Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852/Weiter
Siebentes Kapitel.
Als Flüchtling in der Schweiz.
Von Selz nach Straßburg wanderten wir zu Fuß. Es war ein herrlicher Sommersonntag. Eine Zeitlang konnten wir von unserer Straße aus die Türme von Rastatt in der Ferne sehen. Der Anblick des großen Gefängnisses, dem wir entkommen, würde das Vollgefühl unserer Freiheit zu lustigem Übermut entfesselt haben, hätte uns nicht der Gedanke an die unglücklichen Freunde gedrückt, die dort, eines dunklen Schicksals harrend, in der Gewalt ihrer Feinde saßen. Da wir noch unsere Uniformen trugen – andere Kleider hatten wir nicht –, so wurden wir in den elsässischen Dörfern, durch die uns unsere Straße führte, sofort als flüchtige deutsche Revolutionssoldaten erkannt und nicht selten von den Dorfleuten angehalten, die mit wohlwollender Neugier wissen wollten, wie wir davongekommen seien. So gab es denn mehrfache Rasten mit Wein und Imbiß und lustigen Gesprächen, bis wir spät abends Straßburg erreichten. Dort kehrten wir im „Rebstöck’l“ ein, einem Gasthaus, dessen Wirt wegen seiner deutschen Sympathien weit bekannt war. Er nahm uns äußerst freundlich auf und pflegte uns, nachdem er die Hauptzüge unserer Geschichte gehört, mit besonderer Sorge. Am nächsten Tage hatten wir uns mit unserm Laufpaß beim Präfekten zu melden. Dieser eröffnete uns, daß die französische Regierung beschlossen habe, die Flüchtlinge zu „internieren“; es sei daher weder in Straßburg noch irgendwo anders in der Nähe der Grenze lange unseres Bleibens; wir müßten so bald wie möglich zwischen einigen Städten im Innern Frankreichs, die er uns nannte, unsere Auswahl treffen, um dahin befördert zu werden; auch nach der Schweiz könne er uns keine Pässe geben. Aber gerade nach der Schweiz wollten wir und beschlossen daher insgeheim, auch ohne obrigkeitliche Bewilligung, dahin unsere Reise fortzusetzen.
Es war unterdessen die Nachricht angelangt, daß die pfälzischen und badischen Soldaten und Volkswehrmänner, die in die Hände der Preußen gefallen waren, und die sich nichts anderes als bloßen Dienst in der Revolutionsarmee hatten zuschulden kommen lassen, ohne weitere Strafe nach Hause geschickt werden sollten. Nur die Offiziere und sonstige besondere Übeltäter wurden zurückbehalten. Es stand also der Rückkehr Adams in seine Heimat nichts mehr entgegen, und ich ermahnte ihn, er solle diese Möglichkeit sofort benutzen. Adam drückte mir noch einmal seine Anhänglichkeit aus, an der ich gewiß keine Ursache hatte zu zweifeln. Aber er sah doch ein, daß mein Rat gut war, und entschloß sich, ohne Verzug zu den Seinigen in der Pfalz zurückzuwandern. Ich gab ihm einen Teil meiner Barschaft, und wir schieden voneinander mit aufrichtiger Rührung und mit dem Versprechen, gelegentlich einander zu schreiben. Erst als Adam schon fort war, fiel mir ein, daß ich seinen Familiennamen nie gekannt hatte, so daß ich ihm nicht schreiben konnte; und ich habe von meinem braven Gefährten seit jenem Abschiedstage auch nie wieder gehört.
[159] Nachdem ich einige Stunden damit zugebracht hatte, das Straßburger Münster zu beschauen, rüsteten Neustädter und ich uns zur Abreise. Wir kauften uns leichte Staubröcke, die wir über unsere badischen Uniformen tragen konnten, und nahmen dann einen Eisenbahnzug nach Basel, stiegen aber, kurz ehe wir die Schweizer Grenze erreichten, an einer Wegestation aus, deren Namen ich vergessen habe. Es war gegen Abend. Wir gingen in das nahe Dorf und fanden ein kleines Wirtshaus, durch dessen offene Tür wir eine Frau am Herde beschäftigt sahen. Wir traten ein und fragten die Frau, ob sie uns zu essen geben könne, und aus langen Verhandlungen, ihrerseits in der uns schwer verständlichen elsässischen Mundart geführt, ging hervor, daß sie uns wohl einen Eierkuchen mit Speck zu bieten imstande sei. Während der Kuchen in der Pfanne zischte und duftete, trat der Wirt ein. Sein biederer Gesichtsausdruck erweckte Vertrauen, und ich hielt es für das beste, ihn offen mit unserer Lage bekannt zu machen, sowie mit unserm Wunsche, die Grenze der Schweiz zu passieren, ohne auf einen Beamten zu stoßen, der uns nach einem Paß oder einer sonstigen Legitimation fragen möchte. Das lebhafte Interesse und die genaue Sachkenntnis, die der Wirt uns entwickelte, ließen vermuten, daß dem Biedermann die Schleichwege der Grenzschmuggler durchaus nicht fremd seien. Nach eingetretener Dunkelheit begleitete er uns eine Strecke und gab uns dann eine sehr klare Beschreibung der Fußpfade, auf denen wir alle Grenzwächter vermeiden und nach nicht gar langer Wanderung das schweizerische Dörfchen Schönebühl erreichen würden. Dort bezeichnete er uns eine am Wege stehende Scheune, die wir wahrscheinlich offen finden, und in der wir uns auf gutem Heulager bis zum Morgen würden ausruhen können. Genau folgten wir seinen Anweisungen, und es mochte etwa Mitternacht sein, als wir uns in der bezeichneten Scheune auf duftigem Heulager zum Schlafe ausstreckten.
Mit Sonnenaufgang waren wir wieder auf den Füßen und erfragten uns von den Bauern, die zu ihrer Arbeit gingen, den Weg nach Bern, - denn ich hatte in Straßburg erfahren, daß Anneke und die übrigen Freunde, denen ich mich anschließen wollte, sich in Bern aufhielten. Die Straße führte uns zuerst durch fruchtbare Talgründe. Es war ein sonniger Tag. Die Felder wimmelten von Landleuten, mit der Ernte beschäftigt. Ich erinnere mich noch deutlich der Empfindungen, die mich auf jenem Marsche bewegten. Ich freute mich an dem Bilde heitern Friedens, aber immer stieg mir wieder der Gedanke auf: „Wie viel glücklicher sind doch diese da als du. Wenn sie ihre schwere Arbeit getan haben, so kehren sie nach Hause zurück. Sie haben eine Heimat; du hast keine mehr.“ Ich konnte diese trüben Reflexionen nicht los werden, bis wir ins Münstertal eintraten, jenen großartig wilden Spalt im Juragebirge, den eine gewaltige Erdrevolution aufgerissen zu haben schien. Nachdem wir geruht, konnte ich das Verlangen nicht bezähmen, sogleich die Alpen zu sehen. So stiegen wir denn jenseits von Moutiers den etwa 4000 Fuß hohen Monto hinauf, und da stand dann in klarer Ferne die wunderbare Erhabenheit der Schneehäupter vor uns. Es war mir ein seltsam stärkender, ermutigender Anblick.
[160] In einem tiefen Tal auf der andern Seite des Monto kehrten wir in einer kleinen Schenke ein, in der wir einen intelligent aussehenden Mann mit einem Knaben fanden, die sich an Trunk und Imbiß erquickten. Als wir uns bei dem Manne nach dem Wege und den Entfernungen erkundigten, gab er uns freundliche Auskunft und erzählte uns weiter, er wohne in Bern und habe die Stadt erst vor wenigen Tagen verlassen, um mit dem Knaben, seinem Sohn, eine Fußreise zum Vergnügen zu machen. Auf weitere Fragen erfuhren wir, daß er viele von den deutschen Flüchtlingen kannte, unter andern auch meine Freunde, und daß diese sich allerdings in Bern eine Zeitlang aufgehalten hatten, aber vor wenig mehr als einer Woche von dort abgereist und nach Dornachbruck bei Basel gezogen seien, wo ich sie jetzt finden könne. Das war mir eine verdrießliche Nachricht. Um zu ihnen zu stoßen, mußte ich also den Weg wieder zurückgehen, den ich gekommen war. Ich entschloß mich sofort dazu. Neustädter aber, der meine Freunde nicht kannte, und der in der Stadt Bern irgendwelche Beschäftigung zu finden hoffte, zog vor, seine Reise dahin fortzusetzen. So trennten wir uns denn in der kleinen Schenke im Tal, und ich sah Neustädter erst achtzehn Jahre später in St. Louis am Mississippi wieder, wo er eine bescheidene, aber geachtete Stellung einnahm, und wo wir die Erinnerung an unser gemeinsames Jugendabenteuer mit Behagen auffrischten.
Meine Ankunft in Dornachbruck brachte mir eine neue Enttäuschung. Im Gasthause des Dorfes erfuhr ich, daß Anneke und andere meiner Freunde allerdings vor wenigen Tagen dagewesen, aber nach kurzem Aufenthalt nach Zürich abgereist seien. Gern wäre ich sofort weiter gewandert, aber ich wußte nicht, ob nicht die, welche ich suchte, auch nicht schon wieder von Zürich abgezogen waren. Auch war meine Barschaft fast gänzlich erschöpft, und überdies fühlte ich mich sehr ermüdet. So beschloß ich denn, vorläufig in Dornachbruck zu bleiben, ließ mir im Gasthofe ein Zimmer anweisen, schrieb nach Hause um etwas Geld und zurückgelassene Kleider und legte mich zu Bett. Die großen Aufregungen und Strapazen der letzten Tage fingen nun an, ihre Wirkung zu üben. Ich war sehr abgespannt und kam mir äußerst einsam und verlassen vor. Selbst der Schlaf erquickte mich wenig. Trübselig ging ich im Dorf und der Umgebung umher und brachte manche Stunde in dem verfallenen Turm einer Burgruine, auf einem benachbarten Hügel im Grase liegend oder auf Mauertrümmern sitzend zu. Die Wirtstochter, eine kräftige Jungfrau von etwa 25 Jahren, die dem Hauswesen vorstand, war die einzige menschliche Seele, die meine krankhafte Stimmung zu bemerken schien, und die sich meiner mitfühlend annahm. In der furchtbaren Mundart des Basellandes, die mir nur schwer verständlich war, redete sie mir Trost und Mut zu, bereitete mir ihre besten Leckerbissen und gab mir auch ihr bestes Buch zu lesen. Es war „Stifters Studien“, ein Buch, das mir zuerst für ihren Begriffskreis zu hoch scheinen wollte. Aber ich fand bald, daß diese junge Schweizerin einen recht guten Schulunterricht genossen hatte und trotz ihrer baselländischen Sprache in der deutschen Literatur nicht unbewandert war. Aber meine Schwermut wurde immer düsterer; die Zukunft [161] lag wie eine dunkle Wolke vor mir. Ich bildete mir zuletzt ein, ich sei ernstlich krank, und brachte den größten Teil des Tages in halbträumenden Zustande auf dem Bette liegend zu. Ich mochte wohl zehn Tage lang in Dornachbruck gewesen sein, als ich eines Morgens eine auffallend laute Stimme auf dem Hausflur meinen Namen nennen hörte. „Das ist ja der leibhaftige Strodtmann!“ rief ich aus, indem ich vom Bette aufsprang. Er war es in der Tat, und im nächsten Augenblicke stand er vor mir. Er war von Bonn herangereist, um mir einen Brief von meinen Eltern und Dutzende von meinen Universitätsfreunden zu bringen; auch einen Beutel voll Geld, und was ich sonst bedurfte. Mein Entkommen aus Rastatt hatte in Bonn die freudigste Aufregung hervorgebracht, die in den Briefen sehr lebhaften Ausdruck fand, und von der mir Strodtmann nicht genug erzählen konnte. Nun war meine elegische Stimmung auf einmal verschwunden. Ich fühlte mich plötzlich wieder vollkommen wohl; und nachdem wir unser Wiedersehen mit der besten Mahlzeit, die das Gasthaus in Dornachbruck leisten konnte – Strodtmann war nämlich ein Feinschmecker –, passend gefeiert hatten, beschlossen wir, am nächsten Tage unsere Reise nach Zürich anzutreten, wo Strodtmann einige Zeit bei mir zu bleiben versprach.
