigen sucht; daß man die Unwissenheit am leichtesten aufklären und gewinnen wird, wenn man sich nicht mit Herablassung, sondern mit Sympathie auf ihren Standpunkt stellt, und von diesem aus das Raisonnement führt. Der wird schwer Anhänger gewinnen, der mit dem Satze beginnt: „Wer nicht so denkt wie ich, ist ein Esel, oder ein Schuft, oder beides zugleich.“ [94]

Im ganzen war der Sommer 1848 für mich eine Zeit voll von Mühen und Sorgen. Die Zeitung, die agitatorische Tätigkeit in Klubs und Volksversammlungen, und dabei meine Studien luden mir eine schwere Last von Arbeit auf, wobei – ich muß es gestehen – meine Studien mir keineswegs als die Hauptsache galten. Meine Sorgen drehten sich um die sichtbar und stetig wachsende Macht der Reaktion, um die durch das Nationalparlament und die Berliner Versammlung verscherzten Gelegenheiten, Festes zu schaffen, und das eigene Gefühl der Machtlosigkeit, auch nur als dienendes Glied zur Abwendung des drohenden Unheils etwas Wirksames beizutragen. Ich erinnere mich, ein drückendes Bewußtsein meiner Unwissenheit in politischen Dingen mit mir herumgetragen zu haben, was um so quälender wurde, je mehr ich die Notwendigkeit empfand, durch energische und verständige Agitation das Volk auf kommende Entscheidungskämpfe vorzubereiten.

Diese Tätigkeit hatte jedoch auch ihre heitere Seite, welcher der jugendliche Sinn keineswegs unzugänglich war. Wir Studenten erfreuten uns bei der Landbevölkerung einer sehr großen Popularität, und selbst von seiten derjenigen, die nicht mit uns derselben politischen Richtung huldigten, ward uns allenthalben eine freundliche Aufnahme – nicht selten so freundlich, daß sich unsere Anwesenheit an dem Platz unserer agitatorischen Wirksamkeit zu einem fröhlichen Fest gestaltete. Auch verbanden wir zuweilen planmäßig das gesellschaftliche Vergnügen mit politischen Demonstrationen. So gab es denn patriotische Kneipereien genug und zuweilen auch nächtliche Auszüge bei Fackelschein nach einem besonders beliebten Punkt bei Bonn, der Kessenicher Schlucht, wo wir, um flackernde Feuer gelagert, mit patriotischen Reden und Gesang und sonstigen Auslassungen des jugendlichen Übermutes uns bis zum Dämmern des Morgens vergnügten. Die interessanteste Erinnerung dieser Art aus jener Zeit, die mir immer noch besonders lebhaft im Gedächtnis steht, ist die an den Studentenkongreß in Eisenach, der im September 1848 stattfand, und dem ich als Vertreter der Bonner Studentenschaft beiwohnte.

Es war dies die erste größere Reise meines Lebens. Bis dahin war ich niemals vom elterlichen Hause weiter entfernt gewesen, als man in einem Tage zu Fuß gehen oder in wenigen Stunden in einem Dampfboot fahren kann. Zum erstenmal an jenem heiteren sonnigen Septembertage hatte ich den Vollgenuß einer Rheinreise auf der ganzen Strecke von Bonn nach Mainz, und ich gab mir Mühe, die beunruhigenden Gedanken abzuweisen, die durch allerlei verworrene Gerüchte von einem Aufruhr und Straßenkampf, der in Frankfurt im Gange sei, geweckt wurden. In der Tat fand ich diese Gerüchte abends bei meiner Ankunft in Frankfurt in erschütternder Weise bestätigt.

Der Aufstand in Frankfurt hing mit folgenden Ereignissen zusammen: Schon im Frühling 1848 war, wie bereits erwähnt, die Volkserhebung in Schleswig-Holstein gegen die dänischen Gewaltanmaßungen von dem Bundestage, dann vom Nationalparlament und von allen deutschen Einzelregierungen als eine deutsch-nationale Sache anerkannt worden. Preußische und andere Bundestruppen waren in die Herzogtümer eingerückt, hatten auf dem Schlachtfelde bedeutende Vorteile [95] über die dänische Armee errungen und sich in Jütland festgesetzt. Alles versprach eine glückliche und baldige Beendigung des Krieges. Da überraschte die preußische Regierung, deren Haupt Friedrich Wilhelm IV. sich wie gewöhnlich von den europäischen Großmächten hatte einschüchtern lassen, die Welt mit einem im Namen des deutschen Bundes mit Dänemark abgeschlossenen Waffenstillstande, dem in der Geschichte jener Zeit übel berüchtigten „Waffenstillstande von Malmö“. Es war darin vereinbart worden, daß die siegreichen deutschen Truppen sich aus Jütland und den Herzogtümern zurückziehen, und daß die Herzogtümer selbst ihre eigene provisorische Landesregierung verlieren und dafür eine aus fünf Mitgliedern bestehende Kommission erhalten sollten, deren zwei von Dänemark, zwei von Preußen, und der fünfte von den beiden kontrahierenden Mächten zusammen zu ernennen waren. Zugleich wurden alle seit den Märztagen von den schleswig-holsteinischen Autoritäten erlassenen Gesetze und Verordnungen für ungültig erklärt. Dieser Waffenstillstand rief in ganz Deutschland die größte Entrüstung hervor. Die Landesversammlung von Schleswig-Holstein protestierte. Das Nationalparlament in Frankfurt, das durch dieses Vorgehen Preußens die Ehre Deutschlands schwer geschädigt und seine eigene Autorität mißachtet sah, beschloß am 5. September, den Waffenstillstand nicht anzuerkennen und die Sistierung der darin stipulierten Maßregeln zu verlangen. Aber nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, auf Grund dieses Beschlusses ein neues Reichsministerium zu bilden, und sich vor dem Wagnis scheuend, die Autoritätsfrage zwischen ihm und Preußen auf die Spitze zu treiben, widerrief das Parlament am 16. September den Beschluß vom 5. mit der Erklärung, daß die Vollziehung des Waffenstillstandes von Malmö nun nicht mehr zu hindern sei. Diese Erklärung, welche den Sympathien des deutschen Volkes ins Gesicht zu schlagen schien, verursachte eine ungeheure Aufregung, deren sich die revolutionären Führer in Frankfurt und der Umgegend sogleich bemächtigten. Schon am nächsten Tage wurde auf der Pfingstweide bei Frankfurt eine große Volksversammlung gehalten. Aufregende Reden stachelten die Leidenschaften der Menge aufs äußerste an, und es wurden Beschlüsse gefaßt, welche die Mitglieder der Majorität des Nationalparlaments als Hochverräter an der deutschen Nation brandmarkten. Von allen Seiten kamen Zuzüge bewaffneter Demokraten; man versuchte einen Gewaltstreich gegen das Parlament, um es zur Zurücknahme der verhaßten Erklärung zu zwingen oder die als Hochverräter bezeichnete Majorität auszutreiben. Zwei hervorragende konservative Parlamentsmitglieder, der Graf Auerswald und der Prinz Lichnowski, fielen den aufgeregten Volkshaufen in die Hände und wurden ermordet, und dann folgte ein Kampf in den Straßen von Frankfurt, in dem die Aufständischen bald den rasch herbeigezogenen Truppen unterlagen.

Als ich auf meinem Wege nach Eisenach in Frankfurt ankam, biwakierten die siegreichen Truppen auf den Straßen um ihre Wachtfeuer; die Barrikaden waren noch nicht ganz hinweggeräumt; das Pflaster war noch mit Blutspuren befleckt; überall hörte man den schweren Tritt von Patrouillen. Nur mit Mühe machte ich meinen Weg nach dem „Gasthof zum Schwan“, wo ich einer Verabredung [96] gemäß einige Heidelberger Studenten treffen sollte, um in ihrer Gesellschaft die Reise nach Eisenach[4] fortzusetzen. Gedrückten Herzens saßen wir bis tief in die Nacht zusammen, denn wir alle fühlten, daß die Sache der Freiheit und der Nationalsouveränität einen furchtbaren Schlag erlitten hatte. Die königlich preußische Regierung hatte dem Nationalparlament, das die Souveränität des deutschen Volkes repräsentierte, erfolgreich Schach geboten. Diejenigen, die sich „das Volk“ nannten, hatten ein Attentat gemacht auf die aus der Revolution hervorgegangene Verkörperung der Volkssouveränität, und[5] diese hatte gegen den Haß des Volkes Schutz suchen müssen bei der bewaffneten Macht der Fürsten. Damit war der im März begonnenen Revolution tatsächlich[6] das Rückgrat gebrochen. So weit sahen wir freilich noch nicht. Doch fühlten wir, daß großes Unheil geschehen war. Nur richtete der jugendliche Mut sich an der Erwartung auf, daß das Verlorene durch eine günstige Wendung der Dinge, und besonders durch energische und wohlgeleitete Aktionen wieder gewonnen werden könnte.

Am nächsten Tage besuchte ich mit meinen Freunden die Galerie der Paulskirche, in der das Nationalparlament saß. Mit der tiefen Ehrfurcht, deren Organ, um mich in der Sprache der Phrenologie auszudrücken, bei mir immer sehr stark entwickelt gewesen ist, betrat ich die historische Stätte, auf der sich in jenen Tagen das Schicksal der Revolution von 1848 so traurig abspiegelte: Auf der „Rechten“ die Männer, denen es zumeist darum zu tun war, die alten „vormärzlichen“ Zustände wieder zurückzuführen, mit dem Lächeln des Triumphes auf den Lippen; im „Zentrum“ die Anhänger der mehr oder minder liberalen konstitutionellen Monarchie von der steigenden Angst des Zweifels gequält, ob sie die revolutionäre Demokratie bekämpfen könnten, ohne die absolutistische Reaktion übermächtig zu machen; auf der „Linken“ die Demokraten und Republikaner mit dem drückenden Bewußtsein, daß die Massen, in denen sie die Quelle ihrer Macht finden sollten, sie durch einen wilden Ausbruch schwer kompromittiert und der Reaktion die gefährlichsten Waffen in die Hände geliefert hatten.

Ich erinnere mich wohl der Männer, deren Anblick ich am begierigsten suchte. Auf der Rechten war es Radowitz, dessen fein geschnittenes, etwas orientalisch angehauchtes Antlitz wie das verschlossene Buch der Geheimnisse der Reaktionspolitik erschien; im Zentrum Heinrich von Gagern mit seiner imposanten Gestalt und seinen scheinbar gewitterschweren Brauen; auf der Linken der Silenuskopf Robert Blums, der wohl als das Ideal eines Volksmannes gelten konnte, und die kleine eingeschrumpfte Figur des alten Ludwig Uhland, dessen Lieder wir so oft gesungen, und der nun mit so rührender Treue zu dem stand, was er als das gute Recht seines Volkes erkannte.

Am Abend gings weiter nach Eisenach, und bald fand ich mich inmitten einer ebenso heiteren wie anziehenden Gesellschaft. Das freundliche Städtchen Eisenach, am Fuße der Wartburg liegend, wo Luther die Bibel in gutes Deutsch übersetzt und dem Teufel das Tintenfaß an den Kopf geworfen, war schon von der alten Burschenschaft als Schauplatz ihrer großen Demonstrationen gewählt worden wenige Jahre nach den Freiheitskriegen, als es galt, Fürsten und Völker an die in [97] bedrängter Zeit gemachten Versprechungen und erregten Hoffnungen zu erinnern. Auch im Frühling 1848 hatte sich bereits eine Studentenversammlung dort eingefunden, ohne jedoch bestimmte Resultate ihrer Verhandlungen zu hinterlassen. Der Zweck unseres Studentenkongresses im September nun bestand hauptsächlich in der Bildung einer nationalen Organisation der deutschen Studentenschaften mit einem Vorort, um gemeinsames Auftreten und Handeln gelegentlich zu erleichtern. Dann sollten auch allerlei Reformen zur Sprache kommen, die auf den Universitäten nötig seien, von denen jedoch, soviel ich mich erinnern kann, niemand sich ganz klare Rechenschaft geben konnte. Wir hielten unsere Sitzungen in dem Saale der „Klemda“, einem Vergnügungsort, wo wir uns parlamentarisch organisierten, so daß das Reden in aller Ordnung vor sich gehen konnte. An oratorischen Leistungen fehlte es denn auch keineswegs. Da fast alle deutschen Universitäten, die österreichischen eingeschlossen, Deputierte zu diesem Studentenkongreß geschickt hatten, so war die Versammlung recht zahlreich und enthielt viele junge Leute von ungewöhnlicher Begabung. Diejenigen, die vor allen anderen die Aufmerksamkeit der Versammlung sowie des Publikums auf sich zogen, waren die Wiener, von denen sich neun oder zehn eingefunden hatten. Sie erschienen alle in der schmucken Uniform der damals weitberühmten „akademischen Legion“ – schwarze Filzhüte mit Straußenfedern; dunkelblaue Röcke mit einer Reihe schwarzer glänzender Knöpfe; schwarz-rot-goldene Schärpen; hellgraue Hosen; Schleppsäbel mit stählernem durchbrochenem Korbgriff; silbergraue Radmäntel mit Rot gefüttert. Diese Uniform war überaus kleidsam und hatte etwas Ritterliches. Auch schien man in Wien darauf bedacht gewesen zu sein, die hübschesten Leute für den Studentenkongreß auszuwählen; wenigstens waren diese Deputierten fast alle junge Männer von auffallender Schönheit, hochgewachsen und bärtig, meist etwas älter als wir andern. Als die Bürger von Eisenach, die uns überhaupt mit der herzlichsten Freundlichkeit empfangen hatten, uns einen Ball gaben, schien alle Konkurrenz mit den Wienern um die Gunst des schönen Geschlechts vergeblich. Die Wiener zeichneten sich auch keineswegs nur durch ihre äußere Erscheinung aus. Sie hatten bereits eine Geschichte, die sie zum Gegenstande allgemeinen Interesses machte und in hohem Grade an die Phantasie appellierte.

Obgleich in mehreren Universitätsstädten die Studenten bei dem ersten Ausbruch der revolutionären Bewegung mehr oder minder in den Vordergrund getreten waren, so hatten sie doch nirgendwo eine so hervorragende und wichtige Rolle gespielt wie in Wien. Ihnen war in großem Maße die Erhebung zu verdanken, die den Fürsten Metternich stürzte. Sie, als „akademische Legion“ organisiert, die, wenn ich nicht irre, gegen 6000 Mann zählte, bildeten den Kern der bewaffneten Macht der Revolution. In dem „Zentralkomitee“, das aus einer gleichen Anzahl von Studenten und Mitgliedern der Bürgergarde bestand, und das den Volkswillen der Regierung gegenüber geltend machte, übten sie den entscheidenden Einfluß aus. Von allen Teilen des Landes her kamen Deputationen von Bürgern und Bauern, um der „Aula“, dem Hauptquartier der Studenten, dieser plötzlich erstandenen und im Volksglauben [98] allmächtigen Autorität, ihre Beschwerden und Bitten vorzulegen. Als das Ministerium Pillersdorf-Latour ein neues Preßgesetz erließ, das zwar die Zensur aufhob, aber doch noch mancherlei Beschränkungen enthielt, forderte Pillersdorf die Studenten ausdrücklich auf, über das Gesetz ihr Urteil auszusprechen; und es waren die Studenten, die am 15. Mai 1848 an der Spitze des bewaffneten Volkes durch ihre entschlossene Haltung der Militärgewalt gegenüber die Regierung zwangen, eine oktroyierte Verfassung zurückzunehmen und die Berufung einer konstituierenden Versammlung zu verheißen. Verschiedenen Versuchen der Regierung gegenüber, die akademische Legion aufzulösen, behaupteten die Studenten sich siegreich. Ja, sie zwangen endlich das Ministerium, in die Entfernung des Militärs aus der Hauptstadt und in die Bildung eines „Sicherheitsausschusses“ zu willigen, der vornehmlich aus Mitgliedern der Studentenschaft bestand, und dem eine unabhängige und so umfassende Machtvollkommenheit übertragen wurde, daß er in wichtigen Dingen als fast gleichberechtigt neben dem Ministerium stand; – so durfte z. B. ohne seine Zustimmung keine Militärmacht zur Verwendung kommen. Man hätte ohne große Übertreibung sagen können, daß eine Zeitland die Wiener Studenten Österreich regierten.

Es war daher nicht zu verwundern, daß wir die Wiener Legionäre, die in so kurzer Zeit so viel Geschichte gemacht, als die Helden des Tages anstaunten und mit begieriger Aufmerksamkeit ihren Erzählungen lauschten von ihren eigenen Taten und von dem Stande der Dinge in Österreich. Leider ließen diese Erzählungen weitere schwere Kämpfe, wenn nicht gar ein tragisches Ende voraussehen, und unsere Wiener Freunde waren sich dessen wohl bewußt. Sie machten sich keine Illusion darüber, daß die Siege Radetzkis in Italien über die Heere des Piemonteser Königs Karl Albert dem Heere neues Prestige und der reaktionären Hofpartei neue Macht gaben; daß diese Partei planmäßig die Czechen gegen die Deutschen hetzte und gebrauchte; daß durch die Gegenwart der von den Studenten selbst verlangten konstituierenden Versammlung in der Hauptstadt die revolutionären Autoritäten an Ansehen schwer gelitten hatten; daß in der Bürgergarde und dem Sicherheitsausschuß selbst unheilvolle Zwistigkeiten ausgebrochen waren; daß die Hofpartei von all diesen Dingen Vorteil ziehe und die erste günstige Gelegenheit ergreifen werde, mit allen Früchten der Revolution im allgemeinen und mit der Studentenschaft insbesondere aufzuräumen, und daß es bald zu einem blutigen Entscheidungskampfe kommen müsse.

Diese Vorahnungen legten sich zuweilen wie finstere Schatten auf unsere sonst so heitere Geselligkeit, und es bedurfte der ganzen Elastizität des Jugendmuts, um sie mit der Hoffnung hinweg zu schmeicheln, daß schließlich doch wohl noch alles gut ausschlagen werde. Plötzlich, während wir andern noch allerlei Ausflüge um Eisenach her und andere Festlichkeiten planten, erklärten unsere Wiener Freunde, daß von der „Aula“ brieflich empfangene Nachrichten über die drohende Lage der Dinge sie nötigten, sofort nach Wien zurück zu kehren, und sie schieden von uns mit dem eigentlichen „morituri salutamus“. – „In wenigen Tagen werden wir in Wien eine Schlacht zu schlagen haben“, sagte einer, „und dann könnt ihr auf den Totenlisten nach unseren Namen [99] suchen.“ Ich sehe ihn noch vor mir – er war ein bildschöner Mann namens Valentin –, der diese Worte sprach. So zogen die bewunderten Legionäre von dannen, und wir mochten nicht daran denken, wie furchtbar und wie schnell diese Voraussagung sich erfüllen könne.

Bald mußten auch wir Zurückgebliebenen an die Heimreise denken. Der einzige praktische Zweck, den der Studentenkongreß haben konnte, war erfüllt. Die allgemeine Organisation der deutschen Studentenschaft war beschlossen und der Vorort bezeichnet. Anlaß zu weitern Sitzungen gab es es nicht. Auch fing bei mehreren von uns das Geld an auszugehen. Aber mit jeder Stunde wurde die Trennung schwerer. Wir hatten einander so lieb gewonnen und unser Zusammensein war so genußreich, daß wir unsere ganze Erfindungsgabe anstrengten, um wenigstens noch ein paar Tage zu gewinnen. So wurde denn unter denen, die sich diesem Plan anschließen wollten, und ihrer waren nicht wenige, ein Zensus des noch vorhandenen Vermögens aufgenommen, um daraus eine gemeinsame Kasse zu bilden, aus der die Kosten des weitern Zusammenseins bestritten werden sollten, nach Zurücklegung des für die Heimreise eines jeden nötigen Betrages. Auf diese Weise gewannen wir wirklich noch einige Tage, die wir uns dann anschickten, nach Herzenslust zu genießen. Sofort wurden einige Ausflüge geplant, deren einer beinahe ein böses Ende genommen hätte.

Eines Nachmittags zogen wir zur Wartburg hinauf. Dort sollten ein paar Fäßchen Bier geleert und ein Imbiß verzehrt werden, und dann wollten wir nach Einbruch der Dunkelheit mit Fackelbeleuchtung den Berg herunter nach Eisenach zurückmarschieren. Da die lustigen Studenten unterdessen große Lieblinge der Eisenacher geworden waren, so begleitete uns eine bunte Menge nach der Wartburg, um sich an unserem Vergnügen mit zu freuen. Darunter waren weimarische Soldaten in nicht geringer Zahl, die in Eisenach in Garnison lagen. Nun wurden während unserer Fahrt von einigen von uns, wie das eben der Geist der Zeit mit sich brachte, politische Reden gehalten; und da die Erbitterung gegen die Fürsten, besonders gegen den König von Preußen, wegen des Malmöer Waffenstillstandes noch große Wogen schlug, so fielen einige dieser Reden in einen entschieden republikanischen Ton. Allmählich erhitzten sich die Köpfe, und ehe wir’s uns versahen, warfen mehrere der Soldaten ihre Mützen in die Luft, ließen die Republik hochleben und erklärten, daß sie sich unter den Befehl der Studenten stellen wollten. Unterdessen war der Abend gekommen, und die ganze Gesellschaft zog mit brennenden Fackeln und patriotische Lieder singend die waldige Höhe hinunter gen Eisenach. Das Schauspiel war reizend, aber die durch die Reden bei den Soldaten hervorgebrachte Wirkung hatte mir doch die Lust daran einigermaßen verdorben. So viel ich wußte, bestand kein Einverständnis, das einem Aufstande in Thüringen irgendwelche Unterstützung gesichert haben würde, und harmlose Leute, besonders Soldaten, zu einem plan- und aussichtslosen revolutionären Versuch anzuregen, der für sie die schlimmsten Folgen haben konnte, schien im höchsten Grade verwerflich. So sprach ich mich auch den Freunden gegenüber aus, in deren unmittelbarer Gesellschaft ich in Eisenach wieder einzog. Indes wenn es, wie wahrscheinlich, bei dem Geschehenen [100] blieb, so war wohl nichts Schlimmes zu befürchten; und mit dieser Beruhigung ging ich zu Bett, nicht wissend, was unterdessen geschah. Am nächsten Morgen hörte ich folgendes: Ein großer Teil der Menge, die an unserm Wartburgfest teilgenommen, hatte, nachdem der Zug Eisenach erreicht, sich nach einem großen Vergnügungslokal „Die Erholung“ genannt, begeben; dort war das Redehalten fortgesetzt worden; die Zahl der Soldaten unter den Zuhörern hatte sich bedeutend vermehrt; diese hatten dann so ziemlich einstimmig und in immer tumultuarischerer Weise die Republik hochleben lassen und schließlich einigen herbeigekommenen Offizieren, die ihnen sich zu entfernen befahlen, förmlich den Gehorsam verweigert. Während der Nacht hatte sich die Aufregung unter den Soldaten noch verbreitet und gesteigert, bis sich tatsächlich die militärische Besatzung von Eisenach im Zustande der Meuterei befand. Die Offiziere hatten, wie es schien, alle Kontrolle verloren. Am nächsten Morgen kamen Trupps von Soldaten zu uns mit dem Verlangen, daß die Studenten sich an ihre Spitze stellen sollten. So war die Sache nun von den Aufwieglern von gestern nicht gemeint gewesen, und diese mußten sich nun alle Mühe geben, weitern Unfug zu verhüten. Von Weimar, wohin die Behörden das Geschehene berichtet hatten, kam telegraphischer Befehl, daß die in Eisenach stehenden Kompagnien sofort per Eisenbahn dorthin befördert werden sollten. Aber die Soldaten weigerten sich standhaft, zu gehen; sie wollten bei den Studenten bleiben. Nun wurde die Bürgerwehr von Eisenach aufgeboten, um die Soldaten zum Abmarsch zu zwingen. Aber als die Bürgerwehr in Reih und Glied auf dem Markt aufgestellt war, zeigte sie nicht die geringste Lust, einen solchen Auftrag zu übernehmen. Auch sie amüsierte sich damit, den Studenten Hochrufe zu bringen. Die Verlegenheit wurde immer größer. Endlich gelang es uns, die Offiziere der meuterischen Truppen zu überreden, das ganze sei nur ein lustiger und leichtsinniger Studentenstreich gewesen, und man müßte es den Soldaten nicht anrechnen, daß sie in der allgemeinen Heiterkeit des Augenblicks und gar im Rausch mit den Studenten fraternisiert hätten. Die Offiziere ließen sich denn auch herbei, scheinbar wenigstens, die Sache von der scherzhaften Seite anzusehn, und wir versprachen ihnen, die Soldaten zum pflichtschuldigen Gehorsam zurück zu bringen, wenn sie uns von ihrer Regierung das Versprechen verschaffen wollten, daß den von den Studenten zu einem tollen Streich verführten Leuten nichts Schlimmes geschehen werde. Dies Versprechen kam sofort, und nun ließen sich die Soldaten auch bald von uns überreden, sich ruhig wieder unter die Fahne zu stellen. Glücklicherweise war es damals in deutschen Kleinstaaten noch möglich, derartige Dinge auf so gemütliche Weise beizulegen. In Preußen würde ein solcher Vorfall zu sehr ernsten Folgen geführt haben.

Nach dieser Leistung fühlten wir, daß es nun wirklich Zeit sei, Eisenach zu verlassen und nach Hause zu gehen. Auch waren unsere Mittel so ziemlich erschöpft. Am Abend vor unserer Abreise wurde noch eine große „Kneiperei“ im Ratskeller gehalten. Einer von uns, wenn ich mich recht erinnere, ein Königsberger, der sich durch das Tragen einer polnischen Mütze und durch extreme revolutionäre Äußerungen [101] auszeichnete, machte den Vorschlag, daß wir, ehe wir auseinander gingen, noch eine Ansprache an das deutsche Volk erlassen sollten, um demselben unsere Meinung über die obwaltende Sachlage darzulegen, und es zu schlafloser Wachsamkeit und energischem Widerstande gegen die vordringende Reaktion zu ermahnen. Daß eine solche Proklamation in solchem Augenblick von so sehr jungen Leuten ausgehend etwas Komisches haben könne, schien niemandem von uns einzufallen. Der Antrag wurde mit größtem Ernst erwogen und gebilligt, die Adresse sofort entworfen, diskutiert und angenommen, um dann, mit den Unterschriften eines Ausschusses, zu dem auch ich gehörte, dieselbe Nacht noch gedruckt, um an dem Rathause und anderen Plätzen angeschlagen und an mehrere Zeitungen versandt zu werden. Nachdem diese Tat getan war, wurden noch mehrere Lieder gesungen, und dann nahmen wir unter zärtlichen Umarmungen und Beteuerungen ewiger Freundschaft voneinander Abschied. In der Frühe des nächsten Morgens zerstreuten wir uns nach allen Richtungen.

Auf dem Heimwege wurde mir recht nüchtern zumute. In Frankfurt fand ich noch den Belagerungszustand und eine dumpfe Atmosphäre der Besorgnis. An einem trüben und feucht kalten Tage fuhr ich den Rhein hinunter. Unter den Passagieren des Dampfers sah ich kein einziges bekanntes Gesicht. Als ich so stundenlang allein und fröstelnd auf dem Deck saß, möglichst nahe bei dem Schornstein, um mich zu erwärmen, kamen mir, außer meiner Unruhe über den allgemeinen Gang der Dinge, zum erstenmal Gedanken über meine persönliche Sicherheit. Ich erinnerte mich des Wortlautes der Ansprache, die wir in Eisenach veröffentlicht und die manchen scharfen Ausfall gegen die Majorität des Nationalparlaments und gegen die preußische Regierung enthielt. Ebenso erinnerte ich mich, in den Blättern gelesen zu haben, daß das Parlament infolge des Septemberaufstandes ein Gesetz erlassen hatte, das unter anderem Beleidigungen seiner Mitglieder mit schweren Strafen belegte. Hatten wir nicht durch unsere veröffentlichte Ansprache das so definierte Verbrechen begangen? Unzweifelhaft; und so phantasierte ich mich denn nach und nach in die Erwartung hinein, daß man mich nach meiner Ankunft in Bonn baldigst verhaften und wegen eines Preßattentats auf das Nationalparlament und auf die preußische Regierung vor Gericht stellen werde. Ich kam leicht zu dem Entschluß, diesem Schicksal mutig ins Auge zu sehen. Aber was mich doch sehr verdroß, war der Gedanke, daß unsere Eisenacher Ansprache wahrscheinlich gar keinen anderen Effekt haben werde als diesen. Meine Besorgnis, verhaftet und prozessiert zu werden, erwies sich auch als ganz überflüssig. Wenn unsere Proklamation wirklich den Regierungen zur Kenntnis gekommen war, so hielten diese es wohl nicht der Mühe wert, darüber noch weiteres Geräusch zu machen; und ich zog daraus die nicht gerade schmeichelhafte Lehre, daß wir jungen Menschen möglicherweise andern Leuten viel weniger wichtig erscheinen mochten als uns selbst. Bald jedoch sollte es nun wirklich zu ernsteren Konflikten kommen.

Inhaltschwere Nachrichten von Wien bestätigten die Vorhersagungen unserer Freunde in Eisenach. Ungarn hatte in den Märztagen [102] einen höheren Grad staatlicher Selbständigkeit innerhalb des österreichischen Kaiserreichs gewonnen, als es früher besessen. Es hat sein eigenes in Pest residierendes Ministerium, ohne dessen Gegenzeichnung keine Verfügung des Kaisers für Ungarn Gültigkeit haben sollte. Ohne Zustimmung der gesetzgebenden Gewalt Ungarns sollten weder ungarische Truppen außerhalb seiner Grenzen verwendet werden, noch nicht ungarische Truppen seinen Boden betreten. Ein Erzherzog-Palatin sollte als Vizekönig von Ungarn seine Residenz in Pest haben. Außerdem sollten die deutschen und slavischen bis dahin zu Ungarn gezählten Nebenländer der ungarischen Regierung als integrierende Landesteile unterworfen sein. – Dieser halbwegs unabhängige ungarische Staat war der österreichischen Hofpartei ein Dorn im Auge. Seine Unterjochung wurde durch eine vom Hofe begünstigte Empörung des Banus von Kroatien, Jellachich, gegen die Oberhoheit Ungarns vorbereitet. Im Juli fand sich der Kaiser gezwungen, Jellachich zu desavouieren und zum Hochverräter zu erklären, aber im September setzte er ihn als einen treuen und vertrauten Diener der Krone in all seine früheren Würden und Gewalten wieder ein. Die ungarische Regierung, Stände und Ministerium, erhob ihren Protest dagegen, worauf der Erzherzog-Palatin sein Amt niederlegte. Die kaiserliche Regierung enthüllte nun ihren Plan, Ungarn wieder in direkte Abhängigkeit zu bringen, indem sie den Grafen Lemberg als kaiserlichen Kommissär nach Pest schickte. Diesem sollten einem kaiserlichen Befehl gemäß alle ungarischen Behörden und Truppen Gehorsam leisten. Da dieser Befehl natürlich nicht die Gegenzeichnung eines ungarischen Ministers trug, so wurde er von den ungarischen Ständen für verfassungswidrig und ungültig erklärt. An die Stelle des abgedankten Palatins setzten die Stände eine Regierungskommission, mit dem Grafen Bratthyoni an der Spitze. Lemberg wurde bei seinem Einzuge in Pest von einem aufgeregten Volkshaufen getötet. Nun erließ der Kaiser von Österreich eine Proklamation, durch die er die ungarischen Landstände für aufgelöst und alle ohne seine Zustimmung erlassenen Gesetze für ungültig erklärte. Auch ernannte er Jellachich zu seinem unumschränkten Bevollmächtigten in bezug auf alle ungarischen Angelegenheiten. Damit war der Bruch vollständig geworden. Die Ungarn rüsteten sich zum Kampf, und als am 5. und 9. Oktober deutsche Truppen zur Unterwerfung der Ungarn aus Wien abgeschickt werden sollten, erhob sich das Wiener Volk, die Studenten an der Spitze, mit dem Gefühl, daß der Versuch, die konstitutionellen Rechte der Ungarn zu zerstören, zugleich gegen die Rechte der Deutsch-Österreicher und gegen die Früchte der Revolution überhaupt gerichtet sei. Nach blutigem Kampf behaupteten die Aufständischen das Feld. Der Kriegsminister Latour wurde von einem wütenden Volkshaufen gehenkt. Der Kommandant der Besatzung von Wien, Graf Auersperg, fand sich genötigt, die Stadt zu räumen, nahm aber draußen eine feste Stellung ein und wurde bald durch große Truppenmassen unter Jellachich und Windischgrätz verstärkt. Unter dem Oberkommando des Fürsten Windischgrätz griff die Armee am 23. Oktober die Stadt Wien an und nach bitterem, blutigem Ringen überwand sie am 31. Oktober den letzten Widerstand. Wien wurde dann der unbeschränktesten Willkür der [103] Militärherrschaft unterworfen, und damit hatte die revolutionäre Bewegung in Deutsch-Österreich ein Ende. Mehrere der ritterlichen Legionäre, mit denen wir in Eisenach so schöne Tage verlebt, waren in der Schlacht gefallen, die Überlebenden gefangen oder flüchtig.

Mit dieser Katastrophe traf auch eine entscheidende Wendung der Dinge in Preußen zusammen. Bis dahin hatte die preußische Regierung sich in konstitutionellen Formen bewegt und das Ministerium, an dessen Spitze der aufrichtig liberale General v. Pfuel stand, hatte sich in vertrauenerweckender Weise bereit gezeigt, die im März gegebenen Versprechen zur Wahrheit zu machen. Der König selbst aber und seine nächste Umgebung hatten bei verschiedenen Gelegenheiten eine Stimmung laut werden lassen, die mit jenen Versprechen wenig übereinstimmte und schwere Befürchtungen hervorrief. Endlich am 31. Oktober gab die preußische konstituierende Versammlung der allgemeinen Sympathie mit der kämpfenden Bevölkerung von Wien Ausdruck, indem sie beschloß, die Regierung Sr. Majestät aufzufordern, „bei der deutschen Zentralgewalt schleunige und energische Schritte zu tun, damit die in den deutschen Ländern Österreichs gefährdete Volksfreiheit in Wahrheit und mit Erfolg in Schutz genommen und der Friede hergestellt werde.“ Der Ministerpräsident General von Pfuel stimmte für diesen Antrag. Am nächsten Tage nahm er seine Entlassung, und der König berief darauf ein entschiedenes Reaktionsministerium, an dessen Spitze er den Grafen Brandenburg stellte, und dessen leitender Geist Herr von Manteuffel wurde. Die konstituierende Versammlung legte Protest ein, aber umsonst. Am 9. November präsentierte sich das Ministerium Brandenburg mit einer königlichen Botschaft, welche die konstituierende Versammlung bis zum 27. November vertagte und ihre Sitzungen nach der Stadt Brandenburg verlegte. Mit großer Mehrheit sprach die Versammlung der Regierung das Recht zu einer solchen Maßregel ab; aber schon am nächsten Tage wurde das Haus mit großen Militärmassen unter General Wrangel umstellt, die den Befehl hatten, jeden heraus aber niemanden hinein zu lassen. Am 11. November wurde die Bürgerwehr von Berlin aufgelöst und in wenigen Tagen entwaffnet. Die konstituierende Versammlung zog von Lokal zu Lokal, beständig von der Militärmacht gejagt, bis sie endlich am 15. November in ihrer letzten Sitzung einen Steuerverweigerungsbeschluß faßte, indem sie erklärte, „daß das Ministerium nicht berechtigt sei, über die Staatsgelder zu verfügen und Steuern zu erheben, solange die Nationalversammlung nicht ungestört in Berlin ihre Beratungen fortzusetzen vermöge.“

Diese Ereignisse riefen im ganzen Lande große Aufregung hervor. Sie schienen den Beweis zu liefern, daß die reaktionäre Hofpartei entschlossen sei, auf gewaltsamem Wege mit den sogenannten „Märzerrungenschaften“ möglichst schnell aufzuräumen. Uns Demokraten war es zweifellos, daß die konstituierende Versammlung, indem sie sich gegen den „Staatsstreich“ auflehnte, durchaus in ihrem Rechte sei. Wir tadelten sie nur dafür, daß sie, statt von ihrem Rechte den vollsten Gebrauch zu machen und das Volk ausdrücklich zu den Waffen zu rufen, sich im Augenblicke dieser großen Entscheidung auf die schwachmütige Politik des „passiven Widerstandes“ beschränkt habe. Doch glaubte [104] man, auch dieser passive Widerstand, mit dem Mittel der Steuerverweigerung durchgeführt, werde die Regierung durch Aushungern zum Nachgeben zwingen – vorausgesetzt, daß die Steuerverweigerung allgemein und mit hinreichend langatmiger Ausdauer ins Werk gesetzt werde. Eine Schwierigkeit, die sofort in die Augen fiel, bestand darin, daß die Durchführung dieses Planes eine große Übereinstimmung der Gesinnung im Volke und einen hohen Grad von Furchtlosigkeit bei den einzelnen Bürgern erforderte, und daß die bedeutendsten Steuerzahler wohl nicht mit der revolutionären Politik der Demokraten sympathisierten. Immerhin dachte man, durch den Druck der öffentlichen Meinung viel ausrichten zu können, und so wurden allenthalben Volksversammlungen gehalten und Beschlüsse gefaßt.

Die Demokraten in Bonn, unter denen wir Studenten eine hervorragende Rolle spielten, ließen es denn auch an solchen Demonstrationen nicht fehlen. Eine Steuerverweigerungserklärung seitens der Studenten sah einigermaßen wie ein Spaß aus, da diese ja keine Steuern zahlten. Das von uns zu lösende Problem bestand also darin, andere Leute vom Steuerzahlen abzuhalten, und diese Aufgabe faßten wir im weitesten Sinne auf. Es schien uns, wir könnten einen wirkungsvollen Schlag führen, indem wir vorerst die „Schlacht- und Mahlsteuer“, eine Steuer auf hereingebrachte Lebensmittel, die an den Stadttoren erhoben wurde, abschafften. Zu diesem Ende vertrieben wir die Steuerbeamten von den Toren. Dies gefiel den Bauern, die auch sogleich in großer Zahl bereit waren, ihre Produkte steuerfrei in die Stadt zu bringen. Daraus entstanden Konflikte mit der Polizei, in denen wir jedoch zu Anfang leicht Meister blieben.

Nun schien es uns nötig, uns der Maschinerie der Steuerverwaltung in größerer Ausdehnung zu bemächtigen, und am nächsten Tage begab sich ein Komitee, von welchem auch ich ein Mitglied war, auf das Rathaus, um von demselben Besitz zu ergreifen. Der Bürgermeister empfing uns recht höflich, hörte ruhig an, was wir ihm über die bindende Kraft der von der höchsten gesetzgebenden Autorität beschlossenen Steuerverweigerung auseinandersetzten, und suchte dann, uns mit allerlei ausweichenden Redensarten hinzuhalten. Endlich wurden wir ungeduldig und verlangten eine augenblickliche und bestimmte Antwort, nach der sich unsere weiteren Maßregeln richten würden. Plötzlich bemerkten wir eine Änderung in des Bürgermeisters Gesichtsausdruck. Er schien auf etwas zu horchen, das draußen vorging, und dann, immer noch höflich, aber mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen, sagte er: „Meine Herren, die Antwort wird Ihnen wohl jemand anders geben. Hören Sie das?“ Nun horchten auch wir auf und hörten den noch entfernten aber sich rasch nähernden Schall einer Militärmusik, die im Marschtakt die preußische Nationalhymne spielte: „Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben!“ Immer näher klang die Musik eine vom Rhein führende Straße herauf. In wenigen Minuten erscholl sie auf dem Markt und hinter ihr der schwere Marschtritt einer Infanteriekolonne, die bald den ganzen Marktplatz zu füllen schien. Unsere Unterredung mit dem Bürgermeister war natürlich damit zu Ende, und wir fanden es seinerseits recht anständig, daß er uns überhaupt von sich ließ. [105]

Das Erscheinen des Militärs erklärte sich leicht. Sobald wir unsern praktischen Steuerverweigerungsversuch ins Werk gesetzt, hatten die Behörden von Bonn, wo damals kein Militär lag, an die nächstliegenden Garnisonplätze um Hülfe telegraphiert, und ihrem Notruf war prompt entsprochen worden. Damit kam nun unsere Weise der Steuerverweigerung zu einem jähen Ende. Das Militär besetzte sofort die Stadttore, und die Schlacht- und Mahlsteuer wurde erhoben wie zuvor. Abends hielten wir eine Versammlung des demokratischen Komitees mit Hinzuziehung vertrauter Leute, in einem Lokal, „der Römer“ genannt, um zu beraten, was zu tun sei. Der erste Impuls war, die Soldaten anzugreifen und, wo möglich, aus der Stadt zu jagen. Das wäre ein verzweifeltes Unternehmen gewesen, aber es wurde ernstlich in Betracht genommen. Nach reiferer Überlegung jedoch sahen wir alle ein, daß ein Kampf, selbst der erfolgreichste, in Bonn nur wirkliche Bedeutung gewinnen konnte als Teil einer umfangreichen Insurrektion. Nun war für den Rheinländer Köln die Hauptstadt, der natürliche Zentralpunkt aller politischen Bewegung. Dort also mußten wir unseren Zusammenhang suchen und von dort unser Losungswort holen. Wir hatten schon von Köln einen Bericht empfangen, daß dort eine fieberhafte Aufregung herrsche, und daß von den dortigen demokratischen Führern das Signal zu einer allgemeinen Schilderhebung zu erwarten sei; auf diese sollten wir uns möglichst schnell vorbereiten, aber jeden vereinzelten Aufstandsversuch vermeiden. Wir schickten einen Boten nach Köln, um die Freunde über das zu unterrichten, was bei uns vorgefallen war und weitere Instruktionen zu holen. Unterdessen trafen wir Vorkehrungen, um möglichst viele der Musketen der Bürgerwehr an einen bestimmten Ort zu bringen und Munition anzufertigen. Dieselbe Nacht noch hatten wir eine Menge von Leuten mit Kugelgießen und Patronenmachen beschäftigt.

Nun aber kamen beunruhigende Nachrichten über Dinge, die in der Nähe der Stadttore vorgingen. Draußen hatten sich nämlich Haufen von Landleuten aus den umliegenden Ortschaften gesammelt, zu denen die Kunde von dem Einmarsch der Soldaten in Bonn gedrungen war, und die nun die Demokraten und die Studenten in großer Bedrängnis glaubten. Die Bauern strömten herbei, um uns zu helfen. Manche von ihnen stellten sich wohl die Vertreibung der Truppen ebenso leicht vor wie die Vertreibung der Steuerbeamten von den Toren und waren voll von Kampflust. Wir hatten in der Tat Ursache zu besorgen, daß diese in die Stadt dringen und durch einen unvorsichtigen Streich uns unter den ungünstigsten Umständen in ein Straßengefecht verwickeln möchten. Jetzt galt es, diese Ungeduldigen eines Besseren zu belehren und sie mit der Mahnung nach Hause zu schicken, daß sie sich zum Kampf bereithalten und möglichst zahlreich zu uns stoßen möchten, sobald das Signal in Köln gegeben würde. Dies gelang nicht ohne Mühe. Die ganze Nacht blieb unser Komitee im Römer in Sitzung, auf die Rückkehr des nach Köln gesandten Boten wartend. Gegen Tagesanbruch gingen wir auseinander, um nach kurzer Ruhe uns an einem andern Platze zu versammeln. Die kriegerischen Vorbereitungen gingen unterdessen fort. Keiner von uns schlief in seinem [106] Hause, um nicht sogleich gefunden zu werden, falls die Behörden versuchen sollten, uns zu verhaften. Ich ruhte im Zimmer eines Freundes aus, inmitten von Musketen und Patronenkisten, die dort zur Verteilung bereitgehalten wurden.

Erst gegen Abend des nächsten Tages kam unser Bote von Köln zurück. Er berichtete, daß man sich dort den angesammelten Truppenmassen gegenüber nicht imstande fühle, mit irgendwelcher Aussicht auf Erfolg einen Schlag zu führen; daß man sich auf Fortsetzung des „passiven Widerstandes“ und weitere Agitation beschränkten werde, und daß man uns dringend empfehle, dasselbe zu tun und somit von allen gewaltsamen Versuchen, die jetzt nur schaden könnten, bis auf weiteres abzustehen. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als der Anweisung der Kölner folgend, unsern Grimm zu verbeißen und unsere Freunde auf dem Lande still zu halten. So geschah es bei uns, und so geschah es allenthalben im Königreich Preußen. Die konstituierende Versammlung hatte der Regierung einen unblutigen Sieg überlassen und der Steuerverweigerungsbeschluß blieb ein toter Buchstabe.

Den demokratischen Führern unter den Studenten jedoch schien der praktische Versuch, die Steuerverweigerung in Bonn in Szene zu setzen, übel vermerkt zu werden. Bald verbreitete sich das Gerücht, daß gegen drei oder vier von uns, unter andern gegen mich, Verhaftsbefehle erlassen worden seien. Ob es wirklich so war, weiß ich nicht, aber es wurde geglaubt, und unsere nicht kompromittierten Freunde gingen sofort ans Werk, das Unheil von uns abzuwenden. Durch verschiedene größere und kleinere Demonstrationen wußten sie unter den Bürgern der Stadt den Eindruck hervorzubringen, daß, wenn man uns ein Haar krümme, die ganze Studentenschaft Bonn verlassen werde. Da nun der Wohlstand der Stadt in großem Maße von der Anwesenheit der Studenten abhing, so versetzte diese Drohung die Bürger in nicht geringe Besorgnis. Viele von ihnen bestürmten den Bürgermeister mit der Bitte, daß er seinen ganzen Einfluß aufbieten möge, um durch die Erwirkung eines Versprechens von den höheren Behörden, daß uns nichts geschehen solle, das drohende Unglück abzuwenden. Wirklich wurde uns nach wenigen Tagen von unsern Freunden angekündigt, daß ein solches Versprechen erfolgt sei, und daß uns diesmal nichts geschehen solle. Wir kamen also aus den Verstecken, in denen wir uns eine kurze Weile verborgen gehalten, wieder hervor, und ich fuhr fort, für unsere Zeitung zu schreiben, in Versammlungen zu reden und Vorlesungen zu hören, soweit ich dafür Zeit fand. Doch wurden der Stunden, die ich für meine Fachstudien erübrigen konnte, immer weniger.

Nachdem er seinen Sieg über die konstituierende Versammlung gewonnen, fühlte der König sich stark genug, eine Verfassung für Preußen zu „oktroyieren“, d. h. aus eigener Macht ohne Beistimmung einer Volksvertretung zu verkünden. Diese Konstitution verordnete das Zweikammersystem. Die Kammern wurden sofort berufen, und Kinkel trat im Bonner Wahlkreise als Kandidat für die zweite Kammer, das Volkshaus, auf. Er wurde mit ansehnlicher Mehrheit gewählt und mußte bald darauf seinen Sitz einnehmen. Frau Johanna begleitete ihn nach [107] Berlin. Obgleich nun die beiden Ehegatten regelmäßige Beiträge für die Bonner Zeitung schickten, so fiel doch während ihrer Abwesenheit die tägliche Redaktion und damit eine schwere Last ungewohnter Arbeit mir zu.

Da die Bonner Zeitung nur über ein geringes Personal verfügte, so hatte ich nicht allein politische Artikel zu liefern, sondern auch manches von dem, was ein tägliches Blatt sonst noch seinen Lesern bieten muß, unter andern Dingen Theaterkritiken. Es hatte sich nämlich unter einem Direktor namens Löwe eine Bühne etabliert, die zwar nichts Großes, aber in verschiedenen Richtungen doch Anerkennenswertes leistete. Sie versuchte sich zuweilen sogar in leichten Opern. Der Bonner Zeitung, in welcher anfangs Frau Johanna Kinkel die dramatischen und musikalischen Aufführungen mit großer Sachkenntnis und ebenso großem Wohlwollen besprochen hatte, war eine Loge im zweiten Rang zur Verfügung gestellt. Diese Loge stand auch mir offen, und ich besuchte sie nicht nur, wenn meine journalistische Pflicht mich zu der Aufführung eines neuen Stückes rief, sondern zuweilen auch, wenn ich das Bedürfnis fühlte, mich von meinen vielen Arbeiten und Sorgen durch eine Zerstreuung ein wenig zu erholen. Ich muß nun hier das Geständnis machen, daß zu diesen Arbeiten und Sorgen auch noch eine Herzensangelegenheit getreten war, die mir eine bittere Selbstdemütigung bereitete. Dies hing so zusammen:

Ich hatte bis dahin niemals mit einem weiblichen Wesen außerhalb meines unmittelbaren Familienkreises in Beziehungen irgendwelcher Vertraulichkeit gestanden. Teils fühlte ich mich von keiner Neigung dazu getrieben, teils hatte mich auch meine hartnäckige Schüchternheit von allen weiblichen Bekanntschaften zurückgehalten. Endlich erreichte mich doch das Schicksal. Ich schwärmte wirklich für eine junge Dame. Sie war die Tochter eines kleinen Kaufmanns. Wir wollen sie Betty nennen. Ich war ihr freilich noch nie vorgestellt worden und hatte nie ein Wort mit ihr gewechselt. Nur am Fenster hatte ich sie sitzen sehen mit einer Stickerei oder, noch öfter, mit einem Buch in der Hand. An diesem Fenster war ich oft vorübergegangen, und gewöhnlich saß sie auf derselben Stelle. Zuweilen begegneten sich unsere Blicke, und ich fühlte dann, wie ich schnell und heftig errötete. Ich hielt sie für sehr schön, und von einem meiner Freunde, der sie kannte, hörte ich einmal, daß sie Shakespeare im Englischen lese, was mir einen hohen Begriff von ihrer Bildung und geistigen Begabung einflößte. Nach allem, was ich damals und später über sie erfuhr, war sie wirklich ein für ihren Stand ungewöhnlich gebildetes und in jeder Hinsicht vortreffliches Mädchen. Die schlaue, halb verschämte Weise, in welcher ich in der Gesellschaft jenes Freundes nicht selten die Rede auf Betty lenkte, war wohl geeignet, diesem den Verdacht zu geben, daß ich mich lebhaft für sie interessiere. Und aus Äußerungen, die er zuweilen bei solchen Gelegenheiten fallen ließ, glaubte ich schließen zu dürfen, daß Betty auch mich bemerkt habe und freundlich von mir denke. Dies gab natürlich meiner Schwärmerei immer frische Nahrung, und häufig erschien mir Betty in meinen wachen Träumen. Es war mein sehnlicher Wunsch, mit ihr bekannt zu werden und ihr näher zu kommen. Dazu bot sich eine überraschend günstige Gelegenheit. [108]

Eines Abends saß ich in meiner Theaterloge – Flotows „Martha“ wurde aufgeführt –, als ich zwei Damen in der vorderen Sitzreihe der nächsten Loge dicht neben mir Platz nehmen hörte. Ein paar Minuten später wandte ich mich um und ich traute meinen Augen kaum – mein Herz machte einen großen Sprung –, als ich Betty erkannte, nur durch die niedrige Scheidewand der Logenfront wie durch den Arm eines Lehnsessels von mir getrennt. Nun bemerkte ich, wie die beiden Damen in Bewegung gerieten und auf ihren Sitzen und in den Taschen ihrer Kleider nach etwas suchten, das sie offenbar nicht finden konnten. Ihre Unterhaltung, die ich zu verstehen vermochte, klärte mich auf. Sie hatten das Opernglas zu Hause auf dem Tisch liegen lassen. Jetzt bot sich mir die offenbare Gunst der Gelegenheit. Ich hielt ein Opernglas in meiner Hand. Was wäre natürlicher gewesen, als es den Damen mit einigen höflichen Worten anzubieten? Kam es nicht einer positiven Unart gleich, wenn ich diesen Akt der Höflichkeit unterließ? So nahm ich mich denn zusammen. Ich hatte mich schon halb umgewendet, als ich fühlte, wie eine glühende Röte mein Gesicht übergoß und das Herz mir bis in die Kehle schlug. Ich hätte kein Wort hervorbringen können. Männern gegenüber hatte ich meine kindische Schüchternheit einigermaßen überwunden; aber die Gegenwart dieses Mädchens machte mich hilflos. Und nun gar das scheue Geheimnis meiner schwärmerischen Neigung, das, wie ich glaubte, mir jetzt auf der Stirne geschrieben stand. Nein, ich konnte sie nicht anblicken und meine Zunge versagte den Dienst. Ich wandte mich wieder zurück, und dann saß ich da die ganze „Martha“ hindurch in brennender Seelenqual, kaum hörend und sehend, was vor mir und um mich her geschah, mich selbst verhöhnend, weil ich nicht den Mut hatte, das Glück zu ergreifen, welches mir das Schicksal in den Schoß warf. Endlich war die Oper zu Ende. Die Damen erhoben sich, um ihre Loge zu verlassen, und ich blickte ihnen nach, als sie mir bereits den Rücken gekehrt. Dann lief ich hinaus und die Selbstqual stürmte mit verdoppelter Schärfe auf mich ein. Es war meine Absicht gewesen, nach der Oper noch einmal die Frankonenkneipe zu besuchen, um mit einigen meiner Freunde zu reden. Aber ich schämte mich, diesen in die Augen zu sehen, obgleich sie nichts von meiner schmählichen Niederlage wußten. So machte ich denn einen langen einsamen Gang durch die finstere Nacht. Wie verhöhnte ich mich selbst wegen dessen, was ich eine kindische, elende, unbegreifliche Feigheit nannte! Wie oft sagte ich mir die Worte vor, die ich hätte an Betty richten sollen! Ich war entsetzlich mit mir selbst zerfallen und sah nur weggeworfenes Glück und eine Zukunft voll Reue und Selbstverachtung vor mir. Endlich richtete ich mich an dem feierlichen Vorsatz auf, nun ganz gewiß Betty anzureden und sie wegen meiner Unart im Theater um Verzeihung zu bitten, sobald ich sie wiedersähe. Aber ich sollte sie nie wiedersehen. Bald traten Ereignisse ein, die mich aus all meinen bisherigen Lebensverhältnissen für immer herausrissen.

Von den unmittelbar aus der Märzrevolution hervorgegegangenen größeren parlamentarischen Körpern war nur noch das Nationalparlament in Frankfurt übrig. Es verdankte dem Drange des deutschen Volkes, oder vielmehr der deutschen Völker, nach nationaler Einheit [109] seine Entstehung, und es war seine natürliche, allgemein verstandene Mission, die deutschen Völker unter einer einheitlichen Verfassung und Nationalregierung in eine große Nation zu verschmelzen. Unmittelbar nach der Märzrevolution hatten die deutschen Regierungen, auch die österreichische für ihre deutschen Länder, diese Mission als eine rechtmäßige anerkannt und unter ihrer Mitwirkung haben im Mai 1848 die Wahlen zum Nationalparlament stattgefunden. Die große Mehrheit seiner Mitglieder sowie das deutsche Volk im allgemeinen sahen denn auch in dem Parlament den Repräsentanten der Volkssouveränität im nationalen Sinne. Es war zu erwarten, daß die Fürsten und ihre als Hofparteien zu bezeichnenden Anhänger sich in diese Auffassung nur so lange und nur insoweit fügen würden, als sie zu müssen glaubten. Nur sehr wenige von ihnen waren liberal genug, um sich eine Beschränkung ihrer Fürstengewalt mit Gleichmut gefallen zu lassen. Jeden Gewinn des Volkes an Macht fühlten sie als ihren eigenen Verlust. Ebenso waren die meisten von ihnen der Einrichtung einer starken Nationalregierung abhold, da diese das Aufgeben mancher Souveränitätsrechte der Einzelstaaten an den nationalen Gesamtstaat bedingte. Es war nicht nur eine nationale Republik, die sie fürchteten, sondern auch das Kaisertum, das geeignet sein würde, sie in das Verhältnis von Vasallen hinabzudrücken. Die deutschen Fürsten, mit Ausnahme des einen, der hoffen durfte, den Kaiserthron zu besteigen, waren also die natürlichen Feinde der in einem starkgefügten Gesamtstaat verkörperten deutschen Einheit. Es mag ein paar national gesinnte Männer unter ihnen gegeben haben, die sich über diese Besorgnis hinwegzusetzen vermochten, aber gewiß nur wenige. Österreich wünschte ein einiges Deutschland in irgendwelcher Form nur dann, wenn es darin die Stellung der leitenden Macht einnehmen konnte.

Ihnen gegenüber stand das Nationalparlament in Frankfurt, das Kind der Revolution. Es hatte zu seiner unmittelbaren Verfügung keine staatliche Maschinerie, keine Armee, keinen Schatz, – nur seine moralische Autorität; all die andern Dinge waren in den Händen der Einzelstaaten. Die einzige Macht des Nationalparlaments bestand in dem Volkswillen. Und diese Macht war hinreichend für die Erfüllung seiner Mission, solange der Volkswille sich stark genug erwies, selbst durch revolutionäre Aktion im Notfalle, die widerstrebenden Interessen und Tendenzen des Fürstentums in Schach zu halten. Wollte daher das Parlament seines Erfolges in der Schöpfung des deutschen Einheitsstaates sicher sein, so mußte es seine Reichsverfassung vollenden und seinen Kaiser wählen und einsetzen, während das revolutionäre Prestige des Volkes noch ungebrochen war – in den ersten drei oder vier Monaten nach der Märzrevolution. Kein deutscher Fürst würde sich damals geweigert haben, die Kaiserkrone mit einer noch so demokratischen Verfassung anzunehmen, und keiner, noch so viele seiner ehemaligen Souveränitätsrechte dem Einheitsstaat zu opfern.