So zogen wir denn los in lustiger Studentenweise, kehrten häufig ein und wanderten wieder vorwärts mit gesteigerter Heiterkeit. An der Aar, im Angesicht der Ruine Habsburg, nicht weit von dem Fleck, wo vor Jahrhunderten Kaiser Albrecht von Johann von Schwaben erschlagen worden war, lagerten wir uns ins Gras, verloren uns in geschichtlichen Betrachtungen und poetischen Ergüssen und schliefen ein. Es war Abend, als ein schweizerischer Gendarm uns weckte. Wir fanden im nächsten Wirtshaus Nachtquartier, und am Tag darauf nahmen wir Plätze auf der Postkutsche nach Zürich, da es uns anständiger schien, so dort anzukommen, und da unser Kassenbestand uns solchen Luxus erlaubte. Das war meine letzte Studentenfahrt. Als wir nun oben auf der Kutsche sitzend in Zürich einfuhren – was sollte ich sehen? Da standen am Halteplatz des Postwagens, als hätten sie meine Ankunft erwartet, Anneke, Techow, Schimmelpfennig und Beust, die Freunde, die ich so lange auf meiner Irrfahrt gesucht. Aber ihre Überraschung war nicht geringer als die meinige. Als ich so plötzlich unter sie sprang, trauten sie ihren Augen nicht. Von meinem Entkommen aus Rastatt hatten sie in der Schweiz nichts vernommen. Auch hatten sie meinen Namen nicht in den Zeitungen gefunden, die über die in Rastatt gefangenen Revolutionsoffiziere berichteten. Von niemand hatten sie über mich Nachricht empfangen. So hatten sie dann geglaubt, ich sei auf irgendeine Weise verloren gegangen, vielleicht im letzten Gefecht, vielleicht bei einem Versuch, durch die preußischen Linien zu dringen. Als sie mich nun lebendig und in unzweifelhafter Gestalt vor sich sahen, war der Ausrufe des Erstaunens kein Ende.
Sogleich wurde für meine Einrichtung gesorgt. Ehe es Abend wurde, hatte ich schon ein kleines Schlafzimmer bei der Bäckerswitwe Landolt im Dorfe Enge, einer kleinen Vorstadt von Zürich, gemietet mit dem Recht, einen anstoßenden großen mit einem langen Tisch und [162] zwei Bänken möblierten Raum zu benutzen. Strodtmann nahm eine Stube im benachbarten Wirtshaus. Meine Freunde wohnten zusammen in der Nähe beim Schulmeister von Enge. Alles ließ sich gemütlich genug an. Solange Strodtmann bei mir war, bewegten sich meine Gedanken noch meist in den alten Verhältnissen, und mein Aufenthalt in Zürich hätte als ein Abschnitt einer studentischen Vergnügungsreise gelten können. Aber nach etwa zehn Tagen kehrte der liebe gute Freund nach Bonn zurück, und nun begann für mich das Flüchtlingsleben in seiner wahren Gestalt. Ich war noch nicht zu dessen klarer Erkenntnis gekommen, als die Krankheit, die sich schon in Dornachbruck gemeldet hatte und dann durch die frohe, durch Strodtmanns Kommen hervorgebrachte Aufregung unterbrochen worden war, sich zu einem heftigen Fieber entwickelte, das mich ein paar Wochen im Bett hielt. Der Arzt von Enge, sowie die gute Witwe Landolt und ihre Tochter sorgten treulich für mich, und ich genas. Aber als ich wieder aufstand, fand ich mich in einer fremden Welt. Es kam mir zum Bewußtsein, daß ich absolut nichts zu tun hatte. Mein erster Impuls war, mir eine regelmäßige Beschäftigung zum Lebensunterhalt zu suchen. Ich überzeugte mich bald, daß für einen jungen Menschen meiner Art, der etwa Unterricht im Lateinischen, Griechischen und der Musik hätte geben können, bei einer Bevölkerung, welche die massenhaft eingeströmten Flüchtlinge keineswegs gern sah, an eine lohnende Erwerbstätigkeit nicht zu denken sein werden, wenigstens nicht auf einige Zeit hinaus. Die andern Flüchtlinge waren in derselben Lage, aber viele von ihnen blickten auf solche Bestrebungen, solange das mitgebrachte Geld nicht erschöpft war, mit einer gewissen vornehmen Geringschätzung herab. Es stand bei ihnen durchaus fest, daß in naher Zukunft in den politischen Verhältnissen des Vaterlandes ein neuer Umschwung eintreten müsse. Niemand übt die Kunst, sich selbst mit den windigsten Illusionen zu täuschen, so geschickt, geschäftsmäßig und unverdrossen aus wie der politische Flüchtling. In jeder Zeitung gelang es uns, Nachrichten zu finden, die auf den unvermeidlichen und baldigen Ausbruch einer neuen Revolution klar hindeuteten. Es war gewiß, daß wir bald triumphierend in das Vaterland zurückkehren und dann als die Vorkämpfer und Märtyrer unserer siegreichen Sache die Helden des Tages sein würden. Warum sollte man sich da Sorge um die Zukunft machen? Wichtiger schien es, für die kommende Aktion die Rollen zu verteilen. Mit tiefem Ernste erörterte man, wer bei der bevorstehenden Umwälzung Mitglied der provisorischen Regierung, Minister, militärischer Führer werden sollte, und wer nicht. Man saß über den Charakter, die Fähigkeiten und besonders die „revolutionäre Gesinnungstüchtigkeit“ aller, die dabei in Betracht kommen konnten, scharf zu Gericht, und wenige vergaßen dabei die Stellung, zu welcher sie sich selbst berechtigt hielten. Kurz, man disponierte über die zukünftige Herrlichkeit, als hätte man das Heft der Macht tatsächlich in der Hand. Dieser Geist war wohl geeignet, die Entwicklung eines leichtsinnigen Wirtshauslebens zu fördern, dem sich viele unserer Schicksalsgenossen denn auch nach Kräften hingaben. Ich hörte nicht selten Flüchtlinge mit einer Art vornehmen Hochgefühls sagen, daß das Vaterland auf uns als die Helfer und [163] Führer blicke; daß wir unser Leben dieser hohen Pflicht ungeteilt widmen müßten, und daß wir daher unsere Zeit und Kräfte nicht mit alltäglichen, spießbürgerlichen Beschäftigungen zersplittern und vergeuden dürften. Zur Verhütung solches Zersplitterns war es denn am besten, sich mit Gleichgesinnten über die Interessen der Freiheit und des Vaterlandes zu besprechen und sich in dieser patriotischen Arbeit höchstens die Erholung einer Partie Domino oder Kegel oder eines Ausfluges nach einem nahen Vergnügungsorte zu gönnen.
Ich muß zugestehen, daß ich die Illusion über das Bevorstehen einer neuen revolutionären Erhebung treuherzig teilte. Aber das Wirtshaus hatte für mich nicht den geringsten Reiz, und bald fing das Flüchtlingsleben an, mich wie eine fürchterliche Öde anzustarren. Es befiel mich wie wahrer Hunger nach einer geregelten und nützlichen geistigen Arbeit. Zuerst schloß sich dieses Verlangen an die Aufgaben an, die ich als junger Mann in den vorausgesehenen neuen Kämpfen in Deutschland zu erfüllen haben würde. Mit meinen nächsten Freunden, die fast alle preußische Offiziere gewesen und vortreffliche Lehrer waren, ging ich die militärischen Operationen in Baden auf einer eigens dazu gezeichneten Karte kritisch durch. Daran knüpfte sich dann eine Reihe von militärischen Studien, taktischen und strategischen Charakters, zu denen mir meine Freunde das Material und die nötige Unterweisung lieferten, und die ich mit großem Eifer betrieb. Ich ahnte damals nicht, daß die so gesammelten Kenntnisse mir dereinst auf einem von Deutschland sehr entfernten Operationsfelde zugute kommen könnten und daß einer meiner Lehrer, Schimmelpfennig, einmal als Brigadekommandeur unter meinen Befehlen stehen würde.
Aber diese Arbeit tat mir nicht Genüge. Meine alte Liebe zu historischen Studien war ungeschwächt, und da es mir gelang, zu einer ziemlich wohlausgestatteten Bibliothek Zutritt zu erhalten, in der ich Rankes Werke und manche andere Bücher von Wert fand, so war ich bald wieder in die Geschichte der Reformationszeit vertieft. Als der Winter kam, wurde meine von der guten Witwe Landolt gemietete Stube mangelhafter Heizung wegen unbehaglich. Ich bezog also mit einem pfälzischen Revolutionsgenossen, einem alten Oberförster namens Emmermann, ein bequemes Quartier in der Wohnung eines Kaufmanns namens Dolder, im dritten Stock eines ansehnlichen Hauses am Schanzengraben. Mein Stubenkamerad Emmermann war ein Fünfziger und hatte das typische alte Oberförstergesicht jener Zeit – wettergebräunt, von scharfen Augen beleuchtet, von einem Netz tiefer Furchen und Fältchen durchzogen, und mit einem riesenhaften, ins Graue spielenden Schnurrbart geschmückt. Er war ein alter Jungeselle, eine gute, liebenswürdige, menschenfreundliche Seele, und wir lebten in heiterem Frieden und ungetrübter Freundschaft zusammen. Er erzählte mir oft, sein Forsthaus habe in der Nähe eines Ortes gelegen, der Tronegg geheißen und in grauer Vorzeit der Sitz des finstern Helden des Nibelungenliedes, Hagen von Tronje, gewesen sei. Etwa zwanzig Jahre später starb mein Freund Emmermann als Forstbeamter des Herrn von Planta in Graubünden, in dessen Dienste er getreten war, als die neue Revolution in Deutschland immer nicht kommen wollte.
[164] Unser Hausherr, der Kaufmann Dolder, an dessen Tisch wir auch unsere Mahlzeiten nahmen, war ein Mann von der durchschnittlichen schweizerischen Bildung, die bei dem vortrefflichen Unterrichtswesen im Kanton Zürich eben nicht niedrig steht. Er nahm an allen Zeitereignissen ein lebhaftes und intelligentes Interesse und war besonders stolz darauf, im Sonderbundskriege als Major im eidgenössischen Heer gedient zu haben. Seine einzige „Schlacht“ war allerdings nur ein kleines Gefecht bei Lunnern gewesen, aber obgleich man bei dieser Affäre auch nur wenige Schüsse gewechselt hatte, so erzählte er doch gern davon. Auch besaß er eine kleine Sammlung militärischer Bücher, die er mir bereitwillig zur Verfügung stellte; und wenn ich sonst wissenschaftliches Material bedurfte, so bemühte er sich eifrig, mir dazu zu verhelfen. Mit warmer Dankbarkeit gedenke ich auch seiner Gattin, einer Frau in mittleren Jahren, weder schön noch geistreich, aber in hohem Grade verständig und von einer edlen Mütterlichkeit des Wesens. Sie erinnerte mich nicht selten so lebhaft an meine eigene Mutter, daß es mir in ihrer Nähe fast heimatlich zumute wurde.
So lebte ich in angenehmen häuslichen Verhältnissen und setzte meine militärischen und geschichtlichen Studien emsig fort. Obgleich ich das Bierhausleben vermied, so schloß ich mich doch keineswegs von dem Verkehr mit den Flüchtlingen im größeren Kreise ab. Wir hatten einen politischen Klub, der sich wöchentlich versammelte und an dessen Verhandlungen ich regen Anteil nahm. Dieser unterhielt eine Korrespondenz mit gewissen Gesinnungsgenossen im Vaterlande, unterrichtete sich über die Volksstimmung und alles, was als Vorzeichen der kommenden neuen Revolution gelten konnte, und suchte hier und da nachzuhelfen, – eine Tätigkeit, von der ich erst später einsehen lernte, wie illusorisch sie war. In der Tat kam mir schon damals der Gedanke, die Revolution möchte etwas länger, als wir geglaubt, auf sich warten lassen, und ich fing an, für mich selbst Zukunftspläne zu machen. Es ging das Gerücht, daß die schweizerische Bundesregierung beabsichtige, in Zürich eine große eidgenössische Universität zu errichten. An dieser Universität dachte ich im Laufe der Zeit, wenn die neue deutsche Revolution gar zu lange auf sich warten lassen sollte, mich als Privatdozent der Geschichte etablieren und mir dann nach und nach eine Professur erobern zu können. Vorläufig engagierte ich mich, der von meinem Freunde Dr. Hermann Becker, dem „roten Becker“, redigierten Zeitung in Köln Korrespondenzen und Artikel gegen Honorar zu liefern und mich so bei meinen äußerst bescheidenen Bedürfnissen bis zur Erlangung eines festen Erwerbes über Wasser zu halten. So glaubte ich denn, im Nebel der Zukunft einige Lichtblicke zu sehen.
Meine merkwürdigste Bekanntschaft in jenen Tagen war die von Richard Wagner, der infolge seiner Beteiligung an den revolutionären Ereignissen in Dresden auch in Zürich als Flüchtling lebte. Er hatte schon einige seiner bedeutendsten Werke geschaffen, aber seine Größe war nur in einem engen Kreise erkannt worden. Unter seinen damaligen Schicksalsgenossen war er keineswegs beliebt. Er galt als ein äußerst anmaßender, herrischer Geselle, mit dem niemand umgehen könne, und der seine Gattin, eine recht stattliche, gutmütige, aber geistig nicht hervorragend [165] begabte Frau, sehr schnöde behandelte. Wer uns damals seine großartige Laufbahn prophezeit hätte, würde wenig Glauben gefunden haben. Ich, ein unbedeutender und schüchterner junger Mensch, kam ihm natürlich auch nicht nahe. Obgleich ich mehrmals mit ihm zusammengetroffen bin und mit ihm gesprochen habe, hat er mich schwerlich jemals hinreichend bemerkt, um sich später meiner zu erinnern.
Es würde mir wahrscheinlich im Laufe der Zeit gelungen sein, mir, wenn auch nicht an der großen eidgenössischen Universität in Zürich, deren Einrichtung wohl nicht ernstlich beabsichtigt wurde, aber doch an irgendeiner andern Anstalt eine Lehrstelle zu gewinnen, wäre nicht die stille Geschäftigkeit meiner Existenz von einem Ereignis unterbrochen worden, das meinen Lebenslauf in eine andere Richtung zu drängen bestimmt war. Das unglückliche Schicksal meines Freundes Kinkel erregte mein Mitgefühl in so hohem Grade, daß ich einem Ruf um Hilfe, der an mich erging, nicht widerstehen konnte. Kinkel war, wie schon erwähnt, unmittelbar vor der Einschließung von Rastatt in einem Gefechte am Kopf verwundet und von den Preußen ergriffen worden. Man brachte ihn zuerst nach Karlsruhe und dann, nachdem durch die Übergabe von Rastatt der Aufstand sein Ende erreicht hatte, in diese Festung, wo er mit den übrigen gefangenen Notabilitäten der pfälzisch-badischen Erhebung kriegsgerichtlich abgeurteilt werden sollte. Am 4. August erschien Kinkel vor dem Kriegsgericht, das aus preußischen Offizieren bestand. Todesurteile waren damals an der Tagesordnung, und es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß vom Armeekommando sowohl wie von der preußischen Regierung Kinkels Verurteilung zum Tode gewünscht und erwartet wurde. Aber Kinkel führte seine Verteidigung zum Teil selbst, und dem Zauber seiner wunderbaren Beredsamkeit konnten sich auch die an den blutigen Geist des Kriegsrechts und den strengsten Glauben an die absolute Königsgewalt gewöhnten Offiziere, die seine Richter waren, nicht entziehen. Anstatt zum Tode verurteilten sie ihn zu lebenslänglicher Festungshaft.
Den Freunden Kinkels, den Verehrern des Dichters, ja, ich darf sagen einer großen Mehrheit des deutschen Volkes erschien dieser Urteilsspruch immer noch grausam genug. Aber die preußische Regierung gab sofort ihre Unzufriedenheit mit diesem Spruche zu erkennen, weil er zu milde sei. Es kam ein Gerücht in Umlauf, daß das Erkenntnis vorgekommener Formfehler wegen beiseite gesetzt, und daß Kinkel vor ein neues Kriegsgericht gestellt werden solle. Wochenlang hatte der Arme mit Bangen und Hoffen auf die Bestätigung oder Verwerfung des Urteils zu warten, bis endlich am 30. September folgende Bekanntmachung erschien:
„Warnung. Der ehemalige Professor und Wehrmann in den Freischaren, Johann Gottfried Kinkel aus Bonn, wurde, weil er unter den badischen Insurgenten mit den Waffen in der Hand gegen preußische Truppen gefochten, durch das zu Rastatt angeordnete Kriegsgericht zu dem Verlust der preußischen Nationalkokarde und, statt zur Todesstrafe, nur zu lebenslänglicher Festungsstrafe verurteilt. Zur Prüfung der Gesetzlichkeit wurde dies Urteil von mir dem königlichen Generalauditoriate, und von demselben als ungesetzlich Sr. Majestät dem König [166] zur Aufhebung überreicht. Allerhöchstdieselben haben jedoch aus Gnaden die Bestätigung des Erkenntnisses mit der Maßgabe zu befehlen geruht, daß der p. Kinkel die Festungsstrafe in einer Zivilanstalt verbüße. Diesem allerhöchsten Befehl gemäß ist von mir das kriegsgerichtliche Erkenntnis dahin bestätigt, daß der p. Kinkel wegen Kriegsverrats mit dem Verlust der preußischen Nationalkokarde und einer zu verbüßenden Festungsstrafe zu bestrafen, und zum Vollzug des Erkenntnisses die Abführung des Verurteilten nach dem Zuchthause angeordnet worden, was hiermit zur öffentlichen Kenntnis gebracht wird.
Dieses unerhörte Verfahren rief selbst bei vielen von denen, die Kinkels politische Meinungen nicht teilten und seine Handlungen mißbilligten, die tiefste Entrüstung hervor. Das in aller Form gefällte Erkenntnis eines Kriegsgerichts wurde ungesetzlich genannt, nur weil es nicht auf den Tod lautete. Es wurde ein Akt der Gnade genannt, daß der König, das als „ungesetzlich“ erkannte Urteil des Kriegsgerichts dennoch annehmend, die Festungsstrafe in Zuchthausstrafe verwandelte. Was war Festungsstrafe? Einsperrung in eine Festung unter militärischer Bewachung, bei welcher der Gefangene immerhin die Zeichen seiner bürgerlichen Identität, seinen Namen, seine Kleider, seinen Charakter als Mann behielt, eine dieses Charakters nicht unwürdige Behandlung seitens seiner Wächter empfing, ja wo ihm nicht selten seine gewohnten geistigen Beschäftigungen verblieben, – eine Haft, aber keine Beschimpfung, keine Marter. Und was war Zuchthausstrafe? Einsperrung in eine Strafanstalt der gemeinen Verbrecher, wo der Gefangene mit dem Diebe, dem Fälscher, dem Raubmörder gleichgestellt, wo sein Haupthaar geschoren, seine bürgerliche Kleidung mit der Zuchthausjacke vertauscht wurde, – wo er seinen Namen verlor und statt dessen eine bloße Nummer empfing, wo er im Falle eines Disziplinarfehlers mit Stockschlägen gezüchtigt werden durfte, wo er sein ganzes geistiges Leben aufzugeben hatte, um dafür geisttötende Zwangsarbeit zu verrichten. Nicht etwa von einem Todesurteil, denn ein solches war nicht gefällt, – sondern von jener Festungshaft zu dieser Zuchthausstrafe wurde Kinkel „begnadigt“, – er, der Kunstgelehrte, der so manchem jungen Geiste das Reich des Schönen aufgeschlossen, der Dichter, der so manches deutsche Herz erfreut und erhoben, der liebenswürdige, weichmütige, lebensfrohe Mensch, den nur seine Begeisterung für Freiheit und Vaterland und sein warmes Gefühl für das aufstrebende Volk zu dem geführt hatte, was man als sein Verbrechen ansehen mochte. Selbst wenn er nach dem Kampfe, den er verloren, dem Gesetze nach einer Strafe verfallen war, so empörte sich doch der gesunde Sinn selbst vieler Andersdenkenden gegen die grausame Willkür, die ihn über den Wahrspruch des Kriegsgerichts hinaus nicht allein bestrafen, sondern beschimpfen und unter den Auswurf der Menschheit verweisen wollte. Selbst der Tod, der ihm doch seine Manneswürde [167] gelassen hätte, würde weniger grausam erschienen sein, als solche „Gnade“.