Aber das Parlament litt an einem Übermaß von Geist, Gelehrsamkeit und Tugend und an einem Mangel an derjenigen politischen Erfahrung und Einsicht, die erkennt, daß das Bessere oft der Feind des Guten ist und daß der wahre Staatsmann sich hüten wird, die Gunst [110] der Stunde zu verscherzen, indem er durch eigensinniges Bestehen auf dem Minderwesentlichen die Erreichung des Wesentlichen gefährdet. Die Welt hat wohl nie eine politische Versammlung gesehen, die eine größere Zahl von edlen, gelehrten, gewissenhaften und patriotischen Männern in sich schloß, und es gibt vielleicht kein ähnliches Buch, reicher an gründlichem Wissen und an Mustern hoher Beredsamkeit als die stenographischen Berichte des Frankfurter Parlaments. Aber ihm fehlte das Genie, das die Gelegenheit erkennt und rasch beim Schopf ergreift; – es vergaß, daß in gewaltsam bewegter Zeit die Weltgeschichte nicht auf den Denker wartet. Und so sollte ihm alles mißlingen.

Das Parlament erkannte allerdings bald nach seiner Eröffnung, daß, wenn es nicht eine bloße Konstituante, sondern auch, bis die Verfassung fertig sei, eine zeitweilige Regierung vorstellen wollte, es dazu eine Exekutivbehörde haben müsse; und so beschloß es die Einrichtung einer „Provisorischen Zentralgewalt“ mit einem „Reichsverweser“ an der Spitze. Und zu diesem Amte wählte es den im Geruch des Liberalismus stehenden Erzherzog Johann von Österreich, der sich denn auch mit einem Reichsministerium umgab. Aber, wie schon früher erwähnt, sein Minister des Auswärtigen hatte keine diplomatische Dienstmaschinerie unter sich, der Kriegsminister keine Armee, der Flottenminister keine nennenswerten Schiffe und der Finanzminister kein Geld. Alle diese Dinge, welche die substantielle Macht einer Regierung ausmachen, blieben doch in den Händen der Einzelstaaten, und die Disposition des Nationalparlaments und seiner Zentralgewalt darüber erstreckte sich nur so weit, wie die Einzelregierungen dieselbe zugestanden – und das war nur so weit, wie die Einzelregierungen glaubten, durch die Zeitlage zu diesem Zugeständnis genötigt zu sein. Die eigentliche Lebensquelle der Macht des Parlaments blieb also nach wie vor der Volkswille, wie er sich nötigenfalls durch des Volkes revolutionäre Kraft geltend machen konnte. Diese revolutionäre Kraft stand nun am Ende des Jahres 1848 der Fürstengewalt bei weitem nicht mehr so gebietend gegenüber wie im Frühling. Während ein Teil des im März so enthusiastischen Volkes der beständigen Aufregungen mehr oder minder müde geworden war, hatten sich die Fürsten und ihre unmittelbaren Anhänger von ihrem Märzschrecken erholt, sich des Beamtentums und der Militärmacht neu versichert, ihre Ziele klar ins Auge gefaßt, und tatsächlich an den großen Zentralpunkten Wien und Berlin im Oktober und November dem revolutionären Geist sehr schwere Niederlagen beigebracht. Die Möglichkeit eines neuen revolutionären Anlaufs im großen Maßstabe war also weit geringer geworden. Unter diesen Umständen konnte das Nationalparlament immer noch seine Verordnungen beschließen und durch die Zentralgewalt proklamieren lassen – aber die Einzelregierungen fühlten mehr und mehr, daß sie sich daran nicht viel mehr zu kehren brauchten, als ihnen gut schien. Nun hatte das Parlament noch seine Hauptaufgabe zu lösen: Die Verfassung des deutschen Reiches zu vollenden und einzuführen und damit dem nationalen Bedürfnisse des deutschen Volkes Genüge zu tun.

Diese Aufgabe war keine einfache. Es galt zu entscheiden, nicht allein was für staatsbürgerliche Rechte der Deutsche besitzen, ob Deutschland [111] einen von allem Volk gewählten Reichstag haben, ob das Haupt der Nationalregierung ein erblicher, oder ein Wahlkaiser, oder ein Präsident, oder ein Exekutivkollegium sein, sondern auch, aus welchen Bestandteilen das deutsche Reich zusammengesetzt sein, ob die deutsch-österreichischen Länder einen Teil davon ausmachen, und welcher der beiden deutschen Großmächte, Österreich oder Preußen, in diesem Falle die Hegemonie in Deutschland zugestanden werden solle. Lange dauerte der parlamentarische Kampf, und erst dann, als der österreichische Reaktionsminister Fürst Felix Schwarzenberg für das ganze als Einheitsstaat organisierte Österreich mit seinen nahezu dreißig Millionen nichtdeutscher Einwohner den Eintritt in den deutschen Bund verlangte – eine Forderung, mit der die Schöpfung eines deutschen Nationalreiches durchaus unvereinbar war –, erst dann konnte im Parlament eine Mehrheit gefunden werden, die sich für das erbliche Kaisertum erklärte und, am 28. März 1849, den König von Preußen zum deutschen Kaiser erwählte.

Wie unbeliebt auch die Preußen und ihr König außerhalb der preußischen Grenzen, und besonders in Süddeutschland, gewesen sein mochten, und wie wenig auch die demokratische Partei die Schöpfung einer Exekutivgewalt des deutschen Reiches in der Form des erblichen Kaisertums gewünscht hatte, dennoch flammte, als das Einigungswerk endlich vollendet schien, der nationale Enthusiasmus noch einmal auf in heller, freudiger Glut. Eine aus 33 Mitgliedern bestehende Deputation des Nationalparlaments mit dem Präsidenten der Versammlung an der Spitze begab sich, auf dem Wege überall mit der lautesten Begeisterung begrüßt, nach Berlin, um dem König von Preußen die verfassungsmäßige Kaiserwürde anzubieten und ihn zur Annahme aufzufordern. Und nun kam die bitterste Enttäuschung von allen.

Freilich wußte man, daß Friedrich Wilhelm IV., an seinem absolutistischen Mystizismus festhaltend, den souveränen Charakter des Nationalparlaments als einer konstituierenden Versammlung nicht anerkannt und für die Krone Preußen sowie für die anderen deutschen Fürsten das Recht, das Verfassungswerk zu revidieren, beansprucht hatte. Auch wußte man, daß die vom Parlament hergestellte Verfassung für seinen Geschmack viel zu demokratisch war. Aber nachdem alle deutschen Regierungen, mit Ausnahme der königlichen von Bayern, Sachsen und Hannover, (Österreich kam jetzt nicht mehr in Betracht) dem Druck der öffentlichen Meinung nachgebend, sich bereit erklärt hatten, die Reichsverfassung mitsamt dem Kaisertum anzunehmen und es gewiß war, daß auch die drei zurückhaltenden Könige keinen Widerstand wagen würden, da glaubte das noch immer gern vertrauende Volk, der Mann, der im März 1848 auf den Straßen von Berlin feierlich erklärt, er wolle sich an die Spitze der nationalen Bewegung stellen, und Preußen solle in Deutschland aufgehen, könne unmöglich das nationale Einigungswerk in dem Augenblick, da es zu seiner Vollendung nur noch seiner Einwilligung bedurfte, von sich stoßen und vernichten wollen. Doch das war es, was geschah. Friedrich Wilhelm IV., der sich über die Weise, in welcher Deutschland geeinigt werden könnte, allerlei phantastischen Träumereien hingegeben hatte, fand die ihm gebotene Verfassung in allen wesentlichen Punkten von seinen eigenen Konzeptionen abweichend. Das [112] Nationalparlament habe überhaupt kein Recht, ihm oder irgend jemandem eine Krone anzubieten; solch ein Anerbieten könne rechtmäßigerweise nur von der freien Entschließung der deutschen Fürsten ausgehen. Auch würde die Annahme der deutschen Kaiserkrone mit seinem Gefühl freundschaftlicher Verbindlichkeit Österreich gegenüber nicht verträglich sein. Diese und ähnliche Gründe für die Nichtannahme der Reichsverfassung wurden von dem Könige teils öffentlich, teils vertraulich angegeben. Vielleicht lag der schwerwiegendste Grund, der den schwachmütigen Monarchen schreckte, in der Wahrscheinlichkeit, daß er die deutsche Kaiserwürde, einmal angenommen, in der Folge mit den Waffen gegen Österreich und Rußland werde verteidigen müssen, – eine Besorgnis, die auf fast naive Weise zum Ausdruck kam in einer Antwort, die der König dem auf Annahme der Kaiserwürde dringenden Herrn von Beckerath gab: „Wenn Sie Ihre beredten Worte an Friedrich den Großen hätten richten können, der wäre Ihr Mann gewesen; ich bin kein großer Regent.“ In der Tat hat Friedrich Wilhelm IV. vom ersten Tage seiner Regierung bis zu deren unrühmlichem Ende genugsam bewiesen, daß er nicht dazu gemacht war, der erste Kaiser des neuen deutschen Reiches zu sein. Er schwankte stets und blieb nur beständig in seiner Schwäche.

Die Ablehnung der Kaiserwürde und der Reichsverfassung durch den König von Preußen verwandelte den allgemeinen Enthusiasmus in ebenso allgemeine Bestürzung und Indignation. Am 11. April erklärte das Natonalparlament, an seiner Reichsverfassung unwandelbar festhalten zu wollen. Am 14. hatten die Kammern und Regierungen von 28 deutschen Staaten ihre unbedingte Annahme dieser Verfassung und des preußischen Kaisertums ausgesprochen, aber Friedrich Wilhelm IV. blieb bei seiner Ablehnung und die Könige von Bayern, Hannover und Sachsen bei ihrer Renitenz. Am 4. Mai nun forderte das Nationalparlament die „Regierungen, die gesetzgebenden Körper, die Gemeinden der Einzelstaaten, das gesamte deutsche Volk auf, die Verfassung des deutschen Reiches zur Anerkennung und Geltung zu bringen.“ Dieser Beschluß klang einem Aufruf zu den Waffen sehr ähnlich. In verschiedenen Teilen Deutschlands war ihm bereits vorgegriffen worden. In der bayerischen Rheinpfalz hatte schon am 30. April das Volk sich mit seltener Einmütigkeit erhoben und in kolossalen Massenversammlungen im Widerspruch gegen die bayerische Regierung erklärt, daß es mit der Reichsverfassung stehen und fallen werde. Die patriotischen Pfälzer gingen sogar weiter. Sie errichteten eine provisorische Regierung, welche die von dem König von Bayern eingesetzten Behörden verdrängte. Die Erhebung pflanzte sich rasch nach Baden fort, wo die ganze Armee des Großherzogtums mit Ausnahme einer kleinen Abteilung Kavallerie sich ihr anschloß und den Aufständischen die Festung Rastatt in die Hände lieferte. Der Großherzog von Baden flüchtete und an seine Stelle trat auch dort eine aus Volksführern zusammengesetzte provisorische Regierung. Im Königreich Sachsen erhob sich das Volk der Hauptstadt Dresden, um den König zur Anerkennung der Reichsverfassung zu zwingen. Auch dort sah sich der König nach kurzem Kampf zwischen Volk und Militär zur Flucht [113] genötigt, und eine provisorische Regierung wurde eingesetzt. Aber der König wandte sich an die preußische Regierung um Hülfe. Diese wurde bereitwillig gewährt, und es waren preußische Truppen, die nach blutigem Kampf in den Straßen von Dresden den Aufstand niederwarfen und die Autorität des sächsischen Königs wiederherstellten.

Sollten die Reichstreuen, die Deutschgesinnten in Preußen ihre Hände ruhig in den Schoß legen, während ihre Regierung preußische Soldaten zur Unterdrückung der nationalen Bewegung aussandte? In Berlin und Breslau wurden Volksaufstände versucht, aber schleunig von den Behörden mit bewaffneter Hand unterdrückt. In der Rheinprovinz war die Aufregung ungeheuer. In Köln wurde eine Versammlung der rheinischen Gemeindevertretungen abgehalten, die fast einstimmig die Anerkennung der deutschen Reichsverfassung forderte und im Falle der Weigerung der preußischen Regierung mit dem Abfall des preußischen Rheinlandes von der Monarchie drohte. Aber die preußische Regierung hatte längst aufgehört, sich durch bloße Versammlungen und hochtönende Worte schrecken zu lassen, wenn nicht eine starke revolutionäre Tatkraft dahinter stand. Es war klar, um die Reichsverfassung und die nationale Einheit zu retten, mußte gehandelt werden. Wiederum blickte man auf die Hauptstadt des Rheinlandes, Köln, wo jedoch eine so große Truppenmacht konzentriert war, daß keine Schilderhebung dagegen mit der geringsten Aussicht auf Erfolg gewagt werden konnte. Aber in den Fabrikdistrikten auf dem rechten Rheinufer, in Iserlohn, Düsseldorf und Elberfeld, brach der Aufstand wirklich los. Die unmittelbare Veranlassung dazu war der des tragischen Oktoberaufstandes in Wien nicht unähnlich. Die preußische Regierung verordnete die Mobilmachung der rheinischen Armeekorps, um diese gegen die „Insurgenten“, die Verteidiger der Reichsverfassung in der Pfalz und in Baden, ins Feld zu führen. Zu diesem Zwecke wurde in der Rheinprovinz und in Westfalen die Landwehr in Dienst gerufen. Die Landwehrmänner waren damals, wie jetzt, Männer zwischen 25 und 35 Jahren, Bauern, Handwerker, Fabrikarbeiter, Kaufleute oder in gelehrten Fächern tätig, viele von ihnen Väter junger Familien. Ihren Lebenserwerb zu unterbrechen und ihre Familien zu verlassen, würde den meisten von ihnen unter allen Umständen ein schweres Opfer gewesen sein. Um wieviel schwerer war dieses Opfer, wenn es ihnen zugemutet wurde, nur damit sie helfen sollten, diejenigen niederzuschlagen, die sich in Baden und in der Pfalz für die Sache der vaterländischen Einheit und der Volksfreiheit erhoben hatten, und mit denen sehr viele, wenn nicht die große Mehrheit der Landwehrleute im Herzen warm sympathisierten? So geschah es denn, daß zahlreiche Versammlungen von Landwehrleuten gehalten wurden, die erklärten, sich nicht unter die Waffen stellen zu wollen. An mehreren Depotplätzen, an denen sich die Landwehrmänner sammeln mußten, um ins Gewehr zu treten, gab es offene Widersetzlichkeit, und in einigen, wie Düsseldorf, Iserlohn und Elberfeld wurde der Aufstand auf kurze Zeit Meister.

Offenbar aber konnte dieser Aufstand nur dann eine Möglichkeit des Erfolges haben, wenn die Erhebung im Lande allgemein wurde, [114] und in der Tat sah es einen Augenblick aus, als ob die Widersetzlichkeit der Landwehren im Rheinland und Westfalen sich ausbreiten und zum Sammelpunkt einer mächtigen und folgenreichen Bewegung gestalten werde. Aber was geschehen sollte, mußte dann sofort geschehen. So trat die Frage des Augenblicks auch an uns in Bonn heran. Kinkel war wieder da. Die Kammer, deren Mitglied er gewesen, hatte den König nochmals zur Anerkennung der Reichsverfassung und zur Annahme der Kaiserkrone aufgefordert und war dann aufgelöst worden. Kinkel war in Bonn der anerkannte demokratische Führer. Jetzt galt es für ihn, seine Fähigkeit zu rasch entschlossenem Handeln zu beweisen, oder die Führerschaft in der entscheidenden Stunde andern zu überlassen. Er zögerte keinen Augenblick. Was war zu tun? Daß die Landwehr, wenigstens der größte Teil davon, nicht unter die Waffen zu treten wünschte, um die Verteidiger der Reichsverfassung zu bekämpfen, war gewiß. Aber wollte sie diese Weigerung aufrecht halten, so mußte sie selbst die Waffen ergreifen gegen die preußische Regierung, gegen den eigenen „Kriegsherrn“. Um den Widerstand gegen die preußische Regierung tatkräftig zu machen, war sofortige massenweise Organisation nötig. Ob die Landwehr dazu gebracht werden konnte, ob sie allgemein bereit war, dem Beispiel von Düsseldorf, Iserlohn und Elberfeld zu folgen, mußte sich erst zeigen. Waren die Landwehrleute dazu bereit, so konnten sie nichts Einfacheres und Besseres tun, als sich ohne weiteres in den Besitz der Waffen zu setzen, die in den an verschiedenen Orten befindlichen Landwehr-Zeughäusern aufgespeichert lagen, um dann unter ihren eigenen Führern als eine kampffähige Organisation gegen die preußische Regierung Front zu machen. Ein solches Zeughaus befand sich in Siegburg, ein paar Stunden Weges von Bonn auf der rechten Rheinseite. Es gab dort Musketen mit allem Zubehör genug, um eine ansehnliche Schar zu bewaffnen, die sich dann leicht mit den Aufständischen in Elberfeld hätte in Verbindung setzen, eine bedeutende Macht bilden und den Aufstand nach allen Seiten ausbreiten können. Dies war der Gedanke, der den demokratischen Führern in Bonn und der Umgegend mit größerer oder geringerer Klarheit durch den Kopf ging, und es fand sich auch ein militärisches Haupt zu dessen Ausführung in der Person des ehemaligen Artillerieleutnants Fritz Anneke, der von Köln zu uns herüberkam. Auf den 11. Mai war die Landwehr des Distrikts nach Siegburg berufen, um eingekleidet zu werden. So drängte die Zeit.

Am 10. Mai hatten wir in Bonn eine Versammlung der Landwehrleute aus der Stadt und der Umgegend veranstaltet. Schon während der Morgenstunden strömte eine große Menge im Saal des Römers zusammen. Anselm Unger, zum Vorsitzenden erwählt, ermahnte die Leute, der Einberufung durch die preußische Regierung nicht Folge zu leisten, sondern, wenn die Waffen ergriffen werden müßten, sie dann gegen die Regierung, die das deutsche Volk um seine Freiheit und Einheit bringen wolle, zu ergreifen und zur Verteidigung der Reichsverfassung zu führen. Die Leute nahmen diese Ermahnung mit allen Zeichen warmen Einverständnisses auf. Die Versammlung dauerte den ganzen Tag. Die Zahl der herbeikommenden Landwehrleute wurde immer größer. Verschiedene [115] Redner sprachen zu ihnen, alle in demselben Sinne und, wie es schien, mit derselben Wirkung. Es war unter uns beschlossen, den Schlag gegen das Zeughaus in Siegburg noch diese Nacht zu führen und so die von der Regierung beabsichtigte Bewaffnung der Landwehrleute selbst zu übernehmen. Zu diesem Zwecke mußten die Leute während des Tages zusammengehalten werden, um in möglichst großer Zahl an dem nächtlichen Zuge nach Siegburg teilzunehmen.

Die Leute zusammenzuhalten, war nicht leicht. Etwas Geld war aufgebracht worden, um sie während des Tages zu speisen. Aber das allein genügte nicht. Kinkel, nachdem er noch seine letzte Vorlesung in der Universität gehalten hatte, sprach nachmittags um 4 Uhr zu der Versammlung im Römer. Mit glühenden Worten fachte er die patriotischen Gefühle seiner Zuhörer an, ermahnte sie dringend zusammenzubleiben, da jetzt die Stunde des entscheidenden Handelns gekommen sei, und versprach ihnen am Schluß seiner Rede, bald wieder unter ihnen zu erscheinen, um im Augenblick der Gefahr ihr Schicksal mit ihnen zu teilen.

Ich brachte einen Teil des Tages in der Versammlung zu, den größeren aber im Exekutivkomitee, oder, wie es genannt wurde, im „Direktorium“ des demokratischen Vereins, das in einer Hinterstube der Kammschen Wirtschaft in Permanenz saß. Dort empfing es die laufenden Berichte von Elberfeld und von den demokratischen Vereinen der Umgegend über deren Aktionsbereitschaft, und dort wurden die Anordnungen für den Marsch nach dem Siegburger Zeughause in der kommenden Nacht festgestellt und die Rollen verteilt. Kinkel und Unger sollten die Landwehrleute und andere, die an der Expedition teilzunehmen bereit waren, zusammenhalten und, so gut es ging, organisieren, um sie dann unter Annekes militärischem Kommando über den Rhein zu bringen, während Kamm, Ludwig Meyer, ich und noch ein anderer Student dafür sorgen sollten, daß die Fähre, oder „fliegende Brücke“, die gewöhnlich des Nachts auf der anderen Rheinseite bei dem Dorfe Beuel festlag, unserm Unternehmen rechtzeitig zu Dienst sei.

Es gab den ganzen Tag des geschäftigen Hin- und Herrennens so viel, daß manche der Einzelheiten mir nicht mehr ganz klar im Gedächtnisse stehen. Ich erinnere mich jedoch lebhaft genug, daß, so oft ich auf der Straße erschien, ich von Freunden unter den Studenten festgehalten und gefragt wurde, was im Winde sei, und ob sie mitmarschieren sollten, und daß ich ihnen sagte, für was ich selbst mich entschlossen hätte in dieser großen Krisis zu tun, und daß jeder von ihnen seine Entschlüsse ebenfalls auf eigene Verantwortung fassen müsse. Nach den fieberhaften Aufregungen der letzten Tage war ich zu der desperaten Fassung gekommen, die zu dem äußersten bereit ist. Es war mir klar, daß, wenn irgendwelche der Früchte der Revolution gerettet werden sollten, jetzt alles gewagt werden müsse. In diesem Sinne sprach ich zu meinen Freunden, ohne weitere Versuche der Überredung.

Sehr lebhaft erinnere ich mich auch, wie ich bei dem letzten Abenddämmerlicht nach Hause ging, um meinen Eltern zu sagen, was geschehen werde, und was ich für meine Pflicht halte, um dann von den Meinigen Abschied zu nehmen. Seit dem Ausbruch der Revolution [116] hatten meine Eltern an der Entwicklung der Dinge das wärmste Interesse genommen. Sie waren immer für die Sache des einigen Deutschlands und einer volkstümlichen Regierung aufrichtig begeistert gewesen. Ihre politischen Gesinnungen stimmten daher mit den meinigen aufs innigste überein. Mein Vater war Mitglied des demokratischen Vereins und freute sich, mich unter dessen Führern zu sehen und zu hören. Die edle Natur meiner Mutter hatte immer dem, was sie für Recht hielt, mit tief enthusiastischem Eifer angehangen. Beide hatten den Gang der Ereignisse hinreichend beobachtet, um die Katastrophe kommen zu sehen. Die Ankündigung, die ich ihnen zu machen hatte, überraschte sie daher nicht. Ebensowenig kam es ihnen unerwartet, daß ich an dem Unternehmen, das so gefahrvoll und für mich so folgenschwer aussah, persönlich teilnehmen werde. Ohne weiteres erkannten sie meine Verpflichtung an. Freilich ruhten all ihre Hoffnungen für die Zukunft auf mir. Ich sollte im Kampf ums Dasein die Stütze der Familie sein. Aber ohne eines Augenblicks Zaudern und ohne ein Wort der Klage gaben sie alles hin für das, was sie für eine Pflicht der Ehre und des Patriotismus ansahen. Wie eine der spartanischen Frauen oder der römischen Matronen, von denen wir lesen, holte meine Mutter mit eigener Hand meinen Säbel aus der Ecke und gab ihn mir mit der einzigen Ermahnung, ich solle ihn ehrenhaft führen. Und nichts hätte ihrer Seele dabei fremder sein können, als der Gedanke, daß in dieser Handlung etwas Heroisches lag.

Ehe ich das Haus verließ, verweilte ich noch einen Augenblick in meinem Zimmer. Wir wohnten damals auf der Koblenzer Straße und von meinem Fenster hatte ich einen freien Blick auf den Rhein und das Siebengebirge, jene Aussicht, die an Lieblichkeit in der ganzen Welt ihresgleichen sucht. Wie oft hatte ich, in den Anblick dieses anmutigen Bildes versunken, mir träumend eine schöne ruhige Zukunft aufgebaut! Nun konnte ich in der Dunkelheit nur die Konturen meiner geliebten Berge gegen den Horizont stehend unterscheiden. Hier war meine Arbeitsstube, still wie sonst. Wie oft hatte ich sie mit meinen Phantasien bevölkert! Da waren meine Bücher und Manuskripte, alle von Plänen, Bestrebungen und Hoffnungen zeugend, die ich nun vielleicht auf immer hinter mir lassen sollte. Ein instinktives Gefühl sagte mir, daß es damit nun wirklich vorbei sei. Ich ließ alles liegen, wie es eben lag, kehrte der Vergangenheit den Rücken und ging meinem Schicksal entgegen.

Zu derselben Stunde nahm auch Kinkel von seiner Frau und Kindern Abschied und schritt dann zu der Versammlung im Römer zurück, wo er auf der Rednerbühne mit einer Muskete bewaffnet erschien. In seiner eindrucksvollen Weise kündigte er seinen Zuhörern an, was heute nacht geschehen müsse, und was er zu tun entschlossen sei; niemanden fordere er auf, ihm blindlings zu folgen; niemandem verberge er die Tragweite und die Gefahren des Unternehmens; nur die, welche in der höchsten Not des Vaterlandes, wie er, ihre Pflicht fühlten, das äußerste zu wagen, forderte er auf, mit ihm zu marschieren in Reih und Glied.

Unterdessen war ich darauf bedacht, den mir gewordenen Auftrag zu erfüllen. Ich nahm meinen Weg noch einmal an Bettys Haus [117] vorüber und blickte zu dem Fenster hinauf, an dem ich sie so oft gesehen. Es war dunkel. Dann ging ich zu einer verabredeten Stelle am Rheinufer hinunter, wo ich einen Genossen fand – ich glaube, es war Ludwig Meyer – mit dem ich in einem Kahn über den Rhein setzte. Drüben empfing uns der bereits früher angekommene Kamm; er präsentierte sich in einem Reisekittel mit einem Säbel an der Seite und einer Kugelbüchse in der Hand. Wir nahmen sofort von der „fliegenden Brücke“ Besitz, ließen sie nach Bonn hinüberschwingen und brachten sie gegen Mitternacht mit Menschen bedeckt nach der rechten Rheinseite zurück. Diese war die Truppe, die nach Siegburg marschieren und dort das Zeughaus nehmen sollte. Kinkel erschien mit der Muskete auf der Schulter. Unger saß zu Pferde, mit einem Säbel bewaffnet. Ein Fuhrmann namens Bühl, der in Bonn als der Führer eines anrüchigen Elementes galt, hatte sich ebenfalls zu Pferde eingefunden. Die übrigen waren zu Fuß, die meisten bewaffnet, aber nur wenige mit Schießgewehren. Mir hatte man eine Kugelbüchse mitgebracht, aber ohne passende Munition.

Anneke ordnete die Schar und teilte sie in Sektionen ein. Eine derselben wurde unter das Kommando von Joseph Gerhardt gestellt, der später nach Amerika ging und im Rebellionskriege als Oberst eines Unionsregimentes gute Dienste tat. Anneke fand, daß seine Truppe nicht ganz 120 Mann zählte, und konnte sich nicht enthalten, seiner Enttäuschung bitteren Ausdruck zu geben. Es hatten sich eben viele, die der Versammlung im Römer beigewohnt, in der Dunkelheit stille beiseite geschlichen, als das Zeichen zum Abmarsch gegeben wurde. Es mag sein, daß mancher patriotische Impuls, der am Morgen frisch und tatkräftig war, in den langen Stunden, die zwischen dem Entschluß und dem Augenblick des Handels verstrichen, abgestumpft wurde und der Müdigkeit des Abends erlegen war.

Nachdem wir nun in Kolonne formiert worden, hielt Anneke eine kurze Ansprache, in der er die Notwendigkeit der Disziplin und des Gehorsams hervorhob, und dann wurde marsch! kommandiert. Schweigend ging es nun in der Dunkelheit vorwärts auf Siegburg zu. Wir waren vielleicht eine gute halbe Stunde marschiert, als einer unserer beiden Reiter nachgesprengt kam mit dem Bericht, daß die in Bonn stationierten Dragoner uns auf den Fersen seien, um uns anzugreifen. Eigentlich hätte diese Kunde niemand überraschen sollen, denn während des Tages und Abends waren die Vorbereitungen zu dem nächtlichen Zuge so öffentlich betrieben worden, daß es erstaunlich gewesen wäre, hätten die Behörden nicht davon Kunde erhalten und dann Maßregeln getroffen, den Zweck der Expedition zu vereiteln. Überdies hatten wir vergessen, die fliegende Brücke hinter uns dienstuntauglich zu machen. Nichtsdestoweniger brachte die Meldung von dem Herannahen der Dragoner in unserer Schar viel Aufregung hervor. Anneke befahl unserem Reiter zurückzueilen und sich zu vergewissern, wie nahe und wie stark der uns nachsetzende Trupp Dragoner sei. Unterdessen wurde unser Marsch beschleunigt, damit wir noch vor der Ankunft der Dragoner den Übergang über den Siegfluß bei Siegburg-Müldorf bewerkstelligen möchten, um dem Feinde die Passage streitig zu machen. Aber dies [118] mißlang. Lange ehe wir den Siegfluß hätten erreichen können, erklang in geringer Entfernung hinter uns das Trabsignal der Dragoner. Anneke, der offenbar der Kampffähigkeit seiner Schar nicht traute, ließ sofort halt machen und sagte den Leuten, sie seien augenscheinlich nicht imstande, den herankommenden Truppen erfolgreichen Widerstand zu leisten; sie sollten daher auseinandergehen und, wenn sie sich der Sache des Vaterlandes weiter widmen wollten, ihren Weg nach Elberfeld finden, oder nach der Pfalz, wie er es tun werde. Dieses Zeichen zur Auflösung wurde sofort befolgt. Die meisten zerstreuten sich in den umliegenden Kornfeldern, während einige von uns, etwa zwanzig, an der Seite der Straße stehen blieben. Die Dragoner ritten ruhig im Trabe durch auf Siegburg zu. Es waren ihrer nur etliche dreißig, also nicht genug, uns zu überwältigen oder selbst auf der Straße durchzudringen, hätten diejenigen von uns, die Feuerwaffen trugen, einen geordneten Widerstand geleistet.