Kinkel wurde nun zuerst in das badische Gefängnis in Bruchsal gebracht, um bald darauf in das Zuchthaus zu Naugard in Pommern übergeführt zu werden. Man wollte ihn offenbar vom Rheinlande, dem Herde der Sympathie für ihn, möglichst weit entfernen. Geschorenen Hauptes, in graue Züchtlingsjacke gekleidet, hatte er seine Tage mit Wollespulen zu verbringen. An den Sonntagen mußte er seine Zelle scheuern. Von aller geistigen Tätigkeit wurde er so viel wie möglich abgeschnitten. Seine Nahrung war diejenige der im Zuchthause eingesperrten Verbrecher. Vom Tage seiner Ankunft in Naugard, dem 8. Oktober 1849, bis zum April 1850 erhielt er nur ein Pfund Fleisch. Doch scheint er das Herz des Direktors des Zuchthauses bald gewonnen zu haben, denn seine Behandlung nahm nach und nach einen etwas rücksichtsvolleren Charakter an; und es wurden ihm kleine Vergünstigungen gewährt. Man gestattete ihm eine etwas häufigere Korrespondenz mit seiner Gattin, – wobei freilich alle Briefe immer offen durch die Hände des Direktors gingen; er wurde von dem sonntäglichen Scheuern seiner Zelle dispensiert; ein kleines Geschenk von Zuckerwerk, welches seine Familie ihm zu Weihnachten schickte, wurde ihm überliefert. Aber Wolle spulen mußte er noch immer, und als unser guter Strodtmann, damals noch Student in Bonn, durch ein Gedicht: „Das Lied vom Spulen“, für Kinkel an das Volksherz appellierte, wurde der junge Dichter sofort von der Universität ausgestoßen.
Unterdessen gingen in Köln die Vorbereitungen für die Prozessierung derjenigen vor sich, die im Mai 1849 sich an dem Zuge von Bonn nach Siegburg beteiligt hatten, und im Anfang des Jahres 1850 verbreitete sich das Gerücht, daß die Regierung beabsichtige, im Frühling Kinkel von Naugard nach Köln zu bringen, um auch ihn wegen der Siegburger Sache vor Gericht zu stellen und weiter bestrafen zu lassen.
Es war im Februar 1850, daß ich einen Brief von Frau Kinkel empfing. In brennenden Farben schilderte sie mir die entsetzliche Lage ihres Mannes und den Jammer der Familie. Aber die geistvolle und energische Frau sprach keineswegs zu mir in dem Tone jener ohnmächtigen Verzweiflung, die nur die Hände ringt und sich dem übermächtigen Schicksal schwachmütig unterwirft. Der Gedanke, daß es möglich sein müsse, Mittel und Wege zur Befreiung ihres Mannes zu finden, beschäftigte sie Tag und Nacht. Schon seit Monaten hatte sie mit Freunden korrespondiert, in deren Gesinnung sie Vertrauen setzte, und deren Tatkraft sie anzuregen hoffte. Einige hatten auch Befreiungspläne mit ihr beraten, andere ihr Summen Geldes zur Verfügung gestellt. Aber, schrieb sie mir, niemand habe sich bereit gezeigt, selbst das Wagestück zu unternehmen. Was not tue, sei ein Freund, der Mut, Ausdauer und Geschick habe, und der seine ganze Kraft dem Befreiungswerk widmen wolle, bis es gelungen sei. Sei selbst würde den Versuch machen, müßte sie nicht fürchten durch ihr Erscheinen in der Nähe ihres Mannes sofort Verdacht zu erregen und die ihn umgebende Wachsamkeit noch zu verschlimmern. Aber es müsse schnell gehandelt werden, ehe die nagende Qual des Gefängnislebens Kinkels geistige und körperliche [168] Kraft völlig zerstört hätte. Dann teilte sie mir mit, daß Kinkel, dem Gerücht gemäß, im April wegen der Siegburger Affäre in Köln vor das Geschworenengericht gestellt werden solle, und daß sich dann vielleicht günstige Gelegenheit für einen Befreiungsversuch bieten möchte. Sie bat mich nun um meinen Rat, da sie sowohl meiner Freundschaft wie meinem Urteil vertraue.
Die Nacht nach der Ankunft dieses Briefes lag ich lange wach. Zwischen den Zeilen hatte ich darin die Frage gelesen, ob ich nicht selbst das Wagnis unternehmen wolle. Diese Frage ließ mich nicht schlafen. Ich sah Kinkel in seiner Züchtlingsjacke am Spulrade beständig vor mir, und ich konnte den Anblick kaum ertragen. Als Freund war ich ihm von Herzen zugetan. Auch glaubte ich, daß er berufen sein möchte, mit seinen Geistesgaben, seinem Enthusiasmus und seiner seltenen Beredsamkeit der Sache des Vaterlandes und der Freiheit noch große Dienste zu leisten. Der Wunsch, ihn, wenn ich könnte, Deutschland und seiner Familie wiederzugeben, wurde mir unwiderstehlich. Ich entschloß mich, es zu versuchen, und beruhigt von diesem Entschluß schlief ich ein.
Am nächsten Morgen fing ich an, mir die Sache im einzelnen zu überlegen. Ich erinnere mich jenes Morgens noch sehr klar. Zwei Bedenken beschäftigten mich ernstlich. Das eine war, ob ich fähig sei, ein so schwieriges Unternehmen zu glücklichem Ende zu führen. Ich sagte mir, Frau Kinkel, die doch am meisten zu gewinnen und zu verlieren habe, schiene mich doch für fähig zu halten, und dann gezieme es sich mir nicht, ihrem Vertrauen gegenüber meine Fähigkeit in Zweifel zu stellen. Würden aber diejenigen, deren Mitwirkung bei einem so gefährlichen Streich gewonnen werden müßte, einem so blutjungen Menschen, wie ich war, dasselbe Vertrauen entgegenbringen? Ich konnte es mir vielleicht durch festes und besonnenes Auftreten erwerben. Auch sagte ich mir, daß ich als junger, unbedeutender und wenig gekannter Mensch weit eher unbemerkt bleiben würde als ein älterer und mehr bekannter Mann, und daß ich mich daher mit geringerer Gefahr in den Rachen des Löwen wagen könne. Und schließlich, – würden ältere, erfahrene, an genaues Abwägen der Chancen gewöhnte Männer sich überhaupt willig finden, alles das zu tun, was die Lösung der Aufgabe erfordern möchte? Vielleicht nicht. Kurz, dies war, alles bedacht, ein Stück Arbeit für einen jungen Menschen, und meine Jugend erschien mir zuletzt eher im Lichte eines Vorzuges als eines Nachteils.
Mein zweites Bedenken betraf meine Eltern. Konnte ich es ihnen gegenüber verantworten, nachdem ich soeben einem furchtbaren Schicksal entgangen war, Leben und Freiheit nochmals aufs Spiel zu setzen? Würden sie es billigen? Eines war mir klar: ich durfte meine Eltern in diesem Falle nicht um ihre Einwilligung fragen, denn ich hätte dann mit ihnen über mein Vorhaben korrespondieren müssen, und eine solche allen möglichen Zufällen unterworfene Korrespondenz hätte leicht zur Entdeckung und gänzlichen Vereitelung des Planes führen können. Nein, sollte das Unternehmen gelingen, so mußte es ein tiefes Geheimnis bleiben, von dem nur die Mitwirkenden wissen durften, und auch diese womöglich nur teilweise. Selbst den Meinigen durfte ich es nicht einmal [169] mündlich anvertrauen, denn ein Gespräch unter ihnen, zufällig von Unberufenen gehört, könnte es verraten. Ich mußte mir also die Frage der Einwilligung meiner Eltern selbst beantworten, und ich beantwortete sie schnell. Sie waren warme Bewunderer Kinkels und ihm in herzlicher Freundschaft ergeben. Sie waren gute Patrioten. Meine Mutter, so dachte ich, die mir im vorigen Jahre, als ich auszog, selbst meinen Säbel gereicht, würde mir sagen: „Geh und rette Deinen Freund.“ Somit waren alle Bedenken überwunden.
An demselben Tage schrieb ich an Frau Johanna, sie würde meiner Meinung nach wahrscheinlich das Los ihres Mannes nur erschweren, wenn sie einen Befreiungsversuch in Köln bei Gelegenheit des Siegburger Prozesses erlaubte, weil die Behörden dann unzweifelhaft darauf bedacht sein würden, die umfassendsten Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Sie solle ihre Mittel zusammenhalten und, ohne an baldige Unternehmungen zu denken, geduldig und schweigend warten, bis sie wieder von ihrem Freunde höre. Mein Brief war so abgefaßt, daß sie ihn verstehen konnte, während er meine Absicht nicht verraten haben würde, wäre er in falsche Hände gefallen. Da sie auch meine Handschrift kannte, so unterschrieb ich ihn mit einem andern Namen und dirigierte die Aufschrift an eine dritte Person, welche sie mir angegeben hatte. Ich faßte sogleich den Plan, sie persönlich in Bonn aufzusuchen und dort mit ihr mündlich das weitere zu verabreden, statt es dem Papier anzuvertrauen.
Ohne Aufschub begann ich meine Vorbereitungen. Ich schrieb meinem Vetter Heribert Jüssen in Lind bei Köln, dessen Signalement in allen wesentlichen Punkten mit dem meinigen übereinstimmte, er solle sich von der Polizeibehörde einen Reisepaß für das In- und Ausland geben lassen und ihn mir schicken. Wenige Tage darauf war der Paß in meinen Händen, und ich konnte nun wie ein gewöhnliches unverdächtiges Menschenkind ohne Schwierigkeit reisen, wo man mich nicht persönlich kannte. Nun galt es, für mein Vorhaben aus meiner Verbindung mit der Flüchtlingschaft möglichst viel Vorteil zu ziehen, ohne meine Freunde auf die Fährte meines Planes zu bringen. So gab ich denn dem Vorstande unseres Klubs zu verstehen, ich sei bereit, als Emissär verschiedene Plätze in Deutschland zu besuchen, um dort geheime Zweigklubs zu organisieren und diese mit dem Komitee in der Schweiz in Verbindung zu setzen. Diese Andeutung wurde mit großem Vergnügen aufgenommen, und ich empfing mit ausführlichen Instruktionen eine lange Liste von zuverlässigen Personen in Deutschland. Nun war alles für meine Abreise bereit, und da ich als Emissär auf eine geheime Expedition auszog, so fanden meine Freunde es natürlich, daß ich gegen Mitte März plötzlich ohne Abschied aus Zürich verschwand.