Als nun die Dragoner zwischen uns durchgeritten waren und sich der Unsrigen nur wenige in der Dunkelheit auf der Straße zusammenfanden, überkam mich ein Gefühl tiefer, grimmiger Beschämung. Unser Unternehmen hatte also nicht nur einen unglücklichen, sondern einen lächerlichen, schmachvollen Ausgang genommen.

Vor einer Handvoll Soldaten war unsere mehr als dreimal so starke Schar, ohne einen Schuß zu feuern, auseinander gelaufen. So bewahrheiteten sich die großen Worte derer, welche der Freiheit und Einheit des deutschen Volkes Gut und Blut, Leib und Leben zu opfern versprochen. – Ich suchte Kinkel, konnte ihn aber in der Finsternis nicht finden. Endlich stieß ich auf Kamm und Ludwig Meyer. Sie fühlten beide wie ich, und wir beschlossen sofort, vorwärts zu gehen und zu sehen, was sich noch werde tun lassen. So marschierten wir denn den Dragonern nach und trafen in der kleinen Stadt Siegburg kurz vor Tagesanbruch ein. Der dortige demokratische Verein, mit dem wir Verbindung unterhalten und dessen Führer uns in der vergangenen Nacht erwartet hatten, benutzte einen Gasthof, der Reichenstein genannt, als sein Hauptquartier. Dorthin begaben wir uns. Unsere demokratischen Freunde waren früh morgens zu Stelle, und mit ihnen berieten wir eifrig die Frage, ob nicht trotz des armseligen Fehlschlages der vergangenen Nacht und der Besetzung des Zeughauses durch die Dragoner das Zeughaus dennoch genommen und ein Aufstand organisiert werden könnte, um unseren bedrängten Gesinnungsgenossen in Düsseldorf und Elberfeld Luft zu machen. Die Stimmung unserer Siegburger Freunde klang wenig ermutigend. Ich war in einer fieberhaften Aufregung, die durch neue Nachrichten von Elberfeld noch gesteigert wurde. Obgleich todmüde, konnte ich nicht schlafen. Im Laufe des Tages sammelte sich eine große Menschenmenge, einberufene Landwehrleute und andere aus der Umgegend. Bald wurden Reden gehalten, und ich forderte direkt und wiederholt zur Stürmung des Zeughauses auf. Ein Gerücht drang zu mir, daß während des Tages in Bonn ein Kampf zwischen Bürgern und Militär ausgebrochen sei, und das Gerücht teilte ich der versammelten Menge mit, mußte aber, nachdem spätere Nachrichten angekommen, zu meiner Beschämung gestehen, daß ich übel berichtet gewesen. [119] Ich war außer mir vor Begierde, die Schmach der letzten Nacht auszuwaschen und für unsere Sache auch unter ungünstigen Umständen noch das Äußerste zu versuchen. Meine Reden wurden immer heftiger, aber umsonst. Der Abend kam, die Menge verlief sich, und ich mußte mir endlich gestehen, daß die Leute, die wir vor uns hatten, nicht zu einer entschlossenen Tat angefeuert werden konnten. Unger, Meyer und ich beschlossen, dahin zu gehen, wo gekämpft wurde, machten uns auf den Weg nach Elberfeld und erreichten unser Ziel am nächsten Tage.

Dort fanden wir Barrikaden auf den Straßen, viel Lärm in den Wirtshäusern, eine nur geringe Zahl von Bewaffneten, und weder systematisches Kommando noch Disziplin. Hier war offenbar kein Erfolg in Aussicht. Hier konnte es nichts geben, als einen von vornherein hoffnungslosen Kampf, oder gar eine sofortige Kapitulation. „Hier ist es nichts,“ sagte ich zu Unger, „ich gehe nach der Pfalz.“ Meyer war bereit mich zu begleiten. Wir befanden uns bald an Bord eines rheinaufwärts fahrenden Dampfers. Ich ordnete brieflich an, daß mir sofort einige Sachen zu meiner Ausrüstung an unsern schon erwähnten braven Frankonenfreund den Wirt Nathan in St. Goarshausen nachgeschickt werden sollten, und am Abend desselben Tages waren wir im Schatten des Lurleifelsens unter Nathans gastlichem Dach.

Nach den furchtbaren Aufregungen der letzten vier Tage kam ich da zum erstenmal wieder zu ruhiger Besinnung. Als ich von einem langen und tiefen Schlaf erwachte, erschien mir das Vergangene wie ein wüster Traum, und dann doch als grelle, furchtbare Wirklichkeit. Der Gedanke ging mir durch den Kopf, daß ich nun, obgleich vorläufig in Nathans Hause sicher genug, doch eigentlich jetzt ein von der Obrigkeit Verfolgter, ein Landflüchtiger sei, denn es war nicht denkbar, daß die Regierung einen Versuch zur Stürmung eines Zeughauses ungeahndet werde passieren lassen.

Dies war ein eigentümlich unbehagliches Gefühl; ein viel häßlicheres aber, daß ich auf die Handlung, der ich meine Ächtung verdankte, obgleich ich sie nach wie vor für recht und patriotisch hielt, doch nicht stolz sein konnte, da sie einen so schmählichen Ausgang genommen – schmählich genug in der Tat, um mir die Rückkehr zu meinen Freunden unmöglich zu machen, solange diese Schmach nicht ausgewaschen sei. Am tiefsten aber grämte es mich, nun zu wissen, daß alle Aufstandsversuche in Preußen fehlgeschlagen seien, und daß jetzt die preußische Regierung imstande sein werde, ihre ganze Macht gegen die Aufständischen in Baden und in der Pfalz zu wälzen. Freilich erwärmte ich mich dann an dem Glauben, daß eine so große, so gerechte, so heilige Sache wie die der deutschen Einheit und Volksfreiheit unmöglich verloren gehen könne, und daß ich doch noch Gelegenheit haben werde, zu ihrem Siege, wenn auch nur ein Geringes, beizutragen. Nie werde ich die Stunden vergessen, die ich, diese Dinge besprechend, mit Meyer und mit Wessel, einem von Bonn zu uns heraufgekommenen Frankonenfreunde, unter dem Lurleifelsen auf und ab ging – jener schönsten, traumhaftesten Nische des lieben Rheintals. Meyer sah seine Lage etwas nüchterner an als ich die meinige. Nach reiflicher Überlegung, in der Rücksichten auf seine Familie wohl eine wichtige Rolle spielten, [120] kam er zu dem Entschluß, nach Bonn zurückzukehren und in bezug auf die Siegburger Affäre die Chance eines Prozesses auf sich zu nehmen. Viel, meinte er, werde man ihm doch nicht anhaben. Ich versuchte nicht, dem herzensguten, braven Kameraden meine Anschauung aufzudrängen, und so mußten wir denn scheiden.

Der Abschied von Meyer und Wessel wurde mir sehr schwer. Als ich ihnen zum letztenmal die Hände drückte, fühlte ich, als schiede ich nicht allein von ihnen, sondern als nähme ich noch einmal Abschied von meinen Eltern und Geschwistern, von meiner Heimat, von meinen lieben Freunden, von meiner ganzen Vergangenheit. Ade du schöne Studentenzeit mit deinen köstlichen Freundschaften, deinem idealen Streben, deinen glorreichen Jugendträumen!

Die Lehrjahre waren zu Ende, die Wanderschaft begann. Meyer und Wessel fuhren rheinabwärts nach Bonn zurück, ich allein rheinaufwärts nach Mainz.




Sechstes Kapitel.

Der Pfälzisch-badische Aufstand.

In Mainz angekommen, erfuhr ich von einem Mitgliede des dortigen demokratischen Vereins, daß Kinkel bereits durch die Stadt passiert sei, um nach der Pfalz zu gehen; der Mainzer Volksführer Zitz, der ein rhein-hessisches Korps organisiert habe, um den Pfälzern zu Hilfe zu ziehen und augenblicklich in Kirchheimbolanden stehe, könne mir wahrscheinlich näheres sagen. So machte ich mich denn zu Fuß nach Kirchheimbolanden auf den Weg, mein Gepäck in einem Tornister auf dem Rücken tragend. In der kleinen Stadt Kirchheimbolanden fand ich Zitz, einen hochgewachsenen stattlichen Mann, inmitten seiner, wie es schien, wohlausgerüsteten und auch einigermaßen disziplinierten Freischar. Das Lager machte keinen üblen Eindruck. (Zitz wurde wenige Jahre später in New York bekannt als Mitglied der Advokatenfirma Zitz und Kapp.) Nur hatte die Artillerie, die aus drei oder vier kleinen Böllern bestand, wie man sie zum Knallen bei Festlichkeiten gebraucht, etwas Spielzeugartiges. Von Zitz erfuhr ich, daß Kinkel nach Kaiserslautern, der revolutionären Hauptstadt der Pfalz, gegangen sei, um der dort sitzenden provisorischen Regierung seine Dienste anzubieten. So wanderte ich denn weiter nach Kaiserslautern. Dort fand ich auch sogleich Kinkel und Anneke, beide im besten Humor. Sie begrüßten mich herzlich und quartierten mich im Gasthof zum Schwan ein, wo ich vorläufig, wie Kinkel sagte, mich redlich nähren und einen guten pfälzischen Nachtschlaf genießen sollte; am nächsten Tage werde man mir schon etwas zu tun geben.

Am andern Morgen war ich früh auf den Beinen, erfrischt und tatendurstig. Mit besonderer Begierde beobachtete ich, wie ein in Aufstand befindliches Volk sich in der äußeren Erscheinung ausnahm. Ich [121] fand, daß die Gäste im Wirtshaus ruhig frühstückten wie sonst. Ich hörte sagen, daß der Sohn des Schwanenwirts dieser Tage seine Hochzeit feiern werde, und daß große Vorbereitungen im Gange seien. Auf den Straßen ging es allerdings recht lebhaft zu – hier Leute, die ihre gewöhnlichen Geschäfte zu besorgen schienen, da Trupps von jungen Männern in bürgerlicher Kleidung mit Musketen auf den Schultern, die offenbar zu der in der Bildung begriffenen Volkswehr gehörten; dazwischen Soldaten in der bayerischen Uniform, die zum Volk übergegangen waren – und sogar Polizisten, leibhaftige Gendarmen in ihrer Amtstracht, mit dem Säbel an der Seite und augenscheinlich in der Ausübung der gewöhnlichen Funktionen des Sicherheitsdienstes. Nun waren meinem von Rheinpreußen hergebrachten Gefühl die Begriffe „Gendarm“ und „Freiheit“ unvereinbar, und es kostete dem Schwanenwirt einige Mühe, mich verstehen zu machen, daß diese Gendarmen sich auf die Reichsverfassung hätten einschwören lassen, nun der provisorischen Regierung dienten und überhaupt ganz gute Kerle seien. Überhaupt fand ich, obgleich unzweifelhaft die Führer ihre sehr sorgenvollen Stunden hatten, die Bevölkerung im ganzen in einer in hohem Grade gemütlich heiteren Stimmung, den Reiz des Augenblicks rückhaltlos genießend, scheinbar ohne sich viel mit dem Gedanken an das zu quälen, was der kommende Tag bringen werde. Das war eine allgemeine Sonntagsnachmittagslaune, ein wahrer Picknickhumor – äußerst liebenswürdig, aber wenig mit dem Bilde übereinstimmend, das ich mir von dem Ernst dieser revolutionären Situation gemacht hatte. Bald erkannte ich, daß diese fröhlich leichte Auffassung der Dinge mit dem des pfälzischen Volkscharakters wohl übereinstimmte.

Die Rheinpfalz ist ein von der Natur außerordentlich gesegnetes Ländchen, dessen landschaftliche Schönheit und dessen Erzeugnisreichtum wohl geeignet sind, in seiner Bevölkerung einen heiteren, lebenslustigen Sinn zu nähren. Diesen haben nun auch die Pfälzer seit Menschengedenken in hohem Grade besessen und gepflegt. Dazu sind sie ein intelligentes und leicht erregbares Völkchen, gutherzig und enthusiastisch, selbstbewußt und vielleicht auch ein wenig oppositionslustig. Wirklich arme Leute – Leute, denen das Nötige fehlte – gab es, damals wenigstens, einen kleinen Landesteil abgerechnet, in der Pfalz nur in sehr geringer Anzahl. Es war also keineswegs die Not, was die Pfälzer zum Revolutionieren erregte. Bei dem großen Völkerschacher auf dem Wiener Kongreß nach den napoleonischen Kriegen war die Rheinpfalz an das Königreich Bayern gefallen. Aber wie sie geographisch nicht mit Altbayern zusammenhing, so hatte sich dort auch kein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem Königreich entwickeln wollen. Ein wirklicher bayerischer Patriotismus wollte in der Pfalz nicht wachsen. Als nun die bayerische Regierung auch altbayerische Beamte in die Pfalz schickte, um die Pfälzer regieren zu helfen, wurden die gegenseitigen Beziehungen noch unfreundlicher. Die „hungrigen Altbayern“, hieß es, würden nach der reichen Pfalz geschickt, um sich füttern zu lassen. Das Verhältnis war demjenigen, das zwischen der preußischen Rheinprovinz und Altpreußen bestanden hatte, nicht unähnlich. Die Pfälzer waren daher in beständiger Opposition gegen Altbayern, und diese Opposition würde [122] hingereicht haben, sie in die Reihen der Liberalen zu treiben, wäre nicht das geweckte, lebhafte, aufgeklärte Völkchen von Natur aus zu einer liberalen Denkweise disponiert gewesen. Daß dieser Liberalismus bei den Pfälzern einen entschieden deutsch-nationalen Charakter trug, versteht sich von selbst. In der Tat hatte sich eine der berühmtesten nationalen Demonstrationen anfangs der dreißiger Jahre, das „Hambacher Fest“ auf pfälzischem Boden abgespielt, und unter den Führern der nationalen Bewegung gab es immer Pfälzer in vorderster Reihe.

Als nun der König von Bayern die von dem Frankfurter Nationalparlament gemachte Verfassung anzuerkennen verweigerte, brach in der Pfalz sofort die allgemeine Entrüstung in hellen Flammen aus. Es verstand sich bei den Pfälzern von selbst, daß, wenn der König von Bayern nicht deutsch sein wollte, die Pfalz aufhören müsse, bayerisch zu sein. Am 2. Mai wurde in Kaiserslautern eine große Volksversammlung abgehalten, in der alle liberalen Vereine der Pfalz vertreten waren. Diese Versammlung ernannte einen „Landesverteidigungsausschuß“ welcher den gefaßten Beschlüssen gemäß die Regierung der Provinz in die Hände nehmen und für die Organisierung einer bewaffneten Macht sorgen sollte. Die Stimmung der pfälzischen Bevölkerung war so einmütig, daß, mit Ausnahme einiger Beamten- oder Militärkreise und einiger Ortschaften, in denen eine altbayerisch gesinnte Geistlichkeit besonderen Einfluß ausübte, die Autorität des Ausschusses innerhalb der Landesgrenze so ziemlich allgemeine Anerkennung fand.

Die heillose Verworrenheit, welche die Weigerung des Königs von Preußen, die Reichsverfassung und die Kaiserkrone anzunehmen, über Deutschland gebracht hatte, trat nun kraß zutage. Wie schon erwähnt, forderte das Nationalparlament am 4. Mai durch Beschluß „die Regierungen, die gesetzgebenden Körper, die Gemeinden der Einzelstaaten, das gesamte deutsche Volk auf, die Verfassung des deutschen Reichs zur Anerkennung und Geltung zu bringen“. Da nun der König von Bayern die Reichsverfassung anzuerkennen verweigerte, so fühlten die Pfälzer mit vollem Recht, daß sie, indem sie sich gegen die bayerische Regierung erhoben, im Sinne des Beschlusses des Nationalparlamentes handelten, – in der Tat, daß sie einem Befehl der höchsten nationalen Autorität in Deutschland zu gehorchen suchten. Der Landesausschuß wandte sich also in durchaus logischer Weise durch die pfälzischen Abgeordneten im Nationalparlament an dieses und an die provisorische Reichszentralgewalt um Anerkennung und Schutz. Die Reichszentralgewalt, an deren Spitze, wie bekannt, der österreichische Erzherzog Johann stand, schickte darauf einen Reichskommissar, Dr. Eisenstuck, einen Altliberalen nach der Pfalz, um an Ort und Stelle „im Namen der Reichsgewalt alle zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesetze in jenem Lande erforderlichen Maßregeln zu ergreifen“, und insbesondere Fürsorge zu treffen, daß gewisse vom Landesausschusse gefaßten Beschlüsse wieder aufgehoben werden möchten. Der Reichskommissar erklärte auch die betreffenden Beschlüsse für aufgehoben, „bestätigte“ aber den „Landesausschuß für Verteidigung und Durchführung der deutschen Reichsverfassung“ und erklärte denselben für berechtigt, die Volkswehr zu organisieren, zu bewaffnen und auf die Reichsverfassung zu vereidigen, [123] und „gegen gewaltsame Angriffe auf die Reichsverfassung in der Pfalz äußersten Falls selbständig einzuschreiten“. Damit war nun dem Erzherzog-Reichsverweser keineswegs gedient.

Der Erzherzog Johann war ursprünglich dadurch, daß er eine „Bürgerliche“ geheiratet, und daß er sich auch durch politisch freisinnige Äußerungen bei dem österreichischen Hofe mißliebig gemacht, in den Geruch liberaler Gesinnungen gekommen und bei dem großen Publikum populär geworden. Dies hatte ihm im Jahre 1848 die Wahl zum Amt des Reichsverwesers eingetragen. Es war nun nicht unnatürlich, daß ihn darauf der Wunsch und die Hoffnung erfaßte, er möge selbst die deutsche Kaiserkrone empfangen. Die Wahl des Königs von Preußen enttäuschte ihn gewaltig, und er machte seinem Unmut dadurch Luft, daß er dem Präsidium des Nationalparlaments sofort seine Abdankung von dem Reichsverweseramte ankündigte. Doch ließ er sich überreden, diese Abdankung vorläufig zurückzuhalten, und er tat dies denn auch um so williger, als er von dem österreichischen Hofe die dringende Weisung empfing, ein so wichtiges Amt, solange es bestehe, nicht fahren zu lassen, da er darin den dynastischen Interessen Österreichs sehr wichtige Dienste leisten könne. Das dynastische Interesse Österreichs wurde aber damals so verstanden, daß unter keiner Bedingung ein König von Preußen deutscher Kaiser werden, und daß überhaupt keine Konstituierung des deutschen Reichs, in der nicht die österreichische Gesamtmacht Platz fände und die Führerrolle spielte, zustandekommen dürfe. Die vom Nationalparlament gemachte Reichsverfassung war also dem österreichischen Hofe ein Greuel und ihre Einführung mußte mit allen Mitteln verhindert werden. Nun mag der Liberalismus des Erzherzogs Johann ursprünglich immer so echt gewesen sein – gewiß ist, daß ihm das monarchische Interesse im allgemeinen und das österreichische im besonderen viel mehr am Herzen lag als die Reichsverfassung und die deutsche Einheit.

Da stellte sich denn folgende wahrhaft groteske Lage der Dinge heraus: Das deutsche Nationalparlament hatte sich in der „provisorischen Zentralgewalt“, an deren Spitze der Reichsverweser Erzherzog Johann gestellt worden war, ein exekutives Organ gegeben, um seinem Willen Achtung zu verschaffen und seine Beschlüsse praktisch durchzuführen. Die bei weitem wichtigste seiner Willensäußerung bestand in der von ihm gemachten deutschen Reichsverfassung und der Wahl des Königs von Preußen als deutscher Kaiser. Der König von Preußen weigerte sich die Reichsverfassung als zu Recht bestehend anzuerkennen und die auf ihn gefallene Kaiserwahl anzunehmen. Das Nationalparlament forderte darauf nicht nur alle deutschen Regierungen, sondern auch die gesetzgebenden Körper und die Gemeinden der deutschen Einzelstaaten, ja das ganze deutsche Volk auf, die Reichsverfassung zur Anerkennung und Geltung zu bringen. Das Volk der Pfalz tat genau das, wozu das Nationalparlament das deutsche Volk aufforderte. Es stand für die Reichsverfassung auf gegen den König von Bayern, welcher der Reichsverfassung seine Anerkennung versagte. Ein von der Reichszentralgewalt in die Pfalz geschickter Reichskommissar fühlte sich durch eine Loyalität dem Nationalparlament gegenüber und durch die Logik [124] der Umstände gezwungen, den pfälzischen „Landesausschuß für Verteidigung und Durchführung der Reichsverfassung“ zu bestätigen und zur Zurückweisung gewaltsamer Angriffe auf die Reichsverfassung für berechtigt zu erklären. Und was tat darauf der Reichsverweser, der zu dem Zwecke geschaffen worden und dessen oberste Pflicht darin bestand, den Willen des Nationalparlaments und besonders die Reichsverfassung zur Anerkennung und Geltung zu bringen? Er rief den Reichskommissar sofort zurück und schickte sich an, die Volksbewegung, die in Übereinstimmung mit dem Aufruf des Nationalparlaments zur Verteidigung und Durchführung der Reichsverfassung begonnen worden war, mit Waffengewalt zu unterdrücken. Und zu diesem Zweck wurden hauptsächlich preußische Truppen gewählt – Truppen desselben Königs, der im März 1848 feierlich versprochen hatte, sich an die Spitze der nationalen Bewegung zu stellen und Preußen in Deutschland aufgehen zu lassen, der dann zum Deutschen Kaiser gewählt worden und nun diejenigen tot zu schießen bereit war, die ihn tatsächlich zum Kaiser machen wollten.

Es ist zur Verteidigung dieser unerhörten Handlungsweise gesagt worden, daß dem Volksaufstand für die Reichsverfassung in der Pfalz und besonders demjenigen in Baden starke republikanische Tendenzen, „Umsturzgelüste“, beigemischt waren. Das ist richtig. Es ist aber ebenso wahr, daß, hätten die deutschen Fürsten in loyaler Weise, wie sie im März 1848 dem deutschen Volke das volle Recht gegeben hatten, von ihnen zu erwarten, die Reichsverfassung angenommen, sie alle republikanischen Bestrebungen in Deutschland brachgelegt haben würden. Das deutsche Volk würde im ganzen und großen zufrieden gewesen sein; ja es würde sich unzweifelhaft sogar einige Änderungen der Reichsverfassung im monarchischen Sinne haben gefallen lassen. Und es ist nicht weniger wahr, daß die Weise, in welcher die Machthaber nach so vielen schönen Versprechungen die Hoffnung des deutschen Volkes auf nationale Einigung zu vereiteln suchten, nur zu gut geeignet war, allen Glauben an die nationale Gesinnung und die Loyalität der Fürsten zu zerstören und die Meinung zu verbreiten, daß nur auf republikanischem Wege eine einheitliche deutsche Nation geschaffen werden könne. Die Haltung des Königs von Preußen sowie der Könige von Bayern, Hannover und Sachsen stellten den national gesinnten Deutschen vor die klare Alternative, entweder alle deutschen Einheitsbestrebungen und alles, was damit an nationaler Freiheit, Macht und Größe zusammenhing, vorläufig aufzugeben, oder dieselben auf dem Wege weiter zu führen, der von den Regierungen als revolutionär bezeichnet wurde. Die klägliche Geschichte Deutschlands während des nächsten Dezenniums hat schlagend bewiesen, daß diejenigen, welche die Situation im Jahre 1849 im Lichte dieser Alternativen auffaßten, sie richtig auffaßten.

Kehren wir nun zur Pfalz nach der Abberufung des Reichskommissars Eisenstuck zurück. Zuerst wurden mit kleinen Truppenkörpern Versuche gemacht, der pfälzischen Bewegung Einhalt zu tun. Da dies jedoch nicht gelang und unterdes auch durch den Aufstand des Volkes und der Armee in Baden die Lage der Dinge viel ernster geworden war, so fing die preußische Regierung an, ein paar Armeekorps mobil [125] zu machen und sich auf einen förmlichen Feldzug vorzubereiten. Es waren gerade diese Vorbereitungen, die durch die verschiedenen Aufstandsversuche in den preußischen Westprovinzen hatten verhindert werden sollen. Die Pfalz blieb nun mittlerweile eine Zeitlang unangegriffen, und das gutmütige, zu sanguinischen Anschauungen geneigte Völkchen sah in dieser zeitweiligen Ruhe ein Zeichen, daß die Fürsten, auch der König von Preußen, sich doch scheuten, einen offenen Waffengang zu unternehmen, weil sich für die große Sache der deutschen Einheit und Freiheit wahrscheinlich die anderen Völkerschaften ebenso begeistern würden wie die Pfälzer und die Badenser. Man gab sich daher gern dem Glauben hin, daß die Erhebung ebenso heiter enden werde, wie sie begonnen hatte; und dies erklärt die Tatsache, daß die lustige Stimmung inmitten der revolutionären Ereignisse, die ich als Picknickhumor beschrieb, eine gute Weile vorhielt. Nicht wenige der Führer wiegten sich auch in diese Vertrauensseligkeit ein, und als nun der „Landesausschuß“ gar den offiziellen Titel einer „provisorischen Regierung“ annahm, da freute man sich des Gefühls, daß nun die „Fröhliche Pfalz, Gott erhalts“ der bayerischen Wirtschaft für immer ledig sei und als hübsche kleine Republik und Bestandteil des großen deutschen Freistaates sich fortan werde ersprießlich selbst regieren können.

Die Verständigeren und Weitersehenden verhehlten sich jedoch nicht, daß, wie die Dinge sich nun einmal gestaltet hatten, es sich hier um einen Entscheidungskampf mit einer antinationalen und antiliberalen Reaktion handle, die bei dieser Gelegenheit ihre ganz wohlorganisierte Macht, wenn nötig, bis zu den letzten Reserven, aufbieten werde, und daß dieser Macht gegenüber sich die Hülfsmittel der Pfalz und Badens bedenklich gering ausnahmen. In der Pfalz hatte allerdings eine kleine Zahl bayerischer Soldaten sich für die „Sache des Volkes“ erklärt, – d. h. die hatten sich von den Mitgliedern oder Emissären des Landesausschusses auf die Reichsverfassung einschwören lassen und dann an Stelle der Offiziere, welche die Eidesleistung verweigerten, ihre Unteroffiziere zu Offizieren erwählt. Aber ihrer waren nur wenige Hunderte. Außerdem verfügte die provisorische Regierung über die Bürgerwehren der pfälzischen Städte, die natürlich nur zum lokalen Dienst tauglich und nur schlecht bewaffnet waren; dann über das rhein-hessische Korps unter Zitz, 6–700 Mann stark, über ein ähnliches Korps unter Blenker, der sich später in Amerika einen Namen machte, und schließlich über die in größerem Maßstabe erst zu organisierenden Volkswehren. Es würde wahrscheinlich nicht schwer gewesen sein, in der Pfalz ein aus rüstigen jungen Leuten bestehendes Armeekorps von 20–25000 Mann zu bilden, wäre die provisorische Regierung mit dem nötigen Kriegszeug versehen gewesen. Freiwillige meldeten sich in Menge; aber da man ihnen keine Musketen in die Hände geben, sondern sie nur darauf verweisen konnte, sich so gut es ging mit Sensen und Spießen zu bewaffnen, so verliefen sich viele davon. Ein Versuch, Musketen von Belgien einzuführen, mißlang, da man naiverweise die Ladung durch preußisches Gebiet den Rhein herauf hatte kommen lassen, wo sie natürlich von den wachsamen Preußen abgefaßt wurde. Eine Überrumpelung der in der Pfalz gelegenen Festung Landau, die bedeutende Vorräte [126] enthielt, schlug ebenfalls fehl. So blieb denn der Waffenmangel eine der drückendsten Sorgen der provisorischen Regierung.