[170]
Achtes Kapitel.
Auf dem Wege zu Kinkels Befreiung.
Es ist später erzählt worden, ich habe damals Deutschland in einer mich unkenntlich machenden Verkleidung durchreist. Dies war keineswegs der Fall. Ich suchte und fand meine Sicherheit darin, daß ich in der Gestalt erschien, die mir natürlich war, und daß ich mich in Gesellschaft anderer Menschen möglichst unbefangen bewegen konnte. Freilich zeigte ich mich nicht mehr als nötig war, und vermied es, die Aufmerksamkeit anderer auf mich zu ziehen. So durchfuhr ich von Basel aus das Großherzogtum Baden an Rastatt vorbei, dessen Schloßturm, auf dem ich so manche Stunde verbracht, ich von dem Fenster meines Eisenbahnwagens sehen konnte. Meine erste Reisestation war Frankfurt, wo mehrere der von dem Vorstand unseres Klubs in Zürich bezeichneten Vertrauenspersonen wohnten. Diese besuchte ich, ließ mir von ihnen Aufschluß über den Stand der Dinge in diesem Teile von Deutschland geben und berichtete das Gehörte meinen Auftraggebern in der Schweiz. Überhaupt führte ich die mir von diesen gegebenen Instruktionen getreulich aus, und es gelang mir, den Eindruck in bezug auf den Zweck meiner Reise, den ich in Zürich zurückgelassen, so vollständig aufrecht zu erhalten. So besuchte ich denn eine Reihe von Städten, Wiesbaden, Kreuznach, Birkenfeld, Trier, wo ich Gesinnungsgenossen fand und neue Verbindungen anknüpfte. Überall gab es noch Leute, die hofften, durch Geheimbünde eine neue revolutionäre Umwälzung herbeiführen zu können. Es ist dies eine gewöhnliche Nachwehe fehlgeschlagener Volkserhebungen. Ich reiste die Mosel hinunter nach Koblenz, wo ich mich des Tages über still hielt, um von dort die Nachtpostkutsche nach Bonn zu nehmen. Alles dies gelang mir, ohne daß ich durch ein zufälliges Zusammentreffen mit andersgesinnten Bekannten in Gefahr gekommen wäre. Wie ich mich meiner Heimat näherte, fing meine Fahrt jedoch an, bedenklicher zu werden. Gegen zwei Uhr morgens kam ich in Godesberg an, wo ich die Postkutsche verließ. Dann machte ich den Rest des Weges nach Bonn zu Fuß. Wie schon erwähnt, lag das Haus meiner Eltern außerhalb der Stadt auf der Koblenzer Straße. Ich erreichte es gegen drei Uhr morgens. Zufällig besaß ich den Hausschlüssel noch, den ich als Student gebraucht hatte, und der eine Hintertür öffnete. So gelangte ich in das Haus und stand plötzlich in dem Schlafzimmer meiner Eltern. Sie schliefen beide tief. Nachdem ich eine Weile still auf einem Stuhl gesessen, und als schon das Frühlicht durch das Fenster dämmerte, weckte ich sie. Ihr Erstaunen, mich zu sehen, war unbeschreiblich. Einige Augenblicke konnten sie sich nur schwer überzeugen, daß ich es auch wirklich sei. Dann ging ihre Überraschung in die lebhafteste Freude über. Meine Mutter fand, daß ich zwar etwas ermüdet, aber sonst doch vortrefflich aussah, und wollte sogleich für ein Frühstück sorgen. Nachdem ich über mein Kommen die notdürftigste Auskunft gegeben, wollte mein Vater, der unmäßig stolz [171] auf mich war, von mir wissen, wen ich denn im Laufe des Tages sehen möchte. Ich hatte Mühe, ihn zu überzeugen, daß vor allem meine Gegenwart mit der größten Sorgfalt geheim gehalten werden müsse, und daß ich daher mit niemandem als den allervertrautesten und zuverlässigsten Personen in Berührung kommen dürfe.
Glücklicherweise traf es sich, daß Frau Johanna Kinkel an demselben Morgen, wie sie das oft zu tun pflegte, meine Eltern besuchte, und ich konnte mit ihr ein Gespräch unter vier Augen haben. Ich sagte ihr, daß ich bereit sei, mich der Befreiung Kinkels zu widmen, wenn sie das Unternehmen ganz in meine Hände legen, sich niemandem anders darüber anvertrauen, niemandem meinen Namen nennen und von mir nicht mehr Berichte über den Fortgang des Unternehmens verlangen wolle, als ich ihr freiwillig geben werde. Mit rührender Begeisterung dankte sie mir für meine Freundschaft und versprach alles. Nachdem wir uns darüber verständigt, was vorläufig zu tun und zu unterlassen sei, gab ich ihr das in Zürich von mir erfundene Rezept einer „Zaubertinte“, mit welcher wir die Korrespondenz, die zwischen uns nötig sein möchte, führen konnten. Es war eine chemische Lösung, mit der man ein Blatt Papier beschrieb, ohne daß die Schrift sichtbar wurde. Dann wurde ein Brief, unverfängliche Dinge enthaltend, mit gewöhnlicher Tinte darüber geschrieben. Der Empfänger trug dann mit einem Pinsel oder Schwamm eine andere chemische Lösung auf das Papier, die das mit gewöhnlicher Tinte Geschriebene verschwinden machte. Darauf wurde das Blatt am Ofen oder einer Lampe erwärmt, worauf die mit der „Zaubertinte“ geschriebene Mitteilung leserlich erschien. Kinkels ältester Sohn, Gottfried, damals ein kleiner Knabe, erzählte später, daß er gesehen, wie seine Mutter dann und wann Blätter Papier gewaschen und am Ofen oder über dem Lampenschirm getrocknet habe. Das waren meine Briefe.
Nachdem ich Frau Johanna gesehen, war mein wichtigstes Geschäft in Bonn beendigt, und ich konnte mich einige Tage oder so lange, als ich hoffen durfte, unentdeckt zu bleiben, der Freude des Zusammenseins mit den Meinigen hingeben. Einige meiner vertrautesten Freunde unter den Studenten sah ich in der Wohnung eines von ihnen und traf dort auch einen jungen Mediziner, Abraham Jacobi, einen eifrigen Gesinnungsgenossen, der sich in Amerika im späteren Leben einen so bedeutenden Namen als Arzt und medizinischer Schriftsteller gewann, daß ihm, obgleich er politisch geächtet gewesen, die seltene Ehre eines Rufes an die Berliner Universität zuteil wurde. Seine Freundschaft habe ich bis zu dem Augenblicke, da ich dieses schreibe, beständig genossen und immer höher schätzen lernen. In der Dunkelheit der Nacht ging ich auch ein paarmal aus, um meine gewohnten Wege noch einmal zu betreten; und auf einer solchen nächtlichen Gespensterfahrt konnte ich es nicht unterlassen, auch an Bettys Fenster vorüberzuwandern, um vielleicht einen Lichtschein zu erhaschen, der durch die Läden fallen möchte. Es war jedoch alles dunkel. Am nächsten Morgen aber empfing ich mehr als einen nächtlichen Lichtschein. Einer meiner besten Freunde, der auch Betty kannte, kam zum Hause meiner Eltern und brachte mir einen Blumenstrauß. „Diesen Strauß“, sagte er, „schickt Dir ein Mädchen, [172] dem ich mit voller Sicherheit sagen durfte, daß Du hier seiest.“ Ich wurde über und über rot, als ich die Blumen annahm und meinen Dank aussprach. Weitere Fragen scheute ich mich zu stellen; ich zweifelte nicht, wer die Geberin war.
Nach wenigen Tagen waren so viele Freunde von meiner Anwesenheit unterrichtet worden, und die Gefahr, durch eine zufällige Unterhaltung zwischen ihnen verraten zu werden, trat mir so nahe, daß ich es für nötig hielt, von Bonn zu verschwinden. Auf meinen Wunsch kam mein Vetter Heribert Jüssen, derselbe, dessen Paß und Namen ich führte, mit seinem Fuhrwerk nach Bonn herüber, um mich während der Nacht nach Köln zu bringen. Der Abschied von meinen Eltern und Geschwistern war hart, aber sie sahen mich doch guten Mutes von dannen ziehen. Ich ließ sie wie meine Freunde in der Schweiz, in dem Glauben, daß ich ausschließlich im Auftrage des Züricher Komitees in Deutschland sei. Doch hatten wir oft über Kinkels entsetzliches Schicksal gesprochen, und meine Eltern hatten wiederholt und nachdrücklich den Wunsch geäußert, es möge sich doch jemand dazu finden, einen Rettungsversuch zu unternehmen. Obgleich sie dabei wahrscheinlich nicht an mich dachten, so hielt ich mich doch überzeugt, daß sie meinen Entschluß billigen würden. Aber wie gern ich es auch getan hätte, ich teilte ihnen nichts davon mit, da ich das tiefste Geheimnis für eine Bedingung des Gelingens ansah. So wußte denn, als ich Bonn verließ, niemand von meinem Vorsatz als Frau Johanna Kinkel selbst.
In Köln wurde ich im obersten Stock einer Restauration, die von einem eifrigen Demokraten geführt wurde, bequem und sicher einquartiert. Mein Freund, „der rote Becker“, Redakteur der demokratischen Zeitung, war dort mein besonderer Beschützer und Vertrauter. Ich hatte ihn auf der Universität kennen lernen. Er war zwar nicht mehr Student; seine juristischen Examina hatte er längst hinter sich, aber er liebte es noch immer, als „bemoostes Haupt“, oder als angehender „alter Herr“, mit seiner ehemaligen Burschenschaft, der Alemannia, in studentischer Weise zu verkehren. Und niemand besaß einen lustigeren Humor und eine unverwüstlichere Ausdauer beim Gelage. Jeder kannte und liebte ihn. Seinen Spitznamen „der rote Becker“ hatte er der Eigentümlichkeit seiner Erscheinung zu verdanken. Er hatte dünnes goldrotes Haar und einen dünnen goldroten Vollbart. Dazu waren seine Augenlider chronisch entzündet, so daß die Augen rot eingefaßt schienen. Nicht allein seine liebenswürdige Gemütsart und sein sprudelnder Witz, sondern auch sein scharfer, kritischer Geist und seine umfassenden Kenntnisse machten ihn zu einem höchst angenehmen und sehr gesuchten Gesellschafter. Doch würde man damals schwerlich vorausgesetzt haben, daß dieser lustige Kumpan, dem ein wochenlanges „Bummeln“ mit seiner alten Burschenschaft noch so große Befriedigung gewährte, während er schon in verhältnismäßig jungen Jahren die Seltsamkeiten eines unverbesserlichen alten Junggesellen in hoher Entwicklung zeigte, sich einst als Verwaltungsbeamter auszeichnen und als Oberbürgermeister der Stadt Köln und Mitglied des preußischen Herrenhauses sterben werde.