Diese bestand aus durchaus ehrenwerten, wohlmeinenden, braven Männern, denen man es nicht übel anrechnen darf, daß sie den Schwierigkeiten ihrer Situation, welche nur ein eminentes Genie, verbunden mit höchster Tatkraft, hätte überwinden können, nicht gewachsen waren. Ebensowenig gelang es ihnen, gerade solche Leute, wie sie eine so gewaltige Arbeit erfordert, in ihren Dienst zu ziehen. Den Oberbefehl über die bereits bestehenden und noch zu organisierenden Streitkräfte gaben sie zuerst einem ehemaligen Kommandeur der Bürgergarde in Wien, Fenner von Fenneberg, – einem Mann, der sich zum professionellen Revolutionär entwickelt hatte und seine Zeit hauptsächlich damit zubrachte, in bissigem Gerede andern die Schuld zuzuschreiben, wenn nichts geleistet wurde. Später schrieb er ein Buch, um die Unfähigkeit der provisorischen Regierung nachzuweisen, bei welcher Gelegenheit er seine eigene aufs schlagendste dokumentierte. Fenneberg mußte bald abtreten, und das Kommando ging dann provisorisch an eine Militärkommission über, die hauptsächlich aus ehemaligen preußischen Offizieren bestand, wie Techow, Schimmelpfennig, Anneke und Beust. Diese waren durchweg sehr tüchtige Leute, aber mehr geeignet für die Führung bereits fertiger Truppenkörper im Felde, als für die Schöpfung einer Armee in einem Lande, dessen Bevölkerung dem an stramme Disziplin und rasches Gehorchen gewöhnten preußischen Offizier nicht recht verständlich war und auch diesen mit seinem kurz angebundenen Wesen nicht besonders sympathisch fand. Doch leistete diese Kommission alles, was von ihr erwartet werden konnte. Mittlerweile aber engagierte die provisorische Regierung um schweres Geld, die Summe von 10000 Gulden, die Dienste eines alten polnischen Generals namens Sznayde, dem nachgesagt wurde, daß er eigentlich Schneider heiße. Offiziere, die in den großen polnischen Befreiungskämpfen gefochten hatten, erschienen damals noch von dem Nimbus des revolutionären Heldentums umflossen. Die volkstümliche Legende schrieb ihnen nicht allein außerordentliche Tapferkeit, sondern auch alle möglichen militärischen Talente und eine besondere Kenntnis aller Geheimnisse der Kriegskunst zu. Es war, als würde an den Sammelplätzen der polnischen Flüchtlingschaft, besonders in Paris und in der Schweiz, ein Vorrat von Feldherren auf Lager gehalten, um gelegentlich in irgend einem Teile der Welt an vorkommende revolutionäre Unternehmungen abgesetzt zu werden. Unter diesen polnischen Offizieren gab es unzweifelhaft Männer von bedeutenden Fähigkeiten, wie Dembinsky, Bem, Mieroslawksi und andere, – aber auch viel wertloses oder abgestandenes Material. Wie nun die provisorische Regierung der Pfalz auf den General Sznayde verfallen war, weiß ich nicht. Er soll in dem polnisch-russischen Kriege von 1830 und 1831 ein recht tapferer Reiteroffizier gewesen sein; aber im Jahre 1849 hätte man schwerlich einen General finden können, der zum Kommandeur der pfälzischen Volkswehren schlechter gepaßt hätte. Er war ein sehr dicker und sehr schwerfälliger alter Herr, dessen Aussehen vermuten ließ, daß er Messer und Gabel viel mehr zu handhaben liebte als den Säbel, und dem es um seine Nachtruhe offenbar mehr [127] zu tun war als um wildes Kriegsgetümmel. Auch konnte er das sehr wenige, das er zu sagen hatte, auf Deutsch kaum oder gar nicht verständlich machen. Das Feld der Wirksamkeit, auf welches er sich versetzt sah, war ihm wildfremd. Seine Leistungen als Organisator des Volksheeres bestanden hauptsächlich darin, daß er die Tätigkeit der Militärkommission behinderte. Die Folge war, daß, während die provisorische Regierung es an Aufrufen, Verordnungen und Befehlen nicht fehlen ließ, die meisten davon ohne Ausführung blieben. Nach etwa sechswöchentlicher Arbeit hatte man in der Pfalz nicht mehr als 7–8000 Mann zum großen Teil schlecht bewaffneter und durchaus schlecht disziplinierter Truppen.

In Baden war man viel besser bestellt. Die gesamte Infanterie und Artillerie sowie der größte Teil der Kavallerie des Großherzogtums Baden hatten sich der Volksbewegung angeschlossen und präsentierten ein wohlausgerüstetes Armeekorps von etwa 15000 Mann. Zugleich war die Festung Rastatt mit ihren Waffen-, Munitions- und Montierungsvorräten in die Hände der Aufständischen gefallen. Neugebildete Organisationen konnten also bequem mit dem Nötigen versehen werden, und so hätte sich dort ohne allzu große Schwierigkeit eine mehr oder minder schlagfähige Armee von 40–50000 Mann herstellen lassen. Freilich hatten sich, mit wenigen Ausnahmen, die Offiziere zum Großherzog gehalten und von ihren Truppen getrennt. Aber ihre Stellen waren mit avancierten Unteroffizieren besetzt worden, und unter diesen gab es tüchtige Leute in hinreichender Anzahl, um unter den Liniensoldaten die Disziplin einigermaßen aufrecht zu halten. So erschien denn der badische Aufstand in ziemlich stattlicher Rüstung.

Aber die pfälzischen und badischen Führer hätten von vornherein mit der Tatsache rechnen müssen, daß die äußerste Anstrengung der Kräfte der beiden kleinen Länder nicht hinreichen konnte, der vereinigten Macht der deutschen Fürsten, oder selbst Preußen allein, die Spitze zu bieten. Es gab keine Hoffnung des Erfolges, wenn sich nicht die Volkserhebung über Baden und die Pfalz hinaus auf das übrige Deutschland ausbreitete. Zu diesem Ende hätten die beiden provisorischen Regierungen alle nur einigermaßen marschfähigen Leute über die Grenzen werfen sollen, um die Truppen und die Bevölkerung der benachbarten Staaten, zuerst die von Hessen und Württemberg, in die aufständische Bewegung hineinzuziehen und, im Falle des Gelingens, auf dieselbe Weise immer weiter vorzudringen. Ein junger badischer Offizier, Franz Sigel, der von der provisorischen Regierung zum Major avanciert worden war, erkannte dies klar genug und riet zur Invasion von Württemberg. Die provisorische Regierung erlaubte ihm eine Bewegung auf hessisches Gebiet mit schwachen Kräften. Aber er wurde bald zurückbefohlen. Zu einem offensiven, propagandistischen Vorgehen konnten sich die provisorischen Regierungen von Baden und der Pfalz nicht entschließen. Sie sahen nicht, daß defensives Erwarten der feindlichen Streitkräfte die unfehlbare Niederlage der Volkstruppen und das totale Fehlschlagen der Erhebung bedeutete. Sie klammerten sich noch immer an die Hoffnung, daß die preußische Regierung doch noch im letzten Augenblick von einem tatsächlichen Angriff auf die Verteidiger der Reichsverfassung [128] zurückschrecken, oder, wenn nicht, daß die preußische Landwehr sich weigern werde, auf ihre für das gemeinsame Recht aufgestandenen Brüder zu schießen. Was die Landwehr nun auch getan haben möchte, hätte ein mit kühner Entschlossenheit und Siegesmut vordringendes Volksheer sie auf ihrem eigenen Boden aufgesucht und so an ihre Sympathie appelliert – man könnte schwerlich von ihr erwarten, daß sie sich für eine ängstlich zurückhaltende und anscheinend sich selbst aufgebende Sache opfern werde. Aber wie klar dies auch zurzeit den badischen und pfälzischen Führern hätte sein sollen, die provisorischen Regierungen beharrten darauf, innerhalb der Landesgrenzen den Angriff zu erwarten.

Ich kann mich nicht rühmen, die Situation damals so klar durchschaut zu haben wie später. Freilich hatte ich eine Ahnung davon; aber dann tröstete ich mich mit dem Gedanken, die Führer, viel ältere Leute als ich, müßten doch besser wissen, was zu tun sei; und schließlich hielt mich mein hoffnungsvoller Jugendmut aufrecht, der mir wieder und wieder sagte, eine so gerechte Sache, wie die unsrige, könne unmöglich untergehen. Schon am Tage nach meiner Ankunft in Kaiserslautern hatte ich mich in eins der Volkswehrbataillone, die organisiert wurden, als Soldat wollen einreihen lassen. Aber Anneke riet mir, damit nicht zu eilig zu sein, sondern mich ihm anzuschließen; da er Chef der pfälzischen Artillerie sei, so könne er mir eine meinen Fähigkeiten mehr angemessene Stellung verschaffen. In der Tat brachte er mir ein paar Tage darauf ein Leutnantspatent, das er mir von der provisorischen Regierung erwirkt hatte, und so wurde ich Aide-de-Camp im Stabe des Artilleriechefs. Kinkel fand Verwendung als einer der Sekretäre der provisorischen Regierung. Die pfälzische Artillerie bestand nur aus den Böllern der rheinhessischen Freikorps, aus einem halben Dutzend ähnlicher kleiner Kanonen, von denen man sagte, sie würden im Gebirgskriege recht nützlich sein, und aus einer später von der badischen provisorischen Regierung erstandenen Sechspfünderbatterie. Das Wirkungsfeld des Artilleriechefs und seines Stabes war also ein sehr beschränktes, und ich ließ mir’s gefallen, bis zum Ausbruch der Feindseligkeiten auch in politischen Angelegenheiten beschäftigt zu werden. So hatte ich zuweilen bei Volksversammlungen mitzuwirken, welche man zur Anfeuerung des patriotischen Eifers veranstaltete; und einmal wurde mir sogar der Auftrag, als Kommissar der provisorischen Regierung die Verhaftung eines katholischen Pfarrers zu bewerkstelligen, der seinen Einfluß in seiner Gemeinde – einem großen Bauerndorf von etwa 3000 Einwohnern – offen dazu benützte, die jungen Leute von dem Eintritt in die Volkswehr abzuhalten. Dies galt nun für eine Art von Hochverrat an der neuen Ordnung der Dinge. Da der Pfarrer für desperat genug gehalten wurde, sich dem Verhaftsbefehl der provisorischen Regierung gegenüber zur Wehr zu setzen, so wurde mir eine Abteilung Volkswehr von etwa 50 Mann mitgegeben, um mir bei der Ausführung meines Auftrags Hülfe zu leisten. Diese bewaffnete Macht sah allerdings nicht sehr achtunggebietend aus. Der sie kommandierende Leutnant war in gewöhnlichen Zivilkleidern, aber mit einem befiederten Kalabreserhut, einer schwarz-rot-goldenen Schärpe und einem Säbel ausgestattet. [129] Bei der Mannschaft gab es nur eine einzige militärische Uniform, und zwar die eines französischen Nationalgardisten, der aus Straßburg herübergekommen war, um das Revolutionsvergnügen in der Pfalz mitzumachen. Die übrigen Leute trugen ihre bürgerlichen Kleider etwa mit einem Federschmuck auf dem Hut. Musketen fanden sich in der Truppe weniger als ein Dutzend; darunter einige mit alten Feuersteinschlössern. Der Rest der Bewaffnung bestand aus Spießen und geradegestellten Sensen. Ich selbst zeichnete mich als Regierungskommissar durch eine über Schulter und Brust geworfene schwarz-rot-gelbe Schärpe und einen Schleppsäbel aus. Außerdem trug ich im Gürtel eine Pistole ohne Munition. So ausgerüstet, marschierten wir über Land dem Dorfe zu, in dem der hochverräterische Pfarrer sein Unwesen trieb. In der Nähe des Dorfes angelangt, machten wir Halt, und da unter meinen Leuten niemand war, der in dem Dorfe Bescheid wußte, so wurden drei Mann ohne Waffen vorausgeschickt, um die Lage des Pfarrhauses auszukundschaften. Zwei von ihnen sollten, um es zu beobachten, dort bleiben, und der dritte zu uns zurückkehren, um der Expedition als Wegweiser zu dienen. So geschah es.

Als ich an der Spitze meiner bewaffneten Macht in das Dorf einmarschierte, fand ich die Straßen wie ein Bild stillen Friedens. Es war ein schöner, sonniger Sommernachmittag. – Die männliche Bewohnerschaft, Ackerbauer, arbeitete auf dem Felde. Nur einige alte Leute und kleine Kinder ließen sich an den Türen der Häuser oder an den Fenstern sehen, unsern abenteuerlichen Aufzug mit blöder Verwunderung anstarrend. Ich muß gestehen, daß ich mir einen Augenblick recht sonderbar vorkam. Aber meine amtliche Pflicht ließ mir keine Wahl. Rasch wurde mit einer Abteilung meiner Truppe das Pfarrhaus umzingelt, damit mir mein Hochverräter nicht etwa durch eine Hintertür entwischen könne. Die Hauptmacht blieb in Reih und Glied auf der Straße stehen. Ich selbst klopfte an die Tür des Hauses und befand mich bald in einer einfachen, aber behaglich ausgestatteten Stube dem Pfarrer gegenüber. Er war ein noch junger Mann, etwa 35 Jahre alt, kräftige untersetzte Gestalt, wohlgebildeter Kopf mit lebhaften, klug blitzenden Augen. Ich suchte eine strenge, martialische Miene anzunehmen und machte ihn sofort in kurzen Worten mit meinem Auftrag bekannt, legte ihm, wie ich gehört und gelesen hatte, daß es beim Verhaften üblich sei, die Hand auf die Schulter und nannte ihn meinen Gefangenen. Zu meinem Erstaunen brach er in ein helles Lachen aus, das echt schien.

„Mich verhaften wollen Sie?“ rief er. „Das ist nicht übel. Sie sind offenbar Student. Ich bin auch Student gewesen. Ich kenne das. Die ganze Geschichte ist ja nur ein Witz. Trinken Sie eine Flasche Wein mit mir.“ Dabei öffnete er die Stubentür und rief einem Dienstmädchen zu, sie möge Wein bringen.

Es verdroß mich, daß er in mir sogleich den Studenten entdeckt hatte, und daß ihm der Ausdruck amtlicher Autorität in meinen Mienen nicht imponieren wollte. „Machen Sie sich fertig, Herr Pastor“, entgegnete ich in möglichst strengem Ton. „Dies ist kein Spaß. Sie haben in Ihrer Gemeinde die Organisation der Volkswehr verhindert. [130] Solch verräterisches Treiben kann die provisorische Regierung nicht dulden. Im Namen der provisorischen Regierung habe ich Sie verhaftet. Sie müssen mit. Machen Sie keine Umstände. Ihr Haus ist von Soldaten umzingelt. Zwingen Sie mich nicht, Gewalt zu brauchen!“

„Gewalt! Das möchte ich sehn!“ rief er, und in seinen Augen flammte etwas auf wie Zorn und Herausforderung. Aber er bezwang sich und fuhr in ernstem, aber ruhigem Ton fort: „So große Eile hat es doch wohl nicht, daß Sie nicht noch ein Wort anhören könnten. Da kommt das Mädchen mit dem Wein, und wenn ich doch fort muß, erlauben Sie mir noch ein Glas mit Ihnen zu trinken, auf Ihr Wohl. Es ist ja richtig; ich habe meine armen Bauernburschen nicht in die Volkswehr wollen eintreten lassen, um sich für nichts und wieder nichts totschießen zu lassen. Sie denken doch auch nicht, daß dieser kopflose Aufstand gewinnen kann. In wenigen Tagen werden die Preußen Ihre provisorische Regierung über die Grenze gejagt haben. Wozu denn dieser Unsinn, der noch vielen Leuten das Leben kosten kann?“ Dabei zog er den Pfropfen aus der Flasche und schenkte zwei Gläser voll. Ich hatte nicht Zeit zu überlegen, ob ich, durstig wie ich war, mit meinem Gefangenen trinken sollte oder nicht, als ich die Glocke des nahen Kirchturms heftig anschlagen hörte, und dann immer heftiger und rascher. Das konnte nichts anderes sein als Sturmgeläute. Hatten die Bauern von der ihrem Pastor drohenden Gefahr Wind bekommen und rief diese Sturmglocke sie zu seinem Schutze zusammen? Der Pfarrer schien die Sache sogleich zu verstehen. Ein schlaues Lächeln flog über seine Züge.

„Wie viel Mann haben Sie denn da draußen?“ fragte er.

„Genug“, antwortete ich.

Ich öffnete das Fenster und sah, wie von allen Seiten Bauern herbeikamen mit Dreschflegeln, Heugabeln und Knütteln bewaffnet. Meine Leute standen noch in Reih und Glied auf der Straße. Einige von ihnen fingen an, sich ein wenig ängstlich nach den herbeieilenden Bauern umzusehen. Ich befahl dem Leutnant, unsere Mannschaft mit dem Rücken gegen das Haus zu stellen und niemanden herein zu lassen. Im Falle eines Angriffs solle er die Tür bis aufs äußerste verteidigen. Ich wies ihn an, denselben Befehl den Leuten zu schicken, welche die Hintertür des Pfarrhauses bewachten. Die Menge der herzueilenden Bauern schwoll immer mehr an. Drohende Ausrufe ließen sich hören. Die Situation wurde offenbar bedenklich. Ob die Handvoll Volkswehrleute dem großen Haufen fanatischer Bauern gewachsen sein würde, schien sehr fraglich.

Der Pfarrer lächelte noch immer. „Meine Pfarrkinder lassen sich für mich totschlagen“, sagte er. „Es scheint mir, daß Ihre bewaffnete Macht in der Gewalt dieser Bauern ist.“

Da schoß mir ein glücklicher Gedanke durch den Kopf. „Jedenfalls sind Sie, Herr Pastor, in meiner Gewalt“, antwortete ich, indem ich meine Pistole aus dem Gürtel zog und den Hahn spannte. Der Pfarrer würde noch mehr gelächelt haben, hätte er gewußt, daß die Pistole nicht geladen war. Er hielt sie offenbar für gefährlich und sein Lächeln verschwand plötzlich. „Was wollen Sie von mir?“ fragte er. [131]

„Ich will“, sagte ich mit einer äußerlichen Kaltblütigkeit, die ich innerlich nicht fühlte, „ich will, daß Sie unverzüglich an dieses Fenster treten und ihre Bauern recht eindringlich ermahnen, sofort ruhig nach Hause zu gehen. Sie werden hinzusetzen, daß Sie mit der Regierung Geschäfte im Interesse Ihrer Gemeinde haben, daß Sie in Beleitung Ihres Freundes hier, das bin ich, nach der Stadt gehen werden, um diese Geschäfte abzumachen, und daß diese bewaffneten Volkswehrmänner dazu gekommen sind, Sie unterwegs gegen alle Gefahr und Belästigung zu schützen. Während Sie diese Rede an die Bauern halten, stehe ich mit dieser Pistole hinter Ihnen. Machen Sie Ihre Sache gut, Herr Pastor. Die provisorische Regierung wird es Ihnen anrechnen.“

Der Pfarrer sah mich einen Augenblick verdutzt an und lächelte wieder; aber es war ein verlegenes Lächeln. Die Pistole in meiner Hand gefiel ihm augenscheinlich nicht. Dann trat er wirklich ans Fenster und wurde von den Bauern mit lauten Ausrufen empfangen. Er gebot Ruhe und sagte genau das, was ich ihm vorgeschrieben hatte. Er machte seine Sache vortrefflich. Die Bauern gehorchten ihm ohne Zaudern, und es wurde still auf der Straße. Der Pfarrer und ich tranken nun unsere Flasche Wein in aller Gemütlichkeit. Bei eintretender Dämmerung verließen wir das Haus durch die Hintertür und wanderten miteinander über Land der Stadt zu, wie zwei alte Freunde, in heiterem Gespräch, die bewaffnete Macht ein paar hundert Schritte hinter uns. Unterwegs spielte ich mit meiner Pistole, indem ich sie in die Luft warf und mit der Hand wieder auffing. „Nehmen Sie sich doch in acht“, sagte der Pfarrer, „die Pistole könnte losgehen.“

„Unmöglich, Herr Pastor“, antwortete ich. „Sie ist ja gar nicht geladen.“

„Was“, rief er, „nicht geladen? Und ich – na, das ist ein kapitaler Spaß!“

Wir blickten einander an und brachen beide in helles Gelächter aus. Ich berichtete der provisorischen Regierung, wie der Pfarrer mir und meinen Leuten aus der Patsche geholfen, und er wurde sehr glimpflich behandelt und bald wieder nach Hause geschickt. Man hatte auch an viel wichtigere Dinge zu denken.

Der Angriff, den die fröhlichen Pfälzer, wenigstens viele davon, so lange für unwahrscheinlich gehalten hatten, kam nun wirklich. Am 12. Juni rückte eine Abteilung preußischer Truppen über die Grenze. Wären die Flüche, die das sonst so gutmütige Völkchen den Preußen entgegenschleuderte, alle Kanonenkugeln gewesen, so hätte das preußische Korps schwerlich standhalten können. Aber die wirklichen Streitkräfte, über welche die provisorische Regierung der Pfalz gebot, waren so gering und befanden sich in einem so wenig schlagfertigen Zustande, daß an eine erfolgreiche Verteidigung des Landes nicht zu denken war. Man mußte daher ein Zusammentreffen mit den Preußen vermeiden; und so kam es, daß die erste militärische Operation, an der ich teilnahm, in einem Rückzug bestand.

Einige Tage vorher hatte mein Chef, der Oberstleutnant Anneke, mich instruiert, zu jedem Augenblick marschbereit zu sein, was mir nicht schwer fiel, da mein Gepäck sehr bescheiden war. Es wurde mir auch [132] ein Pferd zugewiesen, ein hübsches, hellbraunes Tier; und da ich das Reiten noch nicht verstand, so schickte mich Anneke in eine Reitbahn, wo ein Reitmeister mich aufsitzen hieß, mir in kurzen Worten den Schluß mit den Beinen und die Handgriffe der Führung erklärte, worauf er mit seiner Peitsche auf das Pferd einhieb, das in ziemlich wilden Sätzen mit mir umhersprang, bis ich seiner mächtig wurde. „So“, sagte der Reitmeister, „jetzt haben Sie genug für diese Gelegenheit. Das andere lernen Sie schon auf dem Marsch.“ Ich wurde auch mit einer Kavalleriereithose ausgestattet, die so schwer mit Leder besetzt war, daß sich nur mit Mühe darin zu Fuß gehen ließ. Der Reitmeister hatte Recht gehabt. Die fortwährende Übung im aktiven Dienst machte mich bald zu einem sattelfesten und nicht ungeschickten Reiter.

Obgleich der Einmarsch der Preußen und der Befehl zum Rückzuge der pfälzischen Truppen von den Wohlunterrichteten schon mehrere Tage erwartet worden, so hatten diese Ereignisse doch die Wirkung, die gemütliche Verwirrung, die seit dem Ausbruch des Aufstandes in Kaiserslautern geherrscht hatte, bedeutend zu erhöhen und zu einer recht ungemütlichen zu machen. Des Befehlens und Anordnens und Widerrufens von Befehlen war kein Ende, und das Durcheinander wuchs von Stunde zu Stunde, bis es endlich zum wirklichen Aufbruch kam. Wenn ich nicht irre, war es in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni. Mit unserer Artillerie gab’s allerdings nicht viel Schwierigkeit, da sie, wie schon erzählt, aus sehr wenigen Stücken bestand. Um zwei Uhr nachts stiegen wir zu Pferde. Ein Nachtmarsch ist fast immer eine trübselige Geschichte, besonders aber ein Nachtmarsch rückwärts. Doch muß ich gestehen, daß mich das dumpfe Rollen der Räder auf der Straße, das summende und schnurrende Geräusch der Marschkolonne, das leise Schnauben der Pferde und das Klirren der Säbelscheiden in der Finsternis als etwas besonders Romantisches berührte. Darin fand ich viel Sympathie bei der Frau meines Chefs, Mathilde Franziska Anneke, einer noch jungen Frau von auffallender Schönheit, vielem Geist, großer Herzensgüte, poetisch feurigem Patriotismus und ausgezeichneten Charaktereigenschaften, die ihrem Mann auf diesem Zuge zu Pferde begleitete. Ich erinnere mich noch des gemeinsamen Entzückens, als wir in jener Nacht bei einem Wirtshause an der Straße vorüberritten, wo einige Freischärler, bärtige Gesellen in schwarzen befiederten Filzhüten und phantastisch ausgeschmückten Blusen, die Kugelbüchsen über die Schultern gehängt, sich bei dem matten Schein einer Kerze um die Wirtin drängten, die ihnen Wein einschenkte. Das Bild hätte eine Illustration zu Schillers Räubern vorstellen können. Überhaupt gab es unter unsern Kriegsvölkern malerische Effekte in Fülle. Da der bei weitem größte Teil der pfälzischen Volkswehr nicht uniformiert war und jeder Soldat mit Ausnahme der Waffen, so ziemlich für seine eigene Ausstattung zu sorgen hatte, so fand der individuelle Geschmack verführerischen Spielraum. Manche der Leute bestrebten sich, als Krieger möglichst wild und schreckhaft auszusehen, und so ließen sie nicht allein dem Bartwuchs alle erdenkliche Freiheit, sondern bedeckten ihre Hüte mit Federn, unter denen die roten besonders beliebt waren, trugen Überwürfe in schreienden Farben, und steckten, wenn sie deren habhaft [133] werden konnten, mörderisch blinkende Dolche oder Jagdmesser in ihre Gürtel. So gab es denn unter uns Wallensteinslagergestalten genug, die fürchterlich erschienen wären, hätten sie nicht gar so gutmütige Gesichter gehabt.

Mit Sonnenaufgang nach diesem ersten Nachtmarsch fanden wir uns bei Frankenstein in einem scharf eingeschnittenen Tal zwischen mittelhohen Bergrücken, wo wir quer über die Straße nach Neustadt eine Defensivstellung einnahmen. Ein kalter Morgen bringt unter solchen Umständen ein Gefühl durchaus unromantischer Nüchternheit mit sich, und ich machte die Erfahrung, daß dann ein warmer Trunk, sei der Kaffee auch noch so dünn, und ein Stück Brot zu den großen Wohltaten des Lebens gehört. Die Preußen drängten nicht scharf nach, und wir blieben den Tag über durchaus ungestört bei Frankenstein im Biwak. Am 15. und 16. Juni wurden die pfälzischen Truppen bei Neustadt an der Hardt und Edesheim zusammengezogen. In dieser reichen Gegend bezeugte uns die Dorfbevölkerung ihre freundliche Gesinnung vorzüglich damit, daß sie an den Türen vieler Häuser große Eimer voll Wein und dabei blecherne Schöpflöffel aufstellte, damit die vorüberziehenden Truppen sich daran laben möchten. Der geleerte Eimer wurde gewöhnlich sofort durch einen vollen ersetzt. Dort sah ich auch zum erstenmal den damaligen Freischarenführer und Obristen Blenker, der später in der ersten Periode des Rebellionskrieges in den Vereinigten Staaten als Brigadegeneral viel von sich reden machte. Er war eine ausnehmend stattliche, martialische Gestalt und vortrefflicher Reiter, und wie er, glänzend ausstaffiert, an der Spitze seines Stabes dahersprengte, imponierte er mir gewaltig. Der Anblick mehrerer wohlbewaffneter Bataillone erfrischte einigermaßen den durch den Rückzug getrübten Mut unserer Truppen, und es erscholl hier und da der Ruf, daß man nun die „sakermentschen Preußen“ erwarten solle. Aber der Rückzug wurde doch fortgesetzt und die Pfalz ohne Schwertstreich gänzlich aufgegeben. Am 19. Juni gingen wir, etwa 7 bis 8000 Mann stark, bei Knielingen über den Rhein auf badisches Gebiet und marschierten nach Karlsruhe.

Unser Einzug in die saubere, geschniegelte Hauptstadt des Großherzogtums Baden brachte unter den Einwohnern eine Sensation hervor, die dem pfälzischen Korps von Freiheitskämpfern keineswegs schmeichelhaft war. Die an das schmucke großherzogliche Militär gewöhnten Karlsruher Bürger schienen das Malerische und Romantische in dem Aussehen der pfälzischen Truppen durchaus nicht zu würdigen, sondern eher geneigt zu sein, ihre Türen und Läden zu schließen und ihre Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen, wie man sich vor einer Räuberbande zu retten sucht. Wenigstens trugen die Gesichter vieler der Leute, die unseren Einmarsch beobachteten, unverkennbar den Ausdruck entschiedenen Widerwillens und ängstlicher Besorgnis. Wir trösteten uns mit dem Gedanken, der auch recht kräftigen Ausdruck fand, daß die Einwohnerschaft dieser Residenzstadt hauptsächlich aus Hofgesinde und Beamtenvolk bestehe und daß sie im Grunde des Herzens gut großherzoglich gesinnt sei und die Revolution grimmig hasse, wenn auch manche davon in den letzten Wochen die Republikaner gespielt hätten. Übrigens war der Wunsch der Karlsruher, die pfälzischen Gäste möglichst [134] bald los zu sein, so groß, daß man diesen nicht einmal Gelegenheit gab, den furchtsamen Seelen zu beweisen, was für ehrliche und friedliebende Menschen unter diesen wilden Bärten, roten Federbüschen und dolchgespickten Gürteln versteckt waren. Noch am demselben Tage wurden uns Lager außerhalb der Stadt angewiesen und schon am 20. Juni marschierten wir nordwärts zur Unterstützung der badischen Armee, die unterdessen ins Gedränge gekommen war.