Mich hatte politische Gesinnungsgenossenschaft mit ihm zusammengeführt und eng verbunden. Er war zurzeit nicht allein Redakteur des [173] demokratischen Blattes, sondern auch Führer des demokratischen Vereins in Köln, und ich konnte mit Sicherheit darauf rechnen, daß, wenn irgend eine Absicht gehegt würde, Kinkel während des Siegburger Prozesses zu befreien, er gewiß davon unterrichtet sei. Becker erzählte mir denn auch mit der größten Offenherzigkeit, was man alles darüber geredet und geplant habe, und daß alle Welt davon spreche, „etwas müsse getan werden“. Es war mir klar, daß, da alle Welt davon sprach, ein solcher Versuch unmöglich gelingen könne, und ich freute mich zu hören, daß Becker diese Überzeugung entschieden teilte. Ich war also darüber beruhigt, daß man in Köln nichts tun werde, das geeignet war, spätere Versuche zu erschweren.
Bald wurde das Geheimnis meiner Anwesenheit von meinen nächsten Freunden mit echt kölnischer Gemütlichkeit so vielen anderen mitgeteilt, und man wollte mich so oft zum Besuch öffentlicher Vergnügungsorte am hellen Tage bereden, daß ich glaubte, das Weite suchen zu müssen. So reiste ich denn mit einem Nachtzuge über Aachen nach Brüssel und von dort nach Paris. Meine Absichten in bezug auf Kinkel hatte ich auch in Köln niemandem anvertraut. Becker wußte nicht besser, als daß ich nach Paris gereist sei, um mit den dort lebenden deutschen Flüchtlingen Verbindungen anzuknüpfen, um über die dortige Situation für seine Zeitung Korrespondenzen zu schreiben, und vielleicht um geschichtlicher Studien halber längere Zeit in der französischen Hauptstadt zu verweilen. In der Tat war es mir hauptsächlich darum zu tun, an einem sichern Platz still zu sitzen, bis der Siegburger Prozeß in Köln mit seinen Aufregungen vorüber und Kinkel nach Naugard oder einer anderen Strafanstalt transportiert sein würde, so daß ich ihn an einem bestimmten Orte finden und dort die vielleicht langwierige Arbeit beginnen könnte.
Die Eindrücke, die ich am Tage meiner Ankunft in Paris empfing, werden mir immer gegenwärtig bleiben. Die neuere Geschichte Frankreichs mit ihren welterschütternden Revolutionen war mir geläufig. Ich hatte sie seit den Märztagen 1848 mit besonderem Interesse studiert, indem ich hoffte, dadurch das, was um mich her vorging, besser verstehen und beurteilen zu lernen. Und nun war ich auf dem Schauplatze ihrer großen revolutionären Aktionen angekommen, in denen die Elementarkräfte der Gesellschaft in wilder Entfesselung das Alte gestürzt und dem Neuen die Bahn geöffnet hatten. Die Nacht hatte ich, in einem gefüllten Bahncoupé sitzend, fast schlaflos zugebracht. Vom Bahnhofe ging ich in das nächste kleine Hotel, ließ mir ein Zimmer anweisen und streckte mich auf dem Bette aus, um die verlorene Nachtruhe nachzuholen. Aber der Gedanke, daß ich nun wirklich in Paris sei, ließ den Schlaf nicht kommen. Ich stand auf und wanderte, mit einem Stadtplan bewaffnet, hinaus. Mit Begierde las ich die Straßennamen an den Ecken. Da waren sie denn, diese Schlachtfelder der neuen Ära, die meine erregte Phantasie sofort mit den historischen Gestalten bevölkerte, – hier der Platz der Bastille, wo das Volk seinen ersten Sieg erfocht; da der Temple, wo die königliche Familie gefangen gewesen; da das Faubourg St. Antoine, welches an den Tagen großer Entscheidung die Massen der Blusenmänner auf den Kampfplatz geschickt; [174] da das Karree St. Martin, wo die ersten Barrikaden des Februar gestanden; da das Hotel de Ville, wo die Kommune gesessen und Robespierre mit blutendem Kopf auf einem Tisch gelegen; da das Palais Royal, wo Camille Desmoulins, auf einem Stuhl stehend, seine feurige Rede gehalten und ein grünes Blatt als Kokarde an seinen Hut gesteckt; da der Karusselplatz, wo an dem berühmten 10. August das Königtum Ludwigs XVI. fiel.
Mehrere Stunden war ich so wie in einem Traum befangen umhergewandert, als ich an einem Schaufenster eines Ladens zwei Männer miteinander deutsch sprechen hörte. Dies weckte mich aus meinen Phantasien auf, und es fiel mir ein, daß ich mich wohl nach den deutschen Flüchtlingen umsehen sollte, deren Adressen ich besaß. Ich redete also die deutsch sprechenden Männer an, indem ich sie fragte, wo eine gewisse Straße sei. Ich empfing höflichen Bescheid und befand mich bald in der Wohnung meines Freundes, den ich in der Pfalz kennen gelernt, – des sächsischen Flüchtlings von Zychlinski. Dieser besorgte mir ein möbliertes Zimmer in der Nähe der Kirche St. Eustache und unterwies mich schnell in der Kunst, in Paris für wenig Geld ziemlich gut zu leben.
Mein Aufenthalt in der französischen Hauptstadt dauerte etwa vier Wochen. Meine erste Sorge war, mich in der Landessprache zu üben. Ich hatte nämlich in Brüssel schon bemerkt, daß der französische Unterricht, den ich auf dem Gymnasium genossen, mich kaum in den Stand setzte, mir ein Frühstück zu bestellen. So fing ich denn sofort an, mit einem Wörterbuch in der Hand Zeitungen zu lesen, die Anzeigen einbegriffen, um dann jede Gelegenheit zu benützen, um im Gespräch mit dem Concierge meines Hauses, oder dem Kellner, der mich im Restaurant bediente, oder mit irgend jemandem, dessen ich habhaft werden konnte, die gewonnenen Worte und Redensarten zu verwerten. Schon nach wenigen Tagen fand ich, daß ich mir in alltäglichen Lebensangelegenheiten einigermaßen durchhelfen konnte. Doch werde ich auf meine Methode fremde Sprachen zu erlernen, später noch ausführlicher zurückkommen. Bedeutende Bekanntschaften machte ich damals in Paris nicht. Allerdings sah ich die leitenden Männer des gesetzgebenden Körpers, aber nur in der Entfernung von der Galerie aus. Mitflüchtlinge brachten mich mit einzelnen Franzosen zusammen, die durchweg der extremrevolutionären Richtung angehörten. Da vernahm ich denn wenig mehr als die landesüblichen Tiraden gegen Louis Napoleon, der damals noch Präsident der Republik war, aber deutliche Zeichen eines über diese Stellung hinausgehenden Ehrgeizes blicken ließ. In den Kreisen, in denen ich mich bewegte, stand es nun fest, daß diese napoleonische Wirtschaft unmöglich lange dauern könne, und daß die den Präsidenten stürzende neue Revolution sich unfehlbar wieder über den größten Teil von Europa verbreiten werde. Obgleich ich mir redliche Mühe gab, die Lage der Dinge in Frankreich richtig zu erkennen, und obgleich ich zu diesem Ende eifrig die Journale der Parteien las und auch meine Bekannten mit den eingehendsten Fragen auszuforschen suchte, so konnten sich doch meine Schlüsse nicht dem Einflusse meiner Wünsche und Illusionen entziehen, und es würde mir sehr unwillkommen sein, die Korrespondenzen, [175] die ich damals in gutem Glauben für Beckers Zeitung schrieb, jetzt im Lichte der geschichtlichen Ereignisse wieder lesen zu müssen. Die Irrtümer, die ich damals beging, und die ich weniger als zwei Jahre darauf einsehen lernte, sind mir eine unvergeßliche und heilsame Lehre gewesen.
Einen großen Teil meiner Zeit brachte ich damit zu, die in Paris aufgehäuften Kunstschätze zu sehen, die mir eine bis dahin ungeahnte Welt eröffneten.
Ich erinnere mich aus jener Zeit eines Vorfalles, der, wie an sich unbedeutend er auch war, mir doch später wieder häufig im Gedächtnis aufstieg und mich zum Nachdenken anregte. Ich pflegte mit Zychlinski und einigen anderen Deutschen nach Tisch in einem gewissen Café im Quartier Latin zusammenzukommen. Eines Abends suchte ich meine Freunde dort vergebens. Dies war mir um so verdrießlicher, als ich Zychlinski bitten wollte, mir aus einer augenblicklichen Verlegenheit zu helfen. Eine Geldanweisung von Becker für verdientes Honorar, die schon vor drei Tagen hätte ankommen sollen, war nämlich zu meiner Verwunderung ausgeblieben, und meine Barschaft bestand nur noch aus den wenigen Sous, die hinreichten, um für eine Tasse Kaffee zu bezahlen und dem Kellner das übliche Trinkgeld zu geben. Ich setzte mich nieder und ließ mir, wie gewöhnlich, eine Tasse Kaffee geben mit der zuversichtlichen Hoffnung, daß der eine oder andere meiner Freunde bald erscheinen werde. Ich trank meinen Kaffee möglichst langsam, aber als ich die Tasse geleert hatte, war noch keiner von den Erwarteten da. Ich warf meinen übriggebliebenen Zucker in ein Glas Wasser und bereitete mir so meine eau sucrée, wie das die ökonomischen Gäste in den Cafés des Quartier Latin nicht selten taten; ich las ein Journal nach dem andern, indem ich mein Zuckerwasser mit peinlicher Langsamkeit fast tropfenweise schlürfte, – noch immer niemand. Ich mochte wohl zwei Stunden da gesessen haben und es wurde spät. Die dame du comptoir, der man Zahlung zu leisten hatte, fing an zu gähnen und selbst Monsieur Louis, der Billardmarkör, der schon eine halbe Stunde unbeschäftigt gewesen, schien schläfrig zu werden. Ich sehe den flinken Monsieur Louis noch vor mir, wie er von Zeit zu Zeit die Bälle auf dem Billard mit den Fingern umherrollte und dann zu mir herüberblickte. Ich fühlte, als wäre die ganze Wirtschaft auf die lange Zeit, die ich bei meiner Tasse Kaffee verbracht, aufmerksam geworden. Das war mir höchst unangenehm, und ich beschloß, mit meinen letzten Sous zu zahlen und nach Hause zu gehen.