Diese badische Armee hatte die Nordgrenze des Großherzogtums gegen den Reichsgeneral Peuker verteidigt. Gerade beim Ausbruch der Feindseligkeiten erhielt auch sie ihren Polen, den General Mieroslawski, zum Oberkommandeur. Er war ein noch junger Mann, hatte im letzten polnischen Aufstand Fähigkeit und Bravour bewiesen, besaß aber keine Kenntnis der örtlichen Verhältnisse und konnte nicht deutsch sprechen. Jedenfalls war er dem alten Sznayde weit vorzuziehen. Am 20. Juni gingen die Preußen bei Philippsburg von der Pfalz aus über den Rhein und kamen so der badischen Armee in den Rücken. Mieroslawski wendete sich mit einer raschen Bewegung gegen sie, hielt sie durch einen entschlossenen Angriff bei Waghäusel fest und führte dann einen geschickten Flankenmarsch aus, welcher ihn zwischen den Preußen und den Peukerschen Reichstruppen durchführte und mit dem pfälzischen Korps und den vom Oberlande herankommenden badischen Reserven in Verbindung brachte. Das Gefecht bei Waghäusel war für die badischen Truppen keineswegs ein unrühmliches. Wir hörten den Kanonendonner, als wir über Bruchsal heranmarschierten, und bald gingen auch Gerüchte von einem großen über die Preußen erfochtenen Siege um. Die weitere Nachricht, daß Mieroslawski auf dem Rückzuge sei, die württembergische Grenze entlang, und daß wir seine Flanke zu decken hätten, störte uns wenig in dem Glauben an den „Sieg bei Waghäusel“, dessen Früchte, wie es hieß, durch den „Verrat“ des Dragonerobersten, der den geschlagenen Feind verfolgen sollte, verloren gegangen seien. Am 23. Juni rückten wir nach Ubstadt vor, und dort empfingen wir die Kunde, daß wir am nächsten Morgen mit dem preußischen Vortrab zusammentreffen und uns zu schlagen haben würden. Die Aufträge, die ich von meinem Chef empfing, hielten mich bis nach Einbruch der Dunkelheit zu Pferde, und es war spät, als ich mein Quartier im Wirtshaus zu Ubstadt erreichte. Mein Chef hatte sich schon zur Ruhe gelegt. Von allen Seiten hörte ich das Schnarchen der Schlafenden. Nur die Wirtstochter, eine stramme Jungfrau von 25 Jahren und sehr resolutem Wesen, schien noch geschäftig zu sein. Ich bat sie um einen Bissen Brot und eine Lagerstätte und erhielt beides mit einem kräftigen Sprüchlein über die „verfluchten Preußen“, die in dem „badischen Ländle“ nichts zu tun hätten, und die wir tüchtig durchklopfen und dann heimschicken sollten. Nun erwartete ich die feierliche Stimmung „am Abend vor der Schlacht“, von der ich hier und da gelesen hatte. Aber sie kam nicht. Ich schlief sogleich ein, nachdem ich mich auf mein Lager hingestreckt hatte.

Auch am andern Morgen, dem „Morgen vor der Schlacht“, wollte mir nicht feierlich zumute werden. Es schien mir fast, als ob über solche „Stimmungen“ sehr viel Unwirkliches phantasiert würde. In meinem späteren Leben habe ich die Erfahrung gemacht, daß sie [135] allerdings vorkommen, aber doch nur ausnahmsweise. Gewöhnlich wenden sich die Gedanken am Morgen vor der Schlacht einer Menge von Dingen prosaischer Natur zu, unter denen das Frühstück eine nicht unwichtige Stelle einnimmt. So ging es uns auch an jenem Morgen in Ubstadt. Wir waren beizeiten im Sattel und sahen bald in einiger Entfernung vor unserer Front blinkende Lanzenspitzen auftauchen, die sich uns mit mäßiger Schnelligkeit näherten. Dies bedeutete, daß die Preußen eine oder mehrere Schwadronen Ulanen als Plänkler vorgeschickt hatten, denen die Infanterie und Artillerie demnächst zum Angriff folgen würden. So verschwanden denn die Ulanen, nachdem sie aus ihren Karabinern einige Schüsse abgegeben, die von unserer Seite erwidert wurden, und dann entwickelte sich immer lebhafter das Geknatter des Infanteriefeuers. Bald wurden auch auf beiden Seiten Geschütze aufgefahren und die Kanonenkugeln flogen mit ihrem eigentümlichen Sausen herüber und hinüber, ohne viel Schaden zu tun. Anfangs war meine Aufmerksamkeit gänzlich in Anspruch genommen durch die Befehle, die mein Chef mir zu überbringen oder auszuführen gab. Aber nachdem unsere Artillerie postiert war und wir ruhig zu Pferde in ihrer Nähe hielten, hatte ich Muße genug, mir meine Gedanken und Gefühle zum Bewußtsein kommen zu lassen. Ich erlebte da wieder eine Enttäuschung. Ich war zum erstenmal „im Feuer“. Ganz ruhig fühlte ich mich nicht. Die Nerven waren in nicht gewöhnlicher Erregung. Aber diese Erregung war weder die der heroischen „Kampfesfreude“, noch die der Furcht. Da die feindlichen Geschütze zunächst ihr Feuer auf unsere Artillerie richteten, so sauste eine Kanonenkugel nach der anderen dicht über unsere Köpfe, wo wir standen. Ich fühlte zuerst eine starke Neigung, wenn ich dies Sausen recht nahe über mir hörte, mich zu ducken; aber es fiel mir ein, daß sich dies für einen Offizier nicht schicke, uns so blieb ich denn stramm aufrecht. Ebenso zwang ich mich, nicht zu zucken, wenn eine Musketenkugel dicht bei meinem Ohr vorbeipfiff. Die Verwundeten, die vorübergetragen wurden, erregten mein lebhaftes Mitgefühl; aber der Gedanke, daß mir im nächsten Augenblick ähnliches passieren könne, kam mir nicht in den Sinn. Ich sah ein Volkswehrbataillon, welches gegen eine feindliche Batterie geführt worden war, in Unordnung zurückkommen und sprengte, einem plötzlichen Impuls gehorchend, hinüber, um das Bataillon ordnen und wieder vorführen zu helfen, – war aber auch ganz zufrieden, als ich bemerkte, wie der Bataillonsführer dies selbst besorgte. Als nun später mein Chef mich wieder mit Befehlen hin und herschickte, verging mir das bewußte Empfinden ganz, und ich dachte an nichts als den auszuführenden Auftrag und den Gang des Gefechts, wie ich ihn beobachten konnte. Kurz, ich fühlte wenig oder nichts von jenen stürmischen, unwiderstehlichen Erregungen, die ich mir als unzertrennlich von einer Schlacht gedacht hatte, glaubte jedoch die Überzeugung gewonnen zu haben, daß ich mich unter ähnlichen Umständen immer werde anständig benehmen können.

Übrigens war das Gefecht bei Ubstadt eine verhältnismäßig geringfügige Affäre, – von unserer Seite nur dazu bestimmt, den Feind eine kurze Weile in seinem Vormarsch aufzuhalten, bis sich die badische [136] Armee wieder in unserem Rücken geordnet haben könne, und uns langsam auf diese zurückzuziehen. Bei Ubstadt wurde diese Instruktion in ziemlich ordentlicher Weise ausgeführt. Daß sich solche Dinge nicht mit hastig zusammengerafften und schlecht disziplinierten Volkswehren ebenso regelrecht vollbringen lassen, wie mit geschulten Linientruppen, versteht sich von selbst. Am nächsten Tage hatten wir ein ansehnliches Gefecht mit der preußischen Vorhut bei Bruchsal, welches wieder mit einem Rückzuge endete, diesmal aber nicht in gleicher Ordnung. Wie das bei Volksaufständen nicht selten ist, fingen die aufgeregten Leute an, den unglücklichen Verlauf des Unternehmens dem „Verrat“ irgend eines Führers zuzuschreiben, und bei dieser Gelegenheit erhob sich dieser Schrei gegen den armen General Sznayde, der auf dem Rückzug bei Durlach plötzlich von einer Rotte meuterischer Freischärler umringt und vom Pferde gerissen wurde. Er verschwand dann vom Schauplatze der Aktion, und die pfälzischen Truppen wurden dem badischen Armeekommando unterstellt.

An der Murglinie, den linken Flügel an die Festung Rastatt angelehnt, nahm das vereinigte badisch-pfälzische Heer seine letzte Defensivstellung und schlug sich am 28., 29. und 30. Juni teilweise recht brav, wenn auch erfolglos. Am Nachmittag des 30. Juni schickte mich mein Chef mit einem Auftrage, Artilleriemunition betreffend, in die Festung Rastatt und instruierte mich, ihn im Fort B, einer der großen Bastionen, von denen man das Gefechtsfeld draußen übersah, zu erwarten; er werde bald nachkommen. Ich entledigte mich meines Auftrags, begab mich an den von Anneke bestimmten Platz, band mein Pferd an die Laffete eines Festungsgeschützes und setzte mich auf den Wall nieder, wo ich, nachdem ich das Gefecht eine Zeitlang beobachtet hatte, trotz dem Kanonendonner fest einschlief. Als ich erwachte, war die Sonne am Untergehen. Ich fragte die umstehenden Artilleristen nach Anneke, aber niemand hatte ihn gesehen. Ich wurde unruhig und bestieg mein Pferd, um die Stadt zu verlassen und meinen Chef draußen aufzusuchen. Am Tore angekommen, empfing ich von dem wachhabenden Offizier die Nachricht, daß ich nicht mehr hinauskönne; unser Hauptkorps sei gegen Süden zurückgedrängt worden und die Festung von den Preußen vollständig eingeschlossen. Ich galoppierte nach dem Hauptquartier des Festungskommandanten auf dem Schloß und erfuhr dort die Bestätigung des Gehörten. Der Gedanke, in der Stadt bleiben zu müssen und Preußen ringsumher, traf mich wie ein unheilvolles Schicksal. Ich konnte mich nicht drein ergeben und fragte immer wieder, ob denn da gar kein Ausweg sei, bis endlich ein dabeistehender Offizier mir sagte: „Mir ist gerade so zu Mut, wie Ihnen. Ich gehöre auch nicht hierher und habe an allen Punkten versucht, durchzubrechen, aber es war umsonst. Wir müssen uns eben fügen und hier bleiben.“ Von Anneke fand ich keine Spur. Er hatte entweder die Stadt längst verlassen oder war vielleicht gar nicht hereingekommen.

Nachdem ich alle Hoffnung des Entkommens aufgegeben, meldete ich mich bei dem Gouverneur der Festung, Oberst Tiedemann. Er war ein schlanker, hochgewachsener Mann mit feinen, regelmäßigen Zügen und einem kühnen, entschlossenen Gesichtsausdruck. Sohn des Geheimrats [137] Tiedemann, eines berühmten Professors der Medizin an der Heidelberger Universität, hatte er eine gute Erziehung genossen. Schon früh war er seiner Neigung zum Soldatenleben gefolgt und Offizier in der griechischen Armee geworden. Die badische Revolution fand ihn zu Hause und die provisorische Regierung vertraute ihm das Kommando der Festung Rastatt an. Er empfing mich freundlich und attachierte mich seinem Stab. Es wurde mir bei einem Konditor namens Nusser, dessen Haus am Marktplatz stand, Quartier angewiesen. Mein Wirt und seine Gattin, offenbar Bürgersleute vortrefflichen Charakters, großer Herzensgüte und guter Lebensart, hießen mich herzlich willkommen, stellten mir ein freundliches Schlafzimmer zur Verfügung und baten mich, Gast an ihrem Tisch zu sein. Auch mein Bursche Adam, ein junger pfälzischer Volkswehrmann, der glücklicherweise mir in die Festung gefolgt, darin zurückgeblieben und mit mir zusammengetroffen war, fand im Hause behaglich Platz.

Alles dies ließ sich angenehm genug an. Aber als mein Wirt und Adam mich allein gelassen hatten und ich in der Stille meines Zimmers mir meine neue Lage ruhig überdachte, wurde mir das Herz recht schwer. Daß unsere Sache, wenn nicht ein Wunder geschah, verloren war, konnte ich mir nun nicht mehr verhehlen. Und was ein solches Wunder hätte sein mögen, konnte selbst meine jugendliche Hoffnungsfreudigkeit sich nicht mehr vorstellen. Übergehen der preußischen Landwehren zum Volksheer? Das wäre nur möglich gewesen am Anfange des Feldzuges, wenn überhaupt. Nach einer Reihe von Niederlagen war diese Möglichkeit geschwunden. Ein großer Sieg der Unsrigen im Oberlande? Undenkbar, da der Rückzug von der Murglinie unzweifelhaft unsere Streitmacht mehr durch Demoralisation schwächen mußte, als sie durch Zuzug verstärkt werden konnte. Große Siege der Ungarn im Osten? Aber die Ungarn waren weit entfernt und die Russen im Anzuge gegen sie. Eine neue Volkserhebung in Deutschland? Aber der revolutionäre Impuls hatte sich offenbar erschöpft. Da saßen wir denn in einer Festung, von den Preußen eingeschlossen. Eine längere Verteidigung der Festung konnte unserer Sache nicht mehr dienen, – oder nur insofern, als sie bewies, daß ein Volksheer auch Mut besitzen und der militärischen Ehre Rechnung tragen kann. Aber unter allen Umständen konnte die Festung sich nur eine beschränkte Zeit halten. Und dann? Kapitulation. Und dann? Wir würden den Preußen in die Hände fallen. Nun war der Oberbefehlshaber der preußischen Truppen in Baden der „Prinz von Preußen“, in welchem damals niemand den später so populären und gefeierten Kaiser Wilhelm I. vermutete. Er galt zu jener Zeit für den schlimmsten Feind aller freiheitlichen Bestrebungen. Das allgemein geglaubte Gerücht, daß er es gewesen sei, der am 18. März 1848 in Berlin den Befehl gegeben habe, auf das Volk zu schießen, hatte ihm im Volksmunde den Titel „der Kartätschenprinz“ eingetragen. Die Aufregung der Massen gegen ihn war während jener Märztage in der Tat so stark, daß der König für gut hielt, ihn auf einige Zeit nach England zu schicken, und daß diese Reise in einer Weise ausgeführt wurde, die einer sehr eiligen Flucht nicht unähnlich sah. Daß er im Jahre 1849, als seinem Bruder Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone angeboten [138] wurde, zu denen gehörte, die eine günstige Erwägung dieses Anerbietens empfahlen, und daß, wäre er statt seines Bruders König von Preußen gewesen, die Krisis wahrscheinlich eine den deutschen Einheitsbestrebungen ersprießlichere Lösung gefunden haben würde, wußte man damals noch nicht. Auch würde eine solche Kunde schwerlich geglaubt worden sein, denn man hielt den Prinz von Preußen für einen ehrlichen und durchaus unverbesserlichen Absolutisten, der standhaft daran glaubte, daß die Könige von Gott eingesetzt und nur Gott Rechenschaft schuldig seien; daß das Volk nichts mit den Geschäften der Regierung zu tun haben dürfe; daß eine Auflehnung gegen die Königsgewalt einer direkten Beleidigung Gottes gleichkomme, und daß es eine gebieterische Pflicht der Gewalthaber sei, über ein solches Verbrechen die erdenklich schwerste Strafe zu verhängen. So erschien der Prinz von Preußen dem Volke auch als ein fanatischer Soldat, dem die preußische Armee ein Herzensidol war – der in ihr das Schwert Gottes, das Bollwerk der Weltordnung sah; in dessen Augen ein preußisches Landeskind, das gegen die preußische Armee kämpfte, ein unsühnbares, dem Elternmorde an Fluchwürdigkeit nicht nachstehendes Verbrechen beging, und von dem ein solcher Verbrecher keine Gnade erwarten dürfe. Wir geborenen Preußen hatten also, wenn wir in die Hände des Prinzen Wilhelm fielen, die beste Aussicht, standrechtlich erschossen zu werden – besonders diejenigen, die, wie ich, gerade in den militärdienstpflichtigen Jahren standen. Und dabei erinnerte ich mich, daß ich kurz vor der Siegburger Affäre vor der königlichen Aushebungskommission hatte erscheinen müssen, welche, indem sie meine Eingabe um Zulassung als „Einjährig-Freiwilliger“ willkürlich übersah, mich für ein Kürassierregiment bestimmte, mit Aussicht auf baldige Einberufung. Für mich würde es also gewiß keine Nachsicht geben. – Mit diesen schweren Gedanken ging ich zu Bette. Aber dennoch schlief ich gesund und wachte nicht auf bis am hellen Morgen.

Die Pflichten, die der Gouverneur mir zuwies, als ich mich wieder bei ihm meldete, waren nicht schwer. Ich hatte zu gewissen Stunden oben auf der höchsten Galerie des Schloßturmes mit einem Fernrohr versehen den Feind zu beobachten und von dem, was ich sah, Meldung zu machen. Dann sollte ich periodisch gewisse Wälle und Tore abgehen und die Wachtposten inspizieren, schließlich noch solche Dinge tun, die der Gouverneur, wenn ich eben zur Hand war, mir auftragen mochte. Um mir das nötige äußere Ansehen zu geben, wurde ich mit der Uniform eines regulären badischen Infanterieleutnants ausgestattet, die den abenteuerlich kostümierten pfälzischen Freischärler in einen recht anständig erscheinenden Offizier verwandelte und mir ein bis dahin kaum geahntes militärisches Gefühl gab.

Es gelang dem Obersten Tiedemann in der teils aus Volkswehren, teils aus regulären badischen Soldaten bestehenden Garnison ziemlich gute Zucht zu halten. Nur einmal, soviel ich mich erinnern kann, beobachtete ich eine ernstliche Störung der Ordnung. Einige Soldaten glaubten, einen Spion entdeckt zu haben, und bald stürzte eine wütenden Rotte hinter dem armen Menschen her, der sich durch die Flucht zu retten suchte, aber nach wenigen Schritten unter Steinwürfen und [139] Säbelhieben zusammenstürzte. Das Ganze war das Werk eines Augenblicks. Die Offiziere, die zufällig herzukamen, darunter auch ich, konnten allerdings die Soldaten bald wieder zur Ruhe bringen, aber das Opfer nicht mehr retten.

Die Belagerung sollte uns auch größere Aufregungen bringen. Eines Morgens, kurz nach Tagesanbruch, wurde ich durch einen starken Knall auf der Straße dicht unter meinem Fenster geweckt. Indem ich aufsprang, kam mir der Gedanke, die Preußen möchten während der Nacht in die Stadt gedrungen sein, und es gäbe nun einen Straßenkampf. Ein zweiter Knall gerade über dem Hause und das prasselnde Geräusch schwerer Körper, die auf das Dach fielen, belehrte mich, daß die Festung beschossen werde, und daß eine Granate soeben den Schornstein meines Quartiers umgestürzt habe. So kam denn auch Schuß auf Schuß und Explosion auf Explosion, bald von dem Donner der Festungsgeschütze beantwortet. Ich eilte schnell nach dem Hauptquartier auf dem Schloß, und da bot sich meinen Augen ein jämmerlicher Auftritt. Der Schloßhof füllte sich schnell mit Bürgersleuten, darunter sehr viele Frauen und Kinder, die instinktiv in der Nähe des Befehlshabers vor dem drohenden Unheil Schutz suchten. Die meisten von den Erwachsenen und sogar einige der Kinder schleppten Betten oder Kisten oder allerlei Hausgerät auf ihren Köpfen oder unter den Armen. So oft nun eine Granate schnurrend über den Schloßhof flog oder in der Nähe explodierte, warfen die armen Menschen, von jähem Schreck überwältigt, alles, was sie trugen, zu Boden und drängten sich schreiend und händeringend den Gebäuden zu. Trat dann ein Augenblick der Ruhe ein, so nahmen sie ihre Habseligkeiten wieder auf; aber sobald eine neue Granate dahersauste, wiederholte sich die Szene. Da gab es denn viel für die Stabsoffiziere des Gouverneurs zu tun, um die Leute zu beruhigen und, so weit es ging, sie zeitweilig in den bombenfesten Kasematten unterzubringen. Unterdessen erschollen die Kirchenglocken und eine Menge von Frauen mit ihren Kindern, auch nicht wenige Männer, rannten über den Markt nach der Hauptkirche, wo sie unter lautem Weinen und jammervollem Händeringen Gott um Schutz anflehten.

Die Beschießung war übrigens nicht sehr ernstlich gemeint, dauerte nur wenige Stunden und richtete nicht viel Schaden an. Einige von ihr verursachte Feuersbrünste wurden schnell gelöscht. Die Preußen beabsichtigten wahrscheinlich nur, uns anzudeuten, daß die Übergabe der Festung nicht gar zu lange aufgeschoben werden dürfe, wollten wir größere Unannehmlichkeiten vermeiden. So wurden wir nur aus Feldgeschützen und einigen Mörsern beschossen. Das schwere Belagerungsgeschütz sollte wohl erst kommen, wenn es nötig würde, mit den wirksamsten Gewaltmitteln die Festung zur Übergabe zu zwingen. Der Gouverneur und die Besatzung zogen vor, sich fürs erste noch zu wehren; und so wurde am nächsten Tage ein Ausfall gemacht, um die Beschießungsbatterie zu vertreiben, und die den Ausfall kommandierenden Offiziere berichteten uns nachher, daß die Mörser wirklich von den Unsrigen genommen und vernagelt worden seien.

Sonst ereignete sich wenig von Bedeutung. Mit den höheren Offizieren der Garnison kam ich als Mitglied des Stabes wohl in [140] Berührung, aber da ich noch ein sehr junger Mensch war, so wurde diese Berührung doch keine intime. Die Hauptfiguren, deren ich mich erinnere, waren Oberst Biedenfeld, ein strammer alter Soldat, wenn ich nicht irre früher badischer Hauptmann, der nun in der Festung die reguläre Infanterie kommandierte; Oberst Böhning, ein alter, weißlockiger, ehrwürdig aussehender Freischärler, der einen Teil der Volkswehren unter sich hatte; Major Heilig, der Artilleriechef, ein etwa 6½ Fuß großer, schlanker Mann von höchst gewinnendem, ehrlich-gutmütigem Gesichtsausdruck; Oberstleutnant Otto von Corvin, ein auffallend hübscher Mann von einigen dreißig Jahren, ehemaliger preußischer Leutnant, der, wie ich glaube, ebenfalls nur durch Zufall in der Festung zurückgehalten worden war, und Major Mahler, ehemaliger badischer Leutnant, ein junger, lustiger Infanterieoffizier, der, wie es das Schicksal später fügte, nach Jahren in Amerika unter meinem Kommando für die Union kämpfen und bei Gettysburg fallen sollte.

Die liebste meiner Pflichten war die Observation von der Höhe des Schloßturmes aus. Ich hatte von dort einen herrlichen Ausblick, – nach Osten tief in die Berge hinein, in welchen Baden-Baden liegt: über das lachende Rheintal mit seinen üppigen Feldern und Weingärten, seinen schattigen Wäldern und den Kirchtürmen seiner unter Obstbäumen verborgenen Dörfer, – nach Süden das blühende Tal vom Schwarzwald begrenzt, nach Norden in die sich breit ausdehnende Ebene hinunter, nach Westen bis ins Elsaß jenseits des Rheins mit blauen Berglinien in der Ferne. Wie schön war dies alles! Die Natur, wie liebevoll in ihrer reichen, freigiebigen Güte! Und da lag nun in all dieser scheinbar so friedlichen Herrlichkeit „der Feind“, der uns eng und fest umzingelt hielt. Da sah ich seine Postenketten regelmäßig abgelöst und seine Reiterpatrouillen emsig hin und her schwärmend, und uns so scharf beobachtend, damit nur ja kein Menschenkind von uns da drinnen ihnen entschlüpfen möchte. Da sah ich des Feindes Batterien bereit, auf uns Tod und Verderben zu speien. Da sah ich seine Lager wimmelnd von vielen Tausenden von Menschen, von denen viele, ja wahrscheinlich eine große Mehrheit, so dachten wie wir und dasselbe wünschten wie wir, vielleicht Nachbarskinder aus meinem heimatlichen Dorfe darunter – und doch alle auf der Obern Geheiß jede Stunde bereit, uns die tödliche Kugel in die Brust zu schießen. Und auf alles dies floß in jenen Sommertagen des Himmels schönes Sonnenlicht so warm und friedlich strahlend herab, als wäre da nichts als Glück und Harmonie. Alles dies so grausam unnatürlich und doch so wahr!

Das war ein sonderbares Leben in der belagerten Festung. Da es mit Ausnahme des einen Ausfalls keine Kampfaufregung gab, so machten wir Soldaten mechanisch Tag für Tag unsere Dienstroutine durch und die Bürgersleute gingen den Geschäften nach, die ihnen dieser fremdartige Zustand noch übrig gelassen, alle in dumpfer Besorgnis das Schicksal erwartend, das nicht abgewendet werden konnte. Die Welt da draußen lag weit, weit von uns in unermeßlicher Entfernung. Da saßen wir zwischen unsern Mauern und Wällen abgeschlossen von [141] der ganzen Menschheit, als hätten wir nicht zu ihr gehört. Kein Ton von ihr drang zu uns herein, als nur etwa ein ferner Trommelschall oder Trompetensignale des uns umzingelnden Feindes. Wohl tauchten zuweilen geheimnisvolle Gerüchte unter uns auf, von denen niemand wußte, woher sie kamen. Unsere Truppen, hieß es einmal, sollten einen großen Sieg im Oberlande erfochten haben und die Preußen vor sich her treiben. Dann war in Frankreich eine neue Revolution ausgebrochen und habe ganz Deutschland in frische Bewegung gesetzt. Dann hatten die Ungarn die vereinigten österreichischen und russischen Armeen aufs Haupt geschlagen und waren bereit ihre siegreichen Heere mit den deutschen Revolutionären zu verbinden. Ja, einmal drängten sich gar die höheren Offiziere unserer Besatzung auf den Observationsturm, weil man wirklich in der Richtung des Oberlandes anhaltenden Kanonendonner gehört habe, der sich beständig nähere; und nun wollten sie die Staubwolken unserer heranmarschierenden Kolonnen erspähen. Aber der eingebildete Kanonendonner verstummte, alles blieb still, und man sank in das dumpfe Gefühl des dem Schicksal Verfallenseins zurück. Zuweilen versuchte man auch, sich zu vergnügen und versammelte sich in den Weinstuben – denn die Festung war noch immer mit Wein versehen. Dann gab es wohl einen Anlauf zur Lustigkeit, aber es blieb bei dem Anlauf, denn es war, als stände hinter jedem Stuhle das dunkle Gespenst der unabwendbar nahenden Katastrophe.

Da kam eines Tages – es war in der dritten Woche der Belagerung – ein preußischer Parlamentär in die Festung, der mit einer Aufforderung zur Übergabe zugleich die Nachricht brachte, daß die badisch-pfälzische Armee längst auf schweizerisches Gebiet übergetreten sei und damit aufgehört habe, zu existieren; daß kein bewaffneter Insurgent mehr auf deutschem Boden stehe, und daß das preußische Oberkommando irgend einem Vertrauensmann, den die Besatzung von Rastatt hinausschicken möchte, um sich von diesen Tatsachen zu überzeugen, zur Ausführung dieses Auftrages Freiheit der Bewegung und sicheres Geleit gewähren wolle. Dieses Ereignis verursachte gewaltige Aufregung. Sofort versammelte der Gouverneur in dem Hauptsaale des Schlosses einen großen Kriegsrat, bestehend, wenn ich mich recht erinnere, aus allen Offizieren der Besatzung vom Kapitän aufwärts. Nach stürmischer Beratung wurde beschlossen, das Anerbieten des preußischen Oberkommandos anzunehmen, und Oberstleutnant Corvin empfing den Auftrag, die Lage der Dinge draußen zu erforschen und, falls er sie den Angaben des preußischen Parlamentärs entsprechend fände, um eine möglichst günstige Kapitulation für die Besatzung von Rastatt zu unterhandeln.