Aber als ich von meinem Stuhl aufstand, begegnete mir ein Unglück. Durch eine ungeschickte Bewegung stieß ich die Kaffeetasse von dem kleinen Tisch auf die Steinplatten des Fußbodens hinunter, und sie zerbrach. Natürlich dachte ich, ich müßte für die zerbrochene Tasse auch zahlen. Für den Kaffee, den ich getrunken, hatte ich Geld genug; für die zerbrochene Tasse aber nicht. Ich fing einen raschen Blick der dame du comptoir auf und einen von Monsieur Louis. Mir war, als bohrten beide in die Tiefe meines schuldigen Gewissens. Was tun? In diesem Augenblicke traten mehrere frische Gäste ein, französische Studenten, von denen zwei oder drei mit der dame du comptoir scherzhafte [176] Gespräche begannen. Konnte ich nun in diese Gruppe treten und in meinem holperigen Französisch der Dame das Geständnis meiner fatalen Lage machen? Würde ich mich nicht so dem Gespött und Gelächter der ganzen Gesellschaft aussetzen? In der Aufregung des Augenblicks faßte ich einen verwegenen Entschluß. Ich sagte mir selbst, daß ebenso wie andere Gäste auch einige meiner Freunde noch zu so später Stunde kommen könnten. Ich bestellte mir noch eine Tasse Kaffee, setzte mich nieder und nahm wieder ein Journal auf. Aber lesen konnte ich nicht mehr. Ich litt die Qualen des bösen Gewissens. Mit angstvoller Erwartung blickte ich Elender jeden Augenblick von der Zeitung auf nach der Türe. Lange wartete ich – aber nicht vergebens. Zychlinski kam wirklich noch. Eine Zentnerlast fiel von meiner Seele. Ich mußte an mich halten, um nicht einen Freudenschrei auszustoßen. Ich erzählte ihm meine Geschichte, und wir lachten herzlich darüber, aber es war mir doch nicht wohl dabei zumute. Zychlinski lieh mir Geld, so daß ich meine eigene Zeche bezahlen konnte. Als wir nun aufbrachen, und ich fragte die dame du comptoir, was die zerbrochene Tasse koste, erwiderte sie mit huldvoll herablassendem Lächeln, in diesem Café nehme man nie Bezahlung für zufällig zerbrochenes Geschirr. Meine Angst war also durchaus überflüssig gewesen. Und in meinem Quartier angelangt, fand ich einen Brief von Becker, welcher die so heißersehnte Anweisung auf einen Pariser Bankier enthielt.
Dieses kleine Abenteuer ist im späteren Leben noch oft in meiner Erinnerung aufgestiegen, und ich habe hin und wieder in mir die Frage erörtert, ob ich recht gehandelt habe, als ich mir die zweite Tasse Kaffee bestellte. Als Resultat dieser Überlegung möchte ich nun meinen Nachkommen, die diese Geschichte lesen, den ernstlichen Rat geben, unter ähnlichen Umständen nicht meinem Beispiel zu folgen und nie auf die Chance des Zufalls hin der alten Schuld eine neue unnötige ohne Zahlungsfähigkeit der alten hinzuzufügen. Es war eben ein Fall falscher Scham, – jener falschen Scham, die schon so manchen sonst gut angelegten und ursprünglich ehrlichen Menschen auf die abschüssigsten Bahnen des Unheils gedrängt hat. Mancher ist zum Lügner, zum Meineidigen, zum Fälscher, zum Dieb, ja zum Mörder geworden, dessen verbrecherische Laufbahn damit anfing, daß er nicht den sittlichen Mut besaß, sich lieber einer Beschämung auszusetzen, als einen Schritt von zweifelhafter Ehrlichkeit zu riskieren.
Während meines Aufenthalts in Paris ging nun in Köln der Prozeß gegen die an dem Zuge nach Siegburg Beteiligten vor sich. Früh am 12. April wurde Kinkel in Begleitung von drei Polizeibeamten von Naugard fortgeführt, und schon am 13. langte er in Köln an. Auf der Reise, die man mit großer Heimlichkeit machte, ließ man ihn einen Paletot und einen kleinen schwarzen Hut tragen. Sobald er im Zuchthause zu Köln abgeliefert war, mußte er wieder die graue Züchtlingsjacke anlegen. Einige Tage später erhielt Frau Kinkel die Erlaubnis, ihren Gatten im Zuchthause zu besuchen, freilich nur in Gegenwart von Gefängnisbeamten. Sie nahm ihren kleinen sechsjährigen Sohn Gottfried mit sich, der in dem kahlgeschorenen, abgehärmten, durch die Züchtlingskleidung entstellten Mann den Vater nicht wiedererkannte, bis er seine [177] Stimme hörte. Die öffentliche Prozedur vor dem Geschworenengericht begann am 29. April. Zehn Personen waren angeklagt, „ein Attentat verübt zu haben, dessen Zweck war, die bestehende Verfassung umzustürzen, die Bürger oder Einwohner des Staats aufzureizen, sich gegen die königliche Gewalt zu bewaffnen, sowie einen Bürgerkrieg dadurch zu erregen, daß man die Bürger oder Einwohner des Staats gegeneinander bewaffnete oder verleitete, sich gegeneinander zu bewaffnen.“ Von den Angeklagten waren Gottfried Kinkel, Anselm Unger, Ludwig Meyer und Johann Bühl in den Händen der Regierung, – die sechs anderen, Friedrich Anneke, Joseph Gerhardt, Friedrich Kamm, Mathias Rings, Franz Joseph Klinker und Karl Schurz auf flüchtigem Fuße.
Unter der Bevölkerung von Köln herrschte fieberhafte Aufregung. Schon mit Anbruch des Tages, an dem der Prozeß beginnen sollte, drängte sich um das Gerichtsgebäude eine ungeheure Menge, die Kinkel, den gefangenen Freiheitsmann, den zum Zuchthaus begnadigten Dichter, noch einmal sehen und ihm ihre Sympathie bezeugen wollte. Die Behörden hatten ihrerseits große Vorbereitungen getroffen, um jeden Befreiungsversuch zu vereiteln. Der Wagen, der Kinkel von dem Zuchthause zum Gerichtshofe führte, war von einer starken Kavallerietruppe mit gezogenen Säbeln begleitet. Die Straßen, die er passieren mußte, sowie alle Zugänge des Justizgebäudes, starrten von Bajonetten. Auf dem Vorplatz waren zwei Kanonen mit einem Munitionswagen aufgefahren; die Artilleristen standen dabei fertig zum Dienst. Als Kinkel erschien, wurde er trotz alledem von den versammelten Volksmassen mit donnernden Hochrufen empfangen. Man hatte den Züchtling wieder in bürgerliche Kleidung gesteckt. Auf der Fahrt hatte er stumpf und teilnahmslos geschienen. Der Anblick und Zuruf des Volkes gab ihn sich selbst wieder. Das geschorene Haupt kühn und stolz erhoben, schritt er von dem Wagen zwischen den festgeschlossenen Reihen der Soldaten grüßend hindurch in den Gerichtssaal. Dort hatte Frau Johanna sich schon frühmorgens einen Platz gesichert, den sie auch jeden Tag während der Dauer des Prozesses einnahm. Für Kinkel beantragte der Staatsanwalt die Todesstrafe. Die Verhandlungen gingen den gewöhnlichen Gang; die Aussagen der zahlreichen Zeugen konstatierten den bereits erzählten Tatbestand ziemlich klar; der öffentliche Ankläger und die Advokaten der Angeklagten plädierten mit kühler Geschicklichkeit, Ludwig Meyer hielt eine mannhafte Rede, und endlich am 2. Mai ergriff Kinkel selbst zu seiner Verteidigung das Wort.
Die Erwartung der Versammelten, ja, des ganzen Volks, war aufs höchste gespannt. „Was wird er sagen?“ fragte man sich. „Wird er sich demütig und reuevoll beugen? Wird er das Bild eines gebrochenen und hinfort ungefährlichen Mannes darstellen, um sich so Gnade zu erkaufen? Oder wird er der Gewalt Trotz bieten, indem er sich kühn zu all dem bekennt, was er gewollt und getan, und so den letzten Anspruch auf eine Milderung seines furchtbaren Schicksals verscherzen?“ Man würde es dem schwer getroffenen Mann gern verziehen haben, hätte er durch eine nachgiebige Haltung eine Milderung seines entsetzlichen Loses bewirkt.
Die Antwort, die Kinkels Verteidigungsrede auf diese Fragen gab, war im höchsten Grade imponierend und rührend zugleich. Er begann [178] mit einer gedrängten Schilderung der politischen Lage in Deutschland nach der Märzrevolution von 1848. Das Volk habe damals die Souveränität errungen. Diese Souveränität des Volks sei verkörpert worden in den aus allgemeinem Wahlrecht hervorgegangenen konstituierenden Versammlungen, der preußischen Konstituante in Berlin sowohl wie dem Nationalparlament in Frankfurt. Alle Welt habe es so verstanden. Das Nationalparlament sei mit Mäßigung vorgegangen. Es habe eine Magna Charta der Volksrechte und eine Reichsverfassung geschaffen und den König von Preußen, denselben Fürsten, der sich im März 1848 an die Spitze der Einheitsbewegung gestellt, als Schirmherrn der Magna Charta zum Kaiser gewählt. Die Durchführung dieses Gedankens sei die letzte Rettung für die großen Hoffnungen der Nation gewesen. Aber der König von Preußen habe sich geweigert, durch die Annahme der Kaiserkrone das nationale Einheitswerk zu vollenden. Er habe die preußische Kammer, die ihn zur Annahme drängte, aufgelöst und damit die Möglichkeit einer Verständigung vernichtet und so auch alle Hoffnung auf die Verwirklichung sozialer Reformen. Nichts sei übrig geblieben, als ein Appell an die Waffen. Auch er, der Angeklagte, habe die Waffen ergriffen, und er erkläre jetzt seinen Richtern gegenüber, er glaube Recht getan zu haben. Er bekenne sich noch heute zu seiner Handlungsweise vom vorigen Mai; was er getan, habe er getan als ein Mann von Ehre.
Er ging noch weiter in seinem Bekenntnis. Er nannte sich einen Sozialisten, obgleich er ein Sozialist in dem uns jetzt geläufigen Parteisinne des Wortes eigentlich nie gewesen. Er war kein Anhänger eines jener Systeme, die eine gänzliche Umwälzung der hergebrachten Gesellschaftsordnung bedingen. Wenn er sich einen Sozialisten nannte, so bedeutete das nur, daß „sein Herz sich zu den Armen und Unterdrückten in seinem Volke gehalten und nicht zu den Reichen und Gewaltigen dieser Welt“. Es war der Gefühlsdrang, der so viele Herzen erfaßt hatte und den Parteinamen wählte, der ihm am genehmsten klang. „Und weil ich Sozialist bin“, fuhr Kinkel fort, „darum bin ich Demokrat, denn ich glaube, daß seine eigenen tiefen Wunden nur das Volk selbst zu empfinden, zu reinigen und zu heilen vermag. Weil ich aber Demokrat bin, weil ich den demokratischen Staat für die einzige und gewisse Möglichkeit halte, das Elend aus der Welt fortzuschaffen, darum glaube ich auch, daß, wenn einmal ein Volk demokratische Einrichtungen erobert hat, dieses Volk das Recht nicht allein, sondern auch die Pflicht besitzt, diese Einrichtungen bis auf den letzten Mann und mit allen Waffen, also auch mit der Kugel und dem scharfen Stahl zu verteidigen. In diesem Sinne bekenne ich mich für das Prinzip der Revolution, für welches seitdem auch mein Blut geflossen ist, und noch heute, ganz der Gewalt des Gegners hingegeben, noch heute bekenne ich mit den bleichen Lippen des gefangenen Mannes mich zu diesem Prinzip. Und darum auch glaube ich, daß ich damals samt den Freunden an meiner Seite recht gehandelt habe, als ich den Kampf aufnahm und ihm die höchsten Opfer brachte. Denn uns winkte ein großes Ziel. Hätten wir gesiegt, so retteten wir unserem Volk den Frieden mit sich selber, die Einheit des Vaterlandes, diesen Grundgedanken der deutschen Revolution, [179] und in ihr den Schlüssel zu allen künftigen Eroberungen von Glück und Größe. Meine Herren, wir haben nicht gesiegt. Das Volk hat diesen Kampf nicht durchgesetzt, hat uns, welche ihm voraufgingen, verlassen. Die Folgen fallen auf unser Haupt.“
Nun erklärte er, wie in diesem Kampf er sich nicht gescheut habe, mit Leuten ohne Bildung und von zweifelhaftem Ruf sich zu verbinden, denn nie sei „eine Weltidee dadurch geschändet worden, daß die Zöllner und Sünder sich zu ihr bekannten“. Dann führte er aus, daß die Strafbestimmungen des Code Napoleon, der damals im Rheinlande das herrschende Gesetz war, auf die Staatsverhältnisse von 1849 keine Anwendung fanden; daß dieser Code einer militärisch absoluten Monarchie zum Gesetz gegeben worden; daß der Deutsche nach der Revolution von 1848 die Volksbewaffnung mit freier Wahl der Führer besaß; daß dieses den Zweck hatte, das Volk zu befähigen zum Schutze seiner Rechte gegen Eingriffe von oben. „Ihr sagt zu uns: Ihr wolltet die bestehende Verfassung umstürzen. Welche Verfassung meint man? Die neue preußische? Wem von uns ist das eingefallen? Oder die Frankfurter? Diese zu schützen, zogen wir aus. Bei Ihrem Gewissen, meine Herren, sind wir es gewesen, die Attentate auf die Verfassungen gemacht haben? Aber den Bürgerkrieg wollten wir entzünden!? Wer wagt das zu behaupten? Wer will es leugnen, daß durch eine Erhebung des ganzen Volks in Waffen, aber eine großartig-feierliche Erhebung, die Krone auch ohne Bürgerkrieg auf den Weg des Fortschritts gedrängt werden konnte? Ja, wenn das alles wahr wäre, was die Anklageakte uns Schuld gibt, wenn wir uns verschworen hätten, der Gewalt die Gewalt entgegen zu setzen, wenn wir uns bewaffnet hätten, ein Zeughaus zu stürmen, wenn wir den Bürgern Waffen gegeben hätten zu einer solchen Erhebung, dann, selbst dann würden wir nach einer Niederlage Unglückliche sein, aber Strafbare keineswegs. Wir hätten es getan, nicht um eine Verfassung umzustürzen, sondern eine wankende zu halten; wir hätten es getan, nicht um den Bürgerkrieg zu wecken, sondern um den Bürgerkrieg zu hindern, den gräßlichen Bürgerkrieg, der die Iserlohner Landwehr in den Tod trieb gegen die deutschen Schützen auf dem Turme von Durlach, der in seinen Folgen Durtu zur Kugel, Corvin zum Spinnrade verurteilte. Wie es geworden ist im Vaterlande, weil wir nicht siegten, das wissen Sie. Hätten wir aber gesiegt in diesen Kämpfen, bei Gott, meine Herren, statt des Fallbeils, mit dem heute ein rheinischer Staatsanwalt im Bunde mit dem Gesetz des französischen Tyrannen uns bedroht, würden wir aus Ihren Händen heute die Bürgerkrone fordern für unser Haupt.“
Dieser Teil der Rede wurde von allen Versammelten im Saale mit Erstaunen, von vielen mit Bewunderung gehört. Der präsidierende Richter fand es schwer, den Beifallssturm zu unterdrücken, der sich zuweilen entfesseln wollte. Doch fühlten alle, daß dieser Angeklagte, welcher der herrschenden Gewalt so kühn und stolz die Stirne bot, wenn er auch einer neuen Verurteilung entging, von nun an alle Hoffnung auf eine Milderung der ihm bereits auferlegten Strafe verwirkt habe. Aber was nun folgte, überwältigte die Zuhörer in ungeahnter Weise. In wenigen Sätzen wies Kinkel auf die Widersprüche [180] und schwachen Punkte in den Zeugenaussagen hin und fuhr dann fort:
„Das einzige, wovon ein Schein übrig bleibt, ist, daß ich Bürger zur Bewaffnung aufgereizt hätte. Ich will es Ihnen sagen, wie es mit dieser Aufreizung ging. Ich sage es Ihnen gerne, weil in meinem Handeln dies eine zweideutig scheinen könnte, daß ich von einem Unternehmen, in das ich selbst mich stürzte, andere eher abzuhalten suchte. Mit voller Schärfe steht jener 10. Mai noch vor mir; denn dieser Tag, an dem ich, bis dahin ein hochbeglückter Mann, von all meinem Lebensglück schied, er ist mit den glühenden Nadeln des Schmerzes in meine Seele gegraben. Der Sturm jener drangvollen Zeit riß mir Stück um Stück vom Herzen weg; doch um 5 Uhr stand in mir noch kein Entschluß fest. Ich ging in die Universität, ich hielt ruhig und gelassen wie immer meine Vorlesung; es war meine letzte. Um 6 Uhr trafen die Nachrichten ein aus Elberfeld und Düsseldorf; sie schlugen zündend in meine Brust. Ich fühlte, daß für mich die Stunde da sei, wie die Ehre gebot, zu handeln. Aus der Versammlung ging ich in meine Wohnung, um Abschied zu nehmen. Ich nahm Abschied von dem Frieden meines Hauses, von dem Amte, das zwölf Jahre mich beglückt, das ich zwölf Jahre, wie ich glaube, treu verwaltet hatte; nahm Abschied von dem Weibe, an dessen Besitz ich schon einmal meine Existenz gesetzt, Abschied von meinen schlafenden Kindern, die nicht träumten, daß sie in dieser Minute ihren Vater verloren. Aber als ich nun über die Schwelle trat in die dunkelnde Straße, da sprach ich zu mir: „Du durftest diesen Entschluß fassen, denn welches auch die Folgen sein mögen, du weißt es, daß der Trost der Idee und der Überzeugung dich niemals verlassen kann. Aber einen andern Gatten, einen andern Vater hast du kein Recht mit fortzureißen in den gleichen furchtbaren Entschluß.“ In dieser Stimmung betrat ich die Rednerbühne, in dieser Stimmung mahnte ich jeden ab, dessen Herz nicht fest war wie das meinige – und aus dieser Rede macht die Anklage eine unmittelbare Aufreizung! Glauben Sie nicht, meine Herren, als wollte ich durch Rührung Sie überwältigen und Ihr Mitleid erwecken. Ja, ich weiß es, und die Begnadigungen des Jahres 1849 haben mich darüber belehrt, daß Ihr „Schuldig“ ein gewisses Todesurteil in sich schließt; aber trotzdem begehre ich Ihr Mitleid nicht. Nicht für meine Mitangeklagten, denn diesen sind Sie nicht Mitleiden, sondern eine Genugtuung schuldig für die lange unverdiente Haft. Nicht für mich, denn so unschätzbar mir Ihre Teilnahme als Bürger und Männer ist, so wenig hat Ihr Mitleiden für mich Wert. Die Leiden, die ich trage, sind so furchtbar, daß Ihr Spruch mich nicht schrecken kann. Man hat über das Maß der mir zuerkannten Strafe hinaus meine Haft gesteigert, durch die grauenvolle Einsamkeit der Isolierzelle, in deren öde Stille kein Trompetenton der kämpfenden Welt draußen, kein Liebesblick treuer Freunde dringt. Man hat einen deutschen Schriftsteller und Lehrer, der in mehr als einer Brust die Flamme des Geistes und der Schönheit entzündet, man hat ein mitteilsames Herz dazu verdammt, in seelenloser Zwangsarbeit, in Versagung aller geistigen Hülfsmittel, langsam hinzusterben. Der Giftmischerin, [181] dem entsetzlichen, gräulichen Verbrecher, sobald einmal über seinem Haupte das Wort der Begnadigung erscholl, wird es vergönnt, die Luft seines Rheinlandes zu atmen, das Wasser seines grünen Stromes zu trinken – diese vierzehn Tage haben es mich gelehrt, welche Seligkeit schon Luft und Licht der Heimat sind! – Mich aber hält der ferne, trübe, kalte Nord, und nicht einmal hinter dem Gitter ist es mir vergönnt, die Tränen meines Weibes zu sehen und in die Aurikelaugen meiner Kinder zu blicken! Ich begehre Ihr Mitleid nicht, denn wie scharf Ihr Spruch, wie blutig dieses Gesetzbuch sei, Sie können mein Los nicht gräßlicher machen als es ist. Der Mann, den man vor diesen Schranken der Feigheit zu zeihen wagte, hat im letzten Jahre dem Tode in seinen verschiedensten Gestalten so oft, so nahe, so kaltblütig ins Auge gesehen, daß auch die Guillotine ihn nicht besonders mehr erschüttert. Ich will Ihr Mitleid nicht; aber mein Recht verlange ich von Ihnen; mein Recht wälze ich auf Ihr Gewissen, und weil ich weiß, daß Sie, Bürger Geschworene, Ihrem rheinischen Mitbürger sein Recht nicht versagen können, darum erwarte ich mit der ruhigsten Zuversicht aus Ihrem Munde das „Nichtschuldig“. Ich habe gesprochen; nun richten Sie.“
Der Eindruck, welchen diese Worte hervorbrachten, ist mir von Augenzeugen geschildert worden. Zuerst lauschte die Zuhörerschaft mit fast atemloser Stille, aber es währte nicht lange, bis die Richter auf ihren erhöhten Sitzen, die Geschworenen, die dicht gedrängten Bürger im Saal, der Staatsanwalt, der die Anklage geführt, die Gendarmen, welche die Angeklagten bewachten, die Soldaten, deren Bajonette an der Türe blinkten, in Schluchzen und Tränen ausbrachen. Erst mehrere Minuten, nachdem Kinkel seine Rede geschlossen, fand der Gerichtspräsident seine Fassung und seine Stimme wieder, um die Prozedur weiter zu führen. Die Geschworenen brachten sofort ihren Wahrspruch ein; er lautete: „Nichtschuldig.“ Da erhob