Der Saal im Schloß, in welchem jener große Kriegsrat gehalten worden, war mir während der Belagerung immer zugänglich gewesen, und eines der großen, mit gelbem Seidendamast überzogenen Sofas, die den Hauptteil seiner Möblierung ausmachten, war mein gewöhnlicher Ruheplatz, wenn ich, von meiner Observation auf dem Schloßturm oder von meiner Runde durch die Festungswerke ermüdet zurückkam. Ich hatte mir dieses Sofa ausgewählt, weil ich von ihm einen besonders günstigen Blick auf ein Deckengemälde genoß, das für mich ein eigentümliches [142] Interesse hatte. Es war eine allegorische Darstellung, in welcher wahrscheinlich irgend ein Zähringer, ein Vorfahr der badischen Fürstenfamilie, als Jupiter, oder Mars, oder Apollo figurierte. Der Gegenstand des Bildes zog mich daher nicht an. Aber ich fand darin eine weibliche Figur, irgend eine Göttin, deren Gesicht mich lebhaft an Betty erinnerte; und wenn ich von meinem Sofa hinaufschaute, so blickten mich Bettys Augen gütig an. Kein Wunder also, daß ich mich auf diesem Sofa gern ausstreckte und mich, unsere schlimme Lage zeitweilig vergessend, in wachen Träumen wiegte, bis mir die Augen im Schlaf zufielen.

So kam ich auch am zweiten Morgen nach Corvins Abreise, nachdem ich während der vorhergehenden Nacht die Runde gemacht, im grauen Dämmerlicht in den Saal und legte mich auf mein gelbdamastenes Sofa zu kurzer Ruhe. Ich hatte wohl nur wenig geschlafen, als ich von dem Geräusch schwerer Schritte, rasselnder Säbel und verworrener Stimmen geweckt wurde. Aus dem, was ich sah und hörte, schloß ich, daß Corvin von seiner Sendung zurückgekehrt war, und daß der große Kriegsrat sich wieder versammelte. Der Gouverneur trat ein, gebot Ruhe und ersuchte Corvin, der an seiner Seite stand, vor der ganzen Versammlung seinen Bericht mündlich abzustatten. Corvin erzählte also, er sei, von einem preußischen Offizier begleitet, bis an die Grenze der Schweiz gefahren und habe sich an Ort und Stelle überzeugt, daß es in Baden keine Revolutionsarmee, ja keinen Widerstand irgendwelcher Art gegen die preußischen Truppen mehr gäbe. Die Revolutionsarmee sei auf das schweizerische Gebiet übergetreten und habe natürlich an der Grenze ihre Waffen und ihre ganze kriegerische Ausrüstung abgeben müssen. Auch im übrigen Deutschland sei, wie er sich durch die Zeitungen unterrichtet habe, keine Spur von revolutionärer Bewegung mehr übrig. Überall Unterwerfung und Ruhe. Selbst die Ungarn seien durch die russische Intervention in große Bedrängnis geraten und würden bald unterliegen müssen. Kurz, die Besatzung von Rastatt sei gänzlich verlassen und könne von keiner Seite auf Entsatz hoffen. Und schließlich, setzte Corvin hinzu, sei ihm im preußischen Hauptquartier angekündigt worden, daß das preußische Oberkommando die Übergabe der Festung auf Gnade oder Ungnade verlange und sich auf keinerlei Bedingungen einlassen werde.

Eine tiefe Stille folgte dieser Rede. Jeder der Zuhörer fühlte, daß Corvin die Wahrheit gesprochen. Endlich nahm jemand – ich erinnere mich nicht, wer – das Wort und stellte einige Fragen. Dann gab es ein Gewirre von Stimmen, in welchem man einige Hitzköpfe von „Sterben bis zum letzten Mann“ und dergleichen sprechen hörte, bis der Gouverneur einem ehemaligen preußischen Soldaten, der in der Pfalz Offizier geworden war, Gehör verschaffte. Dieser sagte, er sei so bereit wie irgendeiner, unserer Sache seinen letzten Blutstropfen zu opfern, und wir Preußen, wenn wir in die Hände der Belagerungsarmee fielen, müßten wahrscheinlich so wie so sterben. Aber er rate die sofortige Übergabe der Festung an. Tue man’s heute nicht, so werde man es morgen tun müssen. Man solle nicht die Bürger der Stadt mit ihren Weibern und Kindern auch noch einer Hungersnot [143] und einer weitern Beschießung aussetzen, und alles dies umsonst. Es sei Zeit, ein Ende zu machen, was auch mit uns geschehen möge. – Es ging ein Gemurmel durch den Saal, daß dieser Mann vernünftig gesprochen; und so wurde denn der Beschluß gefaßt, daß Corvin noch einmal versuchen solle, für die Offiziere und Mannschaften der Besatzung im preußischen Hauptquartier günstige Bedingungen zu erwirken. Wenn er aber nach gemachtem Versuch die Unmöglichkeit einsehe, solche Bedingungen zu erhalten, so solle er für die Übergabe auf Diskretion die nötigen Bestimmungen abschließen. Als wir den Saal verließen, fühlten wohl die meisten von uns, daß an etwas anderes als an eine Kapitulation auf Gnade oder Ungnade kaum zu denken sei.

Es war ein schöner Sommertag. Nachmittags stieg ich noch einmal auf den Observationsturm, auf welchem ich so manche Stunde zugebracht hatte. Die herrliche Landschaft lag still vor mir im heitern, warmen Sonnenschein. Sie erschien mir sogar schöner als je zuvor. Es war mir, als müßte ich von ihr einen letzten Abschied nehmen. „Wir Preußen müssen ja wahrscheinlich so wie so sterben.“ Diese Worte klangen mir in den Ohren, und ich war von ihrer Wahrheit überzeugt. Und zu diesen Preußen gehörte auch ich. Ich erinnere mich noch lebhaft der Gedanken, welche mir da auf dem Schloßturm durch den Kopf gingen. Eine Erinnerung drängte sich mir immer wieder auf, wie vor einigen Jahren mein Vater in Köln mit mir den Professor Pütz besuchte, dessen Liebling ich war; wie der Professor seine Hand auf meine Schulter legte und lächelnd zu meinem Vater sagte: „Ein hoffnungsvoller Junge!“ – und wie stolz dann mein Vater mit dem Kopf nickte und mich ansah. „Mit dem hoffnungsvollen Jungen ist es jetzt wohl aus“, sagte ich nun zu mir selbst. Viele der kühnen Träume von großer, segensreicher Wirksamkeit, denen ich mich früher hingegeben, fielen mir wieder ein, und es schien mir doch recht hart, aus der Welt gehen zu müssen, ehe ich etwas Tüchtiges und Würdiges darin geleistet hätte. Ein Gefühl tiefen Bedauerns kam über mich – nicht meinethalben allein, sondern auch für meine Eltern, die so viel von mir erwartet, denen ich die Stütze ihres Alters sein sollte, und die nun all ihre Hoffnungen zertrümmert sähen. Schließlich blieb mir nichts übrig als der Vorsatz, wenn es denn zu Ende gehen müsse, dem Schicksal mit Mut und Würde ins Auge zu sehen.

Ich blieb auf dem Geländer der Turmgalerie sitzen, bis die Sonne untergegangen war, als hätte ich zu guter Letzt noch an der schönen Welt mich satt sehen wollen. Dann stieg ich hinab und meldete mich beim Gouverneur, ob er noch Befehle für die Nacht habe. „Heute nacht sollte jeder meiner Offiziere auf den Wällen sein“, sagte er. „Ich fürchte, die Leute wissen, daß wir uns morgen ergeben, und werden ihre Posten verlassen. Das sollte nicht sein.“ Ich war froh, etwas zu tun zu haben, das meine Gedanken beschäftigte. Auf den Wällen war allerdings viel Geräusch und Verwirrung. Viele der Leute hielten es für überflüssig, sich noch um den Dienst zu kümmern, da morgen doch alles vorbei sein werde. Es gab auch viel Lärmens in den Schänken der Stadt, denn der Soldat wollte sich zuletzt noch einmal ein Gutes antun. Aber die Ermahnungen, welche die Offiziere [144] den umherlaufenden oder zechenden Leuten werden ließen, fanden doch keine böswillige Widersetzlichkeit. Die Zahl derjenigen, die ihre Pflicht taten, war groß genug, um den nötigsten Dienst zu versehen und die Ordnung leidlich aufrecht zu erhalten.

Gegen Tagesanbruch streckte ich mich, von Müdigkeit übermannt, im großen Schloßsaal noch einmal auf mein gewohntes Sofa, und nach einigen Stunden tiefen Schlafs wachte ich mit dem Gedanken auf: „Heute wirst du gefangen und vielleicht morgen schon totgeschossen.“ Ich nahm von der Betty im Deckengemälde Abschied und ging dann nach dem Hauptquartier, wo ich hörte, daß Corvin nichts habe ausrichten können, und daß die Übergabe auf Gnade oder Ungnade beschlossen sei. Um 12 Uhr mittags sollten die Truppen aus den Toren marschieren und draußen auf dem Glacis der Festung vor den dort aufgestellten Preußen die Waffen strecken. Die Befehle waren bereits ausgefertigt. Ich ging nach meinem Quartier am Marktplatz, um meinen letzten Brief an meine Eltern zu schreiben. Ich dankte ihnen darin für alle Liebe und Sorge, die sie mir erwiesen, und bat sie, mir zu verzeihen, wenn ich ihnen ihre Ergebenheit jemals übel vergolten oder ihre Hoffnungen getäuscht hätte. Ich sagte ihnen, ich habe meiner ehrlichen Überzeugung folgend, für die Sache des Rechts und des deutschen Volks die Waffen ergriffen, und daß, wenn es mein Los sein sollte, sterben zu müssen, es ein ehrenhafter Tod sein werde, dessen sie sich nicht zu schämen brauchten. Diesen Brief übergab ich dem guten Herrn Nusser, meinem Wirt, der mir mit Tränen in den Augen versprach, ihn der Post zu übergeben, sobald die Stadt wieder offen sein werde.

Unterdessen nahte die Mittagsstunde. Ich hörte bereits die Signale zum Antreten auf den Wällen und in den Kasernen, und ich machte mich fertig, zum Hauptquartier hinaufzugehen. Da schoß mir plötzlich ein neuer Gedanke durch den Kopf.

Ich erinnerte mich, daß ich vor wenigen Tagen auf einen unterirdischen Abzugskanal für das Straßenwasser aufmerksam gemacht worden war, der bei dem Steinmauerer Tor aus dem Innern der Stadt unter den Festungswerken durch ins Freie führte. Er war wahrscheinlich ein Teil eines unvollendeten Abzugssystems. Der Eingang des Kanals im Innern der Stadt befand sich in der Fortsetzung eines Grabens oder einer Gosse, nahe bei einer Gartenhecke, und draußen mündete er in einem von Gebüsch überwachsenen Graben an einem Welschkornfelde. Sobald diese Umstände zu meiner Kenntnis gekommen waren, hatte ich daran gedacht, daß, wenn die inneren und äußeren Mündungen dieses Kanals nicht scharf bewacht würden, Kundschafter sich durch ihn ein- und ausschleichen könnten. Ich machte Meldung davon, aber sogleich darauf kam die Unterhandlung mit dem Feinde, die Sendung Corvins und die Aufregung über die bevorstehende Kapitulation, die mir die Kanalangelegenheit aus dem Sinne trieben. Jetzt im letzten Moment vor der Übergabe kam mir die Erinnerung wie ein Lichtblitz zurück. Würde es mir nicht möglich sein, durch diesen Kanal zu entkommen? Würde ich nicht, wenn ich so das Freie erreichte, mich bis an den Rhein durchschleichen, dort einen Kahn finden und nach dem französischen [145] Ufer übersetzen können? Mein Entschluß war schnell gefaßt – ich wollte es versuchen.

Ich rief meinen Burschen, der zum Abmarsch fertig geworden war. „Adam“, sagte ich, „Sie sind ein Pfälzer und ein Volkswehrmann. Ich glaube, wenn Sie sich den Preußen ergeben, so wird man Sie bald nach Hause schicken. Ich bin ein Preuße, und uns Preußen werden sie wahrscheinlich totschießen. Ich will daher versuchen davonzukommen, und ich weiß wie. Sagen wir also Adieu!“

„Nein“, rief Adam, „ich verlasse Sie nicht, Herr Leutnant. Wohin Sie gehen, gehe ich auch.“ Die Augen des guten Jungen glänzten von Vergnügen. Er war mir sehr zugetan.

„Aber“, sagte ich, „Sie haben nichts dabei zu gewinnen, und wir werden vielleicht große Gefahr laufen.“ „Gefahr oder nicht“, antwortete Adam entschieden, „ich bleibe bei Ihnen.“

In diesem Augenblicke sah ich draußen einen mir bekannten Artillerieoffizier namens Neustädter vorübergehen. Er war wie ich in Rheinpreußen zu Hause und hatte früher in der preußischen Artillerie gedient.

„Wo gehen Sie hin, Neustädter?“ rief ich ihm durchs Fenster zu.

„Zu meiner Batterie“, antwortete er, „um die Waffen zu strecken.“

„Die Preußen werden Sie totschießen“, entgegnete ich. „Gehen Sie doch mit mir und versuchen wir, davon zu kommen.“

Er horchte auf, kam ins Haus und hörte meinen Plan, den ich ihm mit wenigen Worten darlegte. „Gut“, sagte Neustädter, „ich gehe mit Ihnen.“ Es war nun keine Zeit zu verlieren. Adam wurde sofort ausgeschickt, um einen Laib Brot, ein paar Flaschen Wein und einige Würste zu kaufen. Dann steckten wir unsere Pistolen unter die Kleider und rollten unsere Mäntel auf. In dem meinigen, einem großen, dunkeln, mit rotem Flanell gefütterten Radmantel, den ich erst kürzlich aus geliefertem Zeug mir hatte machen lassen, verbarg ich einen kurzen Karabiner, den ich besaß. Die Flaschen und Eßwaren, die Adam brachte, wurden auch so gut es ging verpackt. Unterdessen begann die Besatzung in geschlossenen Kolonnen über den Markt zu marschieren. Wir folgten der letzten Kolonne eine kurze Strecke, schlugen uns dann in eine Seitengasse und erreichten bald die innere Mündung unseres Kanals. Ohne Zaudern schlüpften wir hinein. Es war zwischen ein und zwei Uhr nachmittags am 23. Juli.

Der Kanal war eine von Ziegelsteinen gemauerte Röhre, etwa 4–4½ Fuß hoch und 3–3½ Fuß breit, so daß wir uns darin in einer unbehaglichen gehuckten Stellung befanden und, um uns fortzubewegen, halb gehen, halb kriechen mußten. Das Wasser auf dem Boden reichte uns bis über die Fußgelenke. Als wir weiter in das Innere des Kanals vordrangen, fanden wir in regelmäßigen Entfernungen enge Luftschachte, oben mit eisernen Gittern und Rosten verschlossen, durch die das Tageslicht herabkam und den sonst finsteren Kanal fleckweise erhellte. An solchen Stellen ruhten wir einen Augenblick und streckten uns aus, um das Rückrat wieder in Ordnung zu recken. Wir hatten unserer Berechnung nach ungefähr die Mitte der Länge des Kanals erreicht, als ich mit dem Fuße an ein kurzes im [146] Wasser liegendes Brett stieß, das sich quer zwischen die Wände des Kanals einklemmen ließ, so daß es uns als eine Art von Bank zum Niedersitzen dienen konnte. Auf dieser Bank, die unsere Lage ein wenig behaglicher machte, drückten wir uns zusammen zu längerer Ruhe.

Bis dahin hatte die beständige Bewegung, zu der wir genötigt gewesen, uns kaum zur Besinnung kommen lassen. Jetzt, auf der Bank sitzend, hatten wir Muße, unsere Gedanken zu sammeln und über das, was nun weiter zu tun sei, Kriegsrat zu halten. Ich hatte während der Belagerung oft Gelegenheit gehabt, mir die unmittelbare Umgebung der Festung genauer anzusehen, und kannte daher das Terrain, in welchem der Kanal draußen mündete, ziemlich gut. Ich schlug meinem Genossen vor, daß wir auf der Bank bis gegen Mitternacht sitzen bleiben sollten, um dann den Kanal zu verlassen und zuerst die Deckung eines nahen mit Welschkorn bepflanzten Feldes zu suchen. Von da würden wir, wenn der Himmel klar wäre, einen kleinen Teil des Weges nach Steinmauern, einem etwa eine Stunde von Rastatt entfernten am Rhein gelegenen Dorfe überblicken können – wenigstens hinreichend, um uns zu vergewissern, ob wir uns ohne unmittelbare Gefahr aus dem Welschkornfelde herauswagen dürften. Und so würden wir denn, von Zeit zu Zeit Deckung suchend und den Weg vor uns rekognoszierend, hoffen können, lange vor Tagesanbruch Steinmauern zu erreichen und dort einen Kahn zu finden, der uns auf das französische Ufer hinüberbrachte. Dieser Plan wurde von meinen Genossen gutgeheißen.

Während wir so miteinander zu Rate gingen, hörten wir über uns allerlei dumpfes Getöse wie das Rollen von Fuhrwerken und den dröhnenden Tritt großer Menschenmassen – woraus wir schlossen, daß nun die Preußen in die Festung einzögen und die Tore und Wälle besetzten. Als es etwas stiller geworden war, vernahmen wir den Klang einer Turmuhr, welche die Stunden schlug. Unsere Bank befand sich nämlich in der Nähe eines der Luftschachte, so daß das Geräusch der obern Welt unschwer zu uns drang. Gegen neun Uhr abends fing es an zu regnen, und zwar so stark, daß wir das Klatschen des herabströmenden Wassers deutlich unterscheiden konnten. Zuerst schien uns das schlechte Wetter der Ausführung unseres Fluchtplanes günstig zu sein. Bald aber kam uns die Sache in einem ganz anderen Lichte vor. Wir fühlten nämlich, wie das Wasser in unserm Kanal stieg und bald mit großer Heftigkeit, wie ein Gießbach, hindurchschoß. Nach einer Weile überflutete es die Bank, auf welcher wir saßen, und reichte uns in unserer sitzenden Stellung bis an die Brust. Auch gewahrten wir lebendige Wesen, die mit großer Rührigkeit um uns her krabbelten. Es waren Wasserratten. „Wir müssen hinaus“, sagte ich zu meinen Genossen, „oder wir werden ertrinken.“ So verließen wir denn unser Brett und drangen vorwärts. Kaum hatte ich ein paar Schritte getan, als ich in der Finsternis mit dem Kopf gegen einen harten Gegenstand stieß. Ich betastete ihn mit den Händen und entdeckte, daß das Hindernis in einem eisernem Gitter bestand. Sofort kam mir der Gedanke, daß dieses Gitter dort angebracht worden sei, um während einer Belagerung alle Kommunikation durch den Kanal zu verhindern. Dieser Gedanke, den ich meinen Gefährten sofort mitteilte, brachte uns der [147] Verzweiflung nahe. Aber als ich das Gitter mit beiden Händen ergriff, wie wohl ein Gefangener an den Eisenstäben seines Kerkerfensters rüttelt, gewahrte ich, daß es sich ein wenig hin- und herbewegen ließ, und eine weitere Untersuchung ergab, daß es nicht ganz bis auf den Boden reichte, sondern etwa anderthalb bis zwei Fuß davon abstand. Wahrscheinlich war es so eingerichtet, daß es aufgezogen und heruntergelassen werden konnte, um so den Kanal zum Reinigen zu öffnen und dann wieder zu schließen. Glücklicherweise hatte während der Belagerung niemand von diesem Gitter gewußt oder daran gedacht, und so war uns die Möglichkeit des Entkommens geblieben. Freilich mußten wir, um unter dem Gitter durchzuschlüpfen, mit dem ganzen Körper durch das Wasser kriechen; aber das hielt uns nicht ab. So drangen wir denn rüstig vor, und als wir glaubten, nahe bei der Mündung des Kanals angekommen zu sein, hielten wir einen Augenblick an, um unsere Kraft und Geistesgegenwart für den gefährlichen Moment des Hinaustretens ins Freie zu sammeln.

Da schlug ein furchtbarer Laut an unsere Ohren. Dicht vor uns, nur wenige Schritte entfernt, hörten wir eine Stimme „Halt Werda!“ rufen, und sogleich antwortete eine andere Stimme. Wir standen still wie vom Donner gerührt. In kurzer Zeit vernahmen wir ein anderes „Halt Werda!“ in etwas größerer Entfernung. Dann wieder und wieder denselben Ruf immer entfernter. Es war offenbar, daß wir uns unmittelbar bei der Mündung des Kanals befanden, daß draußen eine dichte Kette von preußischen Wachtposten stand, und daß soeben eine Ronde oder Patrouille bei dieser Kette vorüber passiert war. Leise, mit angehaltenem Atem, schlich ich noch ein paar Schritte vorwärts. Da war denn wirklich die Ausmündung des Kanals, von so dichtem Gebüsch überwachsen, daß sie in der dunklen Regennacht fast so finster blieb wie das Innere. Aber mich geräuschlos aufrichtend, konnte ich doch die dunkeln Gestalten eines preußischen Doppelpostens dicht vor mir erkennen, so wie auch das Feuer von Feldwachen in einiger Entfernung. Hätten wir nun auch, was unmöglich schien, unbemerkt ins Freie gelangen können, so wäre doch offenbar der Weg nach Steinmauern uns verschlossen gewesen.

Leise, wie wir gekommen, duckten wir uns in unseren Kanal zurück und suchten dort für den Augenblick Sicherheit. Glücklicherweise hatte der Regen aufgehört. Das Wasser war freilich noch hoch, aber es stieg doch nicht mehr. „Zurück zu unserer Bank!“ flüsterte ich meinen Gefährten zu. Wir krochen unter dem Gitter durch und fanden unser Brett wieder. Da saßen wir denn, dicht aneinandergedrängt. Unsere Beratung über das, was nun zu tun sei, hatte eine gewisse Feierlichkeit. Der Worte gab es wenige, des ernsten Nachdenkens viel. Ins Feld hinaus konnten wir nicht – das war klar. Längere Zeit im Kanal bleiben auch nicht, ohne die Gefahr, bei mehr Regen zu ertrinken. Es blieb also nichts übrig, als in die Stadt zurückzukehren. Aber wie konnten wir in die Stadt zurück, ohne den Preußen in die Hände zu fallen? Nachdem wir diese Gedanken flüsternd ausgetauscht, trat eine lange Pause ein. Endlich unterbrach ich das Schweigen: „Essen und trinken wir etwas; vielleicht kommt dann Rat.“ Adam packte [148] unsere Vorräte aus, und da wir seit der Frühstückszeit des vorigen Tages – denn Mitternacht war längst vorüber – nichts genossen hatten, so fehlte es nicht an Hunger und Durst. Unser Brot war allerdings naß geworden, aber es schmeckte uns doch; ebenso die Würste. Wir erinnerten uns beizeiten, daß wir nicht den ganzen Vorrat aufzehren durften, denn wir wußten ja nicht, woher sonst die nächste Mahlzeit kommen würde. Übrigens quälte uns auch der Durst mehr als der Hunger. Seit ungefähr zwölf Stunden waren unsere Füße im Wasser gewesen und daher eisig durchkältet. Dieser Umstand, verbunden mit der Aufregung, hatte uns das Blut zu Kopf getrieben. Adam öffnete nun eine der beiden Flaschen, die er für uns gekauft, und es fand sich, daß sie Rum statt Wein enthielt. Obgleich ich gegen alles, was Branntwein hieß, immer eine starke Abneigung gehabt, so trank ich doch wie auch meine Gefährten, in gierigen Zügen, und es schien, als bliebe das Gehirn völlig klar dabei.

Nachdem wir unsere Mahlzeit beendigt, nahm Adam das Wort. „In der Stadt habe ich eine Base“, sagte er. „Ihr Haus ist nicht weit vom Eingang des Kanals. Um dahin zu kommen, brauchen wir nur durch ein paar Gärten zu gehen. Wir könnten uns da in der Scheune verbergen, bis sich etwas Besseres findet.“

Dieser Vorschlag fand Beifall, und wir beschlossen, den Versuch zu machen. In demselben Augenblicke stieg in mir ein höchst niederschlagender Gedanke auf. Ich erinnerte mich, daß wir während der Belagerung dicht bei dem Eingang des Kanals einen Wachtposten gehabt hatten. War dieser Posten von den Preußen ebenfalls besetzt worden, so saßen wir in dem Kanal zwischen zwei feindlichen Schildwachen. Ich teilte meinen Gefährten meine Befürchtung mit. Was war zu tun? Vielleicht hatten die Preußen diesen Posten noch nicht besetzt. Vielleicht konnten wir uns vorbeischleichen. Auf alle Fälle – nichts blieb uns übrig als der Versuch durchzuschlüpfen.

Als wir unsere Bank verließen, um den Rückmarsch anzutreten, hörten wir die Turmuhr draußen drei schlagen. Ich ging voraus und erreichte bald den letzten Luftschacht. Ich nahm die Gelegenheit wahr, um mich aufzurichten und ein wenig zu strecken, wobei mir etwas geschah, das auf den ersten Augenblick ein Unglück schien. Ich hatte meinen kurzen Karabiner bei dem gebückten Gehen durch den Kanal als eine Art von Krücke gebraucht. Indem ich mich aufrichtete, fiel mir der Karabiner ins Wasser und machte ein großes Geräusch. „Holla!“ rief eine Stimme just über mir. „Holla! In diesem Loch steckt was! Kommt hierher!“ Und in demselben Augenblicke kam ein Bajonett, wie eine Sondiernadel, von oben herunter durch das Gitter, welches das Luftloch deckte. Ich hörte es, wie es an die eisernen Stäbe des Gitters anstieß, und wich der Spitze desselben durch rasches Bücken aus. „Nun schnell hinaus!“ flüsterte ich meinen Genossen zu, – „oder wir sind verloren.“ Mit wenigen hastigen Schritten erreichten wir das Ende des Kanals. Ohne uns umzusehen, sprangen wir über eine Hecke in den nächsten Garten und gewannen in schnellem Lauf einen zweiten Zaun, der ebenso überstiegen wurde. Atemlos blieben wir dann in einem Felde hoher Gartengewächse stehen, um zu horchen, ob uns jemand [149] folge. Wir hörten nichts. Es ist wahrscheinlich, daß das Fallen meines Karabiners ins Wasser die Aufmerksamkeit der Wachtposten in der unmittelbaren Umgebung auf sich gezogen und von der Mündung des Kanals abgewendet hatte. So mag unser Entrinnen durch den zuerst unglücklich aussehenden Zufall erleichtert worden sein.

Als Adam sich an unserm Halteplatz orientierte, fand er, daß wir uns dicht bei dem Hause seiner Base befanden. Wir setzten über einen Zaun, der uns noch von dem zu diesem Hause gehörenden Garten schied, wurden aber da von dem lauten Gebell eines Hundes begrüßt. Um ihn zu besänftigen, opferten wir den letzten Rest unserer Würste. Das Tor der Scheune fanden wir offen, gingen hinein, streckten uns auf dem an der einen Seite aufgehäuften Heu aus und fielen bald in tiefen Schlaf.

Aber diese Ruhe sollte nicht lange währen. Ich wachte jählings auf und hörte die Turmuhr sechs schlagen. Es war heller Tag. Adam hatte sich bereits erhoben und sagte, er wolle nun ins Haus zu seiner Base gehen, um anzufragen, was sie für uns tun könne. Nach wenigen Minuten kehrte er zurück und die Base mit ihm. Ich sehe sie noch vor mir – eine Frau von etwa dreißig Jahren, mit blassem Gesicht und weit geöffneten, angstvollen Augen. „Um Gotteswillen“, sagte sie, „was macht ihr hier. Hier könnt ihr nicht bleiben. Heute Morgen kommen preußische Kavalleristen als Einquartierung. Die werden gewiß in der Scheune nach Futter und Streu für ihre Pferde suchen. Dann finden sie euch und wir sind allesamt verloren.“ „Aber nehmt doch Vernunft an, Base“, sagte der gute Adam. „Wo können wir denn jetzt hin? Ihr werdet uns doch nicht ausliefern!“

Aber die arme Frau war außer sich vor Angst. „Wenn ihr nicht geht“, antwortete sie entschieden, „so muß ich es den Soldaten sagen, daß ihr da seid. Ihr könnt nicht verlangen, daß ich mich und meine Kinder für euch unglücklich mache.“

Es wurde noch mehr geredet, aber umsonst. Wir hatten keine Wahl – wir mußten die Scheune verlassen. Aber wohin? Die Frau zeigte uns durch das geöffnete Scheunentor einen von hohem und dichtem Gebüsch überwachsenen Graben auf der andern Seite des Hofes, in welchem wir uns verstecken könnten. Unsere Lage wurde verzweifelt. Da standen wir, alle drei in badischer Uniform, sofort als Soldaten der Revolutionsarmee zu erkennen. Und nun sollten wir keinen andern Zufluchtsort haben als das einen Graben deckende Gebüsch, mitten in einer Stadt, die von feindlichen Truppen wimmelte! Natürlich zögerten wir, die Scheune zu verlassen, obgleich das auch ein gefährlicher Aufenthalt war; doch bot sie uns ein Dach über dem Kopf, und vielleicht ließ sich darin ein gutes Versteck finden. Noch hofften wir, die Base werde sich erbitten lassen. Sie ging ins Haus, da sie die Ankunft der Einquartierung jeden Augenblick erwartete. Nach etwa einer halben Stunde kehrte sie zurück und sagte, die Kavalleristen seien gekommen und säßen gerade beim Frühstück. Jetzt könnten wir den Hof passieren, ohne von ihnen gesehen zu werden. Sie bestand mit solcher Entschiedenheit darauf, daß wir uns in unser Schicksal ergeben mußten. So liefen wir denn über den Hof nach dem überwachsenen Graben, der an der entgegengesetzten Seite [150] durch einen hohen Bretterzaun von einer Straße geschieden war. Es regnete wieder in Strömen und in der unmittelbaren Umgebung schien sich niemand zu regen. So konnten wir denn mit einiger Sicherheit unsern neuen Zufluchtsort untersuchen. Wir fanden, daß an dem Ende des Grabens, nach dem Garten zu, Brennholz über Mannshöhe aufgestapelt war, ein hohles an der uns zugekehrten Seite offenes Viereck bildend. Bis zu diesem Viereck konnten wir durch den von dem Gebüsch gedeckten Graben schleichen, und in dem so geschlossenen Raum waren wir so ziemlich vor den Blicken derjenigen geschützt, die etwa vorübergehen mochten. Dort setzten wir uns auf Holzblöcken nieder.

Aber was sollte nun aus uns werden? Das Unbehagen unserer erbärmlichen Lage, wie wir, bis auf die Haut durchnäßt, da saßen, würden wir schon gern ertragen haben, hätte sich nur die geringste Aussicht des Entkommens geboten. Der treue Adam, sonst so gutmütig, war heftig aufgebracht über das Benehmen seiner Base. Neustädter sah unsere Lage für hoffnungslos an und fragte, ob es nicht besser sei, unserer Not damit ein Ende zu machen, daß wir uns freiwillig bei den Soldaten im Hause als Gefangene meldeten. Und ich muß gestehen, daß auch mein sonst so sanguinisches Temperament eine harte Probe zu bestehen hatte. Doch raffte ich meinen Mut zusammen, und wir beschlossen dann, bis aufs äußerste auszuhalten und dem Glück zu vertrauen. So saßen wir denn, eine Stunde nach der andern auf das Schicksal wartend, im beständig herabströmenden Regen, auf unsern Holzblöcken, wahre Jammergestalten. Gegen Mittag hörten wir Schritte im Garten nahe bei unserm Versteck. Vorsichtig blickte ich aus der offenen Seite des Brennholzvierecks heraus und sah vom Hause herkommend einen Mann mit einer Säge in der Hand. Nach seinem Aussehen und der Säge, die er trug, schloß ich, daß er ein Arbeiter sei; und da die Arbeiter durchweg der revolutionären Sache günstig waren, so zauderte ich nicht, ihm zu vertrauen. Ich warf einen Holzspan nach ihm, der ihn am Arme traf, und als er stillstand, zog ich seine Aufmerksamkeit auf mich mit einem leisen Husten. Er sah mich und trat zu uns. In aller Schnelligkeit erklärte ich ihm unsere Lage und bat ihn, uns ein sicheres Unterkommen zu schaffen und auch etwas zu essen, da unser letzter Bissen verzehrt sei. Mein Vertrauen hatte mich nicht getäuscht. Er versprach zu tun, was nötig sei. Dann ging er fort, kehrte aber schon in einer halben Stunde zurück und zeigte uns hart bei dem aufgeschichteten Brennholz einen großen offenen Schuppen. An dem Ende des Schuppens, das uns am nächsten lag, befand sich ein kleiner geschlossener Verschlag, in welchem wahrscheinlich die Arbeiter ihre Werkzeuge verwahrten, und über diesem Verschlag unter dem Dach des Schuppens ein kleiner mit Planken verkleideter Söller. „Ich will eine dieser Planken losbrechen“, sagte der Arbeitsmann. „Ihr könnt dann über das Brennholz unters Dach hineinsteigen und euch dort niederlegen. Ich werde bald wiederkommen und euch etwas zu essen bringen.“

Wir folgten seinem Rat, und es gelang uns, unbemerkt in den kleinen Raum unter dem Dach hineinzuschlüpfen. Unser Gemach war gerade groß genug, daß wir drei bequem darin nebeneinander liegen konnten. [151] Der Boden, auf dem wir uns ausstreckten, war gedielt und mit zollhohem weißem Staube bedeckt. In diesem Staub lagen wir nun mit unsern nassen Kleidern. Aber wir fühlten uns wenigstens vorläufig sicher. Es war ungefähr ein Uhr nachmittags, als wir unser neues Asyl bezogen. Wir warteten ruhig, bis unser Freund uns den nötigen Mundvorrat bringen würde, um dann mit ihm weitere Rettungspläne zu überlegen. Nun hörten wir die Turmuhr zwei Uhr schlagen, und drei, und vier, aber unser Mann kam noch immer nicht zurück. Kurz nach vier Uhr wurde es in dem Schuppen unter uns sehr lebhaft. Aus dem Sprechen und Rufen und Poltern, das wir hörten, schlossen wir, daß ein Trupp Reiter gekommen und damit beschäftigt sei, den Schuppen zur zeitweiligen Unterbringung von Kavalleriepferden einzurichten. Die Pferde kamen bald an und auf allen Seiten schwärmte es von Soldaten. Durch die Ritzen der Bretterwände unseres Dachraumes konnten wir sie deutlich sehen. Unsere Lage wurde nun wieder eine äußerst kritische. Wäre es einem der Soldaten eingefallen, den Verschlag zu untersuchen und nachzusehen, was es in dem Dachraum geben möchte, so war unsere Entdeckung unvermeidlich. Irgend ein Geräusch, ein Husten oder Niesen unsererseits würde uns verraten haben. Wir gaben uns Mühe, möglichst leise zu atmen und sehnten uns nach der Nacht. Die Nacht kam, und wir waren noch unentdeckt, aber der Freund, auf dessen Beistand wir rechneten, hatte sich noch immer nicht wieder gezeigt.

Wir fingen an, recht hungrig und durstig zu werden und hatten weder einen Bissen noch einen Schluck. Der Rest unseres Branntweins war auf dem eiligen Lauf von dem Kanal nach dem Hause der Base verloren gegangen. Nun lagen wir still wie Tote. Nach und nach wurde es ruhiger im Schuppen, und bald hörten wir einige Leute schnarchen, andere von Zeit zu Zeit umhergehen, – wahrscheinlich die Stallwache. Wir fürchteten uns, selbst zu schlafen, obgleich wir sehr erschöpft waren; schließlich aber verständigten wir uns mit leisem Geflüster dahin, abwechselnd zu schlafen und zu wachen und den jeweiligen Schläfer zu wecken, wenn er zu schwer atmete. So ging die Nacht vorüber und der Morgen brach an, aber unser Helfer kam noch immer nicht. Mittag, Nachmittag, Abend – der ganze zweite Tag dahin –, aber von unserm Freunde keine Spur. Da lagen wir still und steif, von feindlichen Soldaten umgeben, und mit jedem Augenblick schien die Aussicht auf Hülfe immer mehr zu schwinden. Der Durst fing an uns sehr zu quälen. Glücklicherweise setzte während der Nacht wieder ein starker Regen ein. Über meinem Kopf befand sich im Dache ein gebrochener Ziegel und durch das Loch, klein wie es war, tröpfelte das Regenwasser herab. Ich fing etwas davon in der hohlen Hand auf und gewann so einen erquickenden Trunk. Meine Gefährten folgten meinem Beispiel. Wieder wurde es Morgen und unsere Hoffnung auf die Rückkehr unseres Freundes sank und sank. Die Turmuhr schlug Stunde nach Stunde, und keine Hülfe. Unsere Glieder begannen von dem starren Liegen zu schmerzen, und doch konnten wir kaum wagen, unsere Lage zu ändern. Drei Tage und zwei Nächte waren wir nun ohne Nahrung gewesen und ein ungewohntes Gefühl der Schwäche trat ein. So kam die dritte Nacht. Alle Hoffnung auf das Kommen unseres [152] Freundes war nun dahin. Wir erkannten die Notwendigkeit, selbst einen neuen Versuch zu unserer Rettung zu machen, ehe unsere Kräfte gänzlich schwanden. Wir sannen und sannen, ohne ein Wort zu sprechen, als höchstens: „Er kommt nun nicht mehr.“

Endlich tauchte in mir ein neuer Gedanke auf. Als wir während dieser dritten Nacht die Soldaten unter uns kräftig schnarchen hörten, flüsterte ich meinem Nachbar zu, indem ich meinen Mund seinem Ohr nahe brachte:

„Neustädter, haben Sie nicht, als wir über das Brennholz kletterten, ein kleines Häuschen bemerkt, das etwa fünfzig Schritt von hier steht?“ „Ja“, sagte Neustädter.

„Da muß ein armer Mann wohnen“, fuhr ich fort, – „wahrscheinlich ein Arbeiter. Einer von uns muß zu ihm ins Haus gehen und zusehen, ob er uns helfen kann. Ich würde gern selbst hingehen, aber ich müßte über Sie wegklettern – Neustädter lag der Öffnung in der Bretterwand am nächsten – und das möchte Geräusch geben. Sie sind ohnehin der Kleinste und Leichteste von uns. Wollen Sie es versuchen?“

„Ja.“

Ich hatte noch etwas Geld; man hatte uns nämlich kurz vor der Kapitulation unsere Löhnung ausbezahlt. „Nehmen Sie meinen Geldbeutel“, flüsterte ich, „und geben Sie dem Mann der in dem Häuschen wohnt, zehn Gulden davon, oder soviel er will. Sagen Sie ihm, er solle uns etwas Brot und Wein, oder auch nur Wasser schaffen und sich so bald als möglich erkundigen, ob die preußische Postenkette noch um die Festung herum steht. Sind die Posten eingezogen, so können wir morgen nacht noch einmal den Versuch machen, durch den Kanal fortzukommen. Gehen Sie jetzt und bringen Sie uns ein Stück Brot mit, wenn Sie können.“

„Gut.“

In einer Minute war Neustädter leicht und leise wie eine Katze durch das Loch in der Bretterwand verschwunden. Mein Herz schlug fast hörbar während seiner Abwesenheit. Ein falscher Tritt, ein zufälliges Geräusch konnte ihn verraten. Nach weniger als einer halben Stunde kam er zurück, ebenso leicht und lautlos wie er gegangen war, und streckte sich neben mir aus.

„Es ist alles gut gegangen“, flüsterte er. „Hier ist ein Stück Brot – alles was sie im Hause hatten. Und hier ist auch ein Apfel, den ich im Vorbeigehen von einem Baum gepflückt habe. Aber ich glaube, er ist noch grün.“

Das Brot und der Apfel waren schnell unter uns verteilt und mit Gier verzehrt. Dann berichtete Neustädter mit seinem Mund an meinem Ohr, er habe in dem kleinen Häuschen einen Mann und dessen Frau gefunden; der Mann, dem er die zehn Gulden gegeben, habe ihm fest versprochen, uns Nahrung und auch die gewünschte Kunde über den Stand der Dinge außerhalb der Festung zu bringen.

Das erfrischte unsere Lebensgeister, und beruhigt schliefen wir abwechselnd bis zum hellen Morgen. Nun erwarteten wir jeden Augenblick unseren Befreier. Aber eine Stunde nach der andern verging [153] und er kam nicht. Waren wir wieder getäuscht? Endlich gegen Mittag hörten wir jemanden in dem Verschlage dicht unter uns geräuschvoll herumrumoren, als schöbe er schwere Gegenstände von einer Ecke in die andere; dann ein leichtes Husten. Im nächsten Augenblick erschien ein Kopf in der Öffnung unserer Bretterwand und ein Mann stieg zu uns herein. Es war unser neuer Freund. Er schob einen Korb vor sich her, der anscheinend mit Handwerkszeug gefüllt war, aus dessen Tiefe aber bald zwei Flaschen Wein, ein paar Würste und ein großer Laib Brot hervorgelangt wurden. „Da ist etwas für Hunger und Durst“, sagte unser Freund leise. „Ich bin auch um die Stadt herum gewesen. Die preußischen Wachtposten sind nicht mehr draußen. Ich will euch gern helfen. Sagt mir nur was ich tun soll.“

Ich bat ihn nun, nach Steinmauern zu gehen und sich dort nach einem Kahn umzusehen, der uns in der kommenden Nacht über den Rhein bringen könne. Dann solle er gegen Mitternacht in dem Welschkornfelde nahe bei dem Steinmauerner Tor uns erwarten. Das Signal werde ein Pfiff sein, den er beantworten solle, um dann mit uns zusammenzutreffen und uns nach der Stelle zu führen, wo der Kahn liege. Seiner Frau sollte er sagen, daß sie um 11 Uhr nachts etwas zu essen für uns bereit haben möge.

Ich gab dem Manne noch etwas mehr Geld; er versprach alles zu tun, was ich verlangt, und verschwand wieder wie er gekommen war. Nun hielten wir ein königliches Mahl, während dessen unsere gute Laune es uns sehr schwer machte, die nötige Stille zu bewahren. Um so länger schienen uns die folgenden Stunden. Sie waren so voll von Hoffnung und Besorgnis. Gegen zwei Uhr hörten wir das Knattern einer Gewehrsalve in einiger Entfernung.

„Was ist das?“ flüsterte Neustädter. „Da erschießen sie wohl einen.“

Mir schien es auch so. Wir nahmen es als eine Andeutung des Schicksals, das uns bevorstände, wenn wir gefangen würden. In der Tat aber begann, wie wir später erfuhren, das Erschießen erst einige Tage nachher.

Gegen drei Uhr erhob sich ein geräuschvolles Getreibe in dem Schuppen unter uns. Die Reiter machten sich offenbar zum Abzuge bereit. Aber kaum waren sie fort, als eine andere Truppe von dem Schuppen Besitz nahm. Wie wir aus den zu uns heraufdringenden Gesprächen schließen konnten, war es eine Abteilung Husaren. Gegen Abend schien sich eine große Menge zu versammeln, und wir unterschieden auch weibliche Stimmen darunter. Dann erklang eine Trompete, die Walzerweisen spielte, wozu die lustige Gesellschaft tanzte. Dies war uns nicht unlieb, denn wir erwarteten, daß nach einem solchen Vergnügen, bei dem es nicht ohne tapferes Trinken abging, unsere Husaren nur um so tiefer schlafen würden. Gegen neun Uhr zerstreute sich die Menge und es würde alles still geworden sein, hätte nicht einer der Husaren eine Rastatter Maid auf dem Platze zurückgehalten. Das Pärchen stand oder saß dicht bei unserm Versteck und jedes der gewechselten Worte konnten wir verstehen. Die Unterhaltung war sehr gefühlvollen Charakters. Er beteuerte ihr, daß sie reizend sei, daß sie sogleich beim ersten Blick sein Herz in Flammen gesetzt habe, und daß [154] er sie liebe. Sie antwortete, er möge sie mit seinen schlechten Späßen in Ruhe lassen; aber er merkte vielleicht, daß sie wirklich nicht in Ruhe gelassen sein wollte, und so fuhr er fort, dasselbe Thema in allerlei kühnen und blumenreichen Redewendungen zu variieren. Endlich schien sie denn auch geneigt, alles zu glauben, was er ihr sagte. Gerne würden wir gelacht haben, hätten wir lachen dürfen. Als aber dieses sonst so interessante Gespräch gar kein Ende nehmen wollte, fing ich an besorgt zu werden, es möge bis Mitternacht dauern, und so werde uns die Husarenliebe einen bedenklichen Strich durch die Rechnung machen. Es war uns also eine große Erleichterung, als das Paar endlich gegen zehn Uhr davonging, und wir wünschten ihm den Segen des Himmels.

Nun zählten wir die Minuten, da der entscheidende Augenblick nahte. Mit dem Glockenschlage elf kroch Neustädter aus der Öffnung in der Plankenwand, trat auf das aufgeschichtete Brennholz und erreichte mit einem leichten Sprung den Boden. Ich folgte ihm. Meine Beine waren durch das viertägige, bewegungslose Liegen sehr steif geworden, und als ich meinen Fuß auf den Holzhaufen setzte, fielen mehrere Scheite mit großem Geräusch zur Erde. Einen Augenblick später hörte ich in geringer Entfernung den Tritt einer Patrouille. Ich hatte noch eben Zeit, meinem treuen Adam zuzuflüstern, daß er zurückbleiben solle, bis die Patrouille vorübergegangen sei, um uns dann zu folgen. Es gelang mir, zur Erde zu springen und mich zu verbergen, ehe die Patrouille um die Gasse bog. Ich fand Neustädter in dem Häuschen und Adam kam nach einigen Minuten. „Die Patrouille ging ruhig vorüber“, sagte er. „Im Schuppen wurde so laut geschnarcht, daß man kaum ein anderes Geräusch hören konnte.“

Die Frau unseres Freundes in dem Häuschen hatte eine köstliche Rindfleischsuppe mit Reis für uns bereit. Nachdem diese, das gesottene Fleisch und gebratene Kartoffeln unsere Kräfte gestärkt, machten wir uns auf den Weg durch die Gärten nach dem Kanal. Es war eine helle Mondnacht und wir hielten uns vorsichtig im Schatten der Hecken, um nicht gesehen zu werden. Dies gelang, bis wir an dem Graben hart bei der Mündung des Kanals ankamen. Da erwartete uns ein neuer Schrecken. Ein Wachtposten marschierte auf und ab jenseits der Mündung, kaum dreißig Schritt davon entfernt. Wir hielten an und duckten uns hinter der Hecke. Hier war nur eins zu tun. Wie der Mann uns den Rücken kehrte und nach der andern Seite ging, schlüpfte einer von uns vorsichtig in den Kanal. Die beiden anderen gerade so nachher. In wenigen Minuten waren wir dort versammelt. Wir krochen behutsam vorwärts und stießen auch wieder auf unsere alte Bank, wo wir ein wenig ausruhten. Dann unseren Weg verfolgend, fanden wir das Gitter in seinem alten Zustande, krochen durch und sahen bald vor uns einen hellen Schein durch dunkles Blätterwerk dringend, der uns zeigte, daß der Ausgang ins Feld vor uns lag. Wir standen nochmals still, um unsere Pistolen fertig zu machen – ob sie nach der Durchnässung hätten abgefeuert werden können, ist fraglich –, denn nach allem, was wir gelitten, waren wir nun nötigenfalls zum Äußersten entschlossen, um uns den Weg zu bahnen. Aber der Ausgang war frei, die Postenkette verschwunden. Das Welschkornfeld lag vor uns. Ein leiser Pfiff von [155] unserer Seite wurde sogleich beantwortet, und unser Mann trat aus dem Korn hervor.

Er berichtete uns, daß die Bahn frei sei. Wir schritten rüstig vorwärts, und in weniger als einer Stunde hatten wir das Dorf Steinmauern erreicht. Unser Freund führte uns an das Rheinufer und zeigte uns einen Kahn, in dem ein Mann fest schlafend lag. Er wurde schnell geweckt, und unser Freund kündigte ihm an, wir seien die Leute, die über den Rhein gesetzt werden sollten. „Das kostet fünf Gulden“, sagte der Bootsmann, der sich auf meine Frage, wo er her sei, als einen Koblenzer zu erkennen gab. Ich reichte ihm den verlangten Lohn und bot auch noch etwas Geld unserem braven Führer an. „Ihr habt mir schon genug gegeben“, sagte dieser. „Was ihr noch habt, braucht ihr wohl selbst. Ich heiße Augustin Löffler. Vielleicht sehen wir uns im Leben noch einmal wieder. Gott behüt euch!“ Damit schüttelten wir einander die Hände zum Abschied. Wir Flüchtlinge stiegen in den Kahn, und unser Freund wanderte nach Rastatt zurück. Viele Jahre später, als ich Minister des Innern in der Regierung der Vereinigten Staaten war, empfing ich eines Tages von Augustin Löffler einen Brief aus einem kleinen Ort in Kanada. Er schrieb mir, er sei nicht lange nach der Revolutionszeit aus Deutschland ausgewandert, und es gehe ihm gut in seiner neuen Heimat. Er habe in einer Zeitung gelesen, ich sei einer von den drei jungen Leuten, die er in jener Julinacht 1849 von Rastatt an den Rhein geführt habe. Ich antwortete ihm, drückte meine Freude über den Empfang seines Briefes aus und bat ihn, wieder zu schreiben, habe aber seither nichts wieder von ihm gehört.

Nach kurzer Wasserfahrt setzte uns der Bootsmann in einem dichten Weidengebüsch ans Land. Es war zwischen zwei und drei Uhr morgens, und da das Gebüsch unwegsam schien, so beschlossen wir, auf alten Baumstumpen sitzend, dort das Tageslicht zu erwarten. In der Morgendämmerung brachen wir auf, um das nächste elsässische Dorf zu suchen. Bald aber entdeckten wir, daß wir auf einer Insel gelandet waren. Wir fanden ein kleines Haus, das ungefähr in der Mitte der Insel stand und das Häuschen eines badischen Zollwächters zu sein schien. So waren wir also noch in „Feindesland“, und der Bootsmann aus Koblenz hatte uns getäuscht. Das Häuschen war dicht verschlossen, die Fensterladen sowohl wie die Türe. Wir horchten, aber drinnen rührte sich nichts. Ein rascher Lauf über die kleine Insel überzeugte uns, daß diese, uns drei ausgenommen, menschenleer sei. Wir begaben uns nun an das dem Elsaß zugekehrte Ufer und, als eben die Sonne aufging, sahen wir drüben zwei Männer einhergehen, die wir bald als französische Douaniers erkannten. Wir riefen ihnen übers Wasser zu, daß wir Flüchtlinge seien und dringend wünschten, hinüber geholt zu werden. Ohne sich lange bitten zu lassen, bestieg einer der Douaniers, ein biederer Elsässer, einen kleinen Nachen und brachte uns auf elsässischen Boden. Unsere Waffen gaben wir den Zollbeamten ab und versicherten ihnen unter beiderseitigem Lachen, daß wir sonst nichts Steuerpflichtiges aus Rastatt mitgebracht hätten. Als ich mich nun wirklich in Freiheit und Sicherheit wußte, war mein erster Impuls, nach dem viertägigen Schweigen oder Flüstern, einmal laut zu schreien. Meinen [156] Schicksalsgenossen war es ebenso zumute, und so schrien wir denn nach Herzenslust, zum großen Erstaunen der Douaniers, die uns für toll halten mochten.

Wir waren bei einem kleinen Dorf, Münchhausen genannt, gelandet. Die Douaniers sagten uns, daß sich in dem nahen Städtchen Selz viele deutsche Flüchtlinge befänden, und dahin wendeten wir unsere Schritte. Unterwegs blickten wir einander im hellen Sonnenlichte an und fanden, daß wir schauderhaft aussahen. Vier Tage und Nächte hatten wir mit durchnäßten Kleidern in Wasser, Schlamm und Staub gewatet und gelegen. Unsere Haare waren von Schmutz aneinander geklebt und unsere Gesichter kaum zu erkennen. Am nächsten Bach genossen wir dann den unbeschreiblichen Luxus einer Wäsche, und so, zu menschlicher Erscheinung hergestellt, erreichten wir bald das Wirtshaus in Selz.

Die dort anwesenden Flüchtlinge aus Baden, von denen keiner in Rastatt gewesen war, hießen uns willkommen und wollten unsere Abenteuer hören. Aber vorerst stand unser Verlangen nach einem Zuber warmen Wassers, einem Frühstück und einem Bett. Alles dies erhielten wir. Ich schlief vierundzwanzig Stunden mit geringer Unterbrechung. Dann machte ich die Flüchtlingsgesellschaft im Wirtshause mit den Umständen unseres Entkommens aus der Festung bekannt. Von ihnen erfuhr ich dann auch zum erstenmal, daß Kinkel in einem der Gefechte bei Rastatt vor dem Beginn der Belagerung von den Preußen gefangen worden sei. Er hatte sich, nachdem wir die Pfalz verlassen und er also in Verbindung mit der pfälzischen provisorischen Regierung nicht mehr tätig sein konnte, einem Volkswehrbataillon angeschlossen und als gemeiner Soldat die Muskete in die Hand genommen. Als Kämpfender wollte er das Schicksal des Revolutionsheeres teilen. In einem Gefechte an der Murglinie wurde er durch eine feindliche Kugel am Kopfe verwundet, stürzte zu Boden und fiel den angreifenden Preußen in die Hände. Nun, hieß es, habe man ihn mit der gefangenen Besatzung in eine der Rastatter Kasematten gesteckt, um ihn von einem Kriegsgericht aburteilen und dann erschießen zu lassen. Diese Nachricht erschütterte mich tief, so daß ich der wiedergewonnenen Freiheit kaum froh werden konnte.

Am Tage nach unserer Ankunft in Selz erschien im Wirtshause ein Gendarm im Auftrage des Maire, um unsere Namen zu erfahren und auch, ob wir zu bleiben, oder, wenn nicht, wohin wir zu gehen beabsichtigten. „Wir wollen nach Straßburg gehen“, antwortete ich aufs Geratewohl. Der Maire fertigte uns darauf eine Art von Laufpaß aus mit der Anweisung, daß wir uns in Straßburg sofort auf der dortigen Präfektur melden sollten. Ein drückendes Gefühl kam über mich, daß ich nun wirklich ein Heimatloser, ein Flüchtling sei und unter polizeilicher Überwachung stehe. Nachdem ich meinen Eltern geschrieben und ihnen meine Rettung mitgeteilt hatte, machten wir uns ohne weiteren Aufenthalt nach Straßburg auf den Weg. Mein eigentliches Reiseziel war die Schweiz, wo, wie ich hörte, Anneke, Techow, Schimmelpfennig und andere Freunde sich befanden.

Wäre ich ein paar Tage länger in Selz geblieben, so würde ich in demselben Wirtshaus, in dem ich eingekehrt, meinen Vater gesehen [157] haben. Dies ging so zu: Wie bereits erwähnt, schrieb ich am Tage der Übergabe von Rastatt, in der Erwartung, daß ich mit der Besatzung würde gefangen werden, einen Brief an meine Eltern, den ich meinem Hauswirt zur Besorgung anvertraute. Dieser Brief traf meine Eltern wie ein Donnerschlag, und sofort machte mein Vater sich auf, um womöglich seinen Sohn noch einmal zu sehen. In Rastatt angekommen, meldete er sich bei dem preußischen Kommandanten der Festung, von dem er hoffte, über mein Schicksal Kunde zu erhalten. Der Kommandant empfing ihn freundlich genug, wußte ihm aber nach einiger Nachfrage nichts weiteres zu sagen, als daß mein Name nicht auf den Listen der Gefangenen stehe. Erstaunt darüber, bat mein Vater um die Erlaubnis, die Kasematten, in denen die Gefangenen gehalten wurden, nach mir zu durchforschen. Diese Erlaubnis erhielt er, und ein Offizier begleitete ihn auf der angstvollen Suche. Von Kasematte zu Kasematte gingen sie, drei Tage lang, und Mann für Mann fragten sie die Gefangenen nach mir, aber alles umsonst. Mich fanden sie nicht, und obgleich manche sich meiner erinnerten, wußte doch niemand über mich Auskunft zu geben. Niemand hatte mich bei der Waffenstreckung gesehen. Auch auf Kinkel traf mein Vater im Gefängnis. „Was?“ rief dieser aus. „Auch Karl hier? O weh, ich glaubte ihn sicher in der Schweiz!“ In stillem Schmerz drückten die Männer sich die Hände.

Nachdem mein Vater so vergeblich nach mir geforscht, dämmerte ihm eine Hoffnung auf, ich möchte doch vielleicht entkommen sein. Von Bürgersleuten in Rastatt hörte er, es seien mehrere Flüchtlinge aus Baden drüben überm Rhein in Selz. Von diesen möchte einer imstande sein, über mich Nachricht zu geben. Wenige Stunden später war mein Vater in dem Wirtshaus in Selz, in dem die Flüchtlinge verkehrten. Dort nannte er seinen Namen; und nun erfuhr er die ganze Geschichte meiner Flucht, und wie ich noch vor wenigen Tagen in Selz gewesen und nach Straßburg abmarschiert sei, mit der Absicht, von dort sofort weiter zu gehen, wohin, wisse man nicht, wahrscheinlich nach der Schweiz. Mein Vater brach in Freudentränen aus und rief ein übers andre Mal: „Der Schwerenotsjunge! Nun muß ich schnell heim, um es der Mutter zu erzählen.“ Und da er kaum hoffen durfte, mich in Straßburg noch zu finden, und erwartete, bald aus der Schweiz von mir zu hören, so kehrte er ohne Verzug nach Bonn zurück. Einer der badischen Flüchtlinge, die meinen Vater im Wirtshause zu Selz gesehen und ihm die Auskunft über mich gegeben hatten, erzählte mir dies alles einen Monat später in der Schweiz, und er konnte sich dann noch selbst seiner Rührung kaum erwehren, als er mir die Freude meines Vaters beschrieb.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sorfältige
  2. Vorlage: nnd
  3. Vorlage: ihren
  4. Vorlage: Heidelberg
  5. Vorlage: nnd
  6. Vorlage: tätsächlich

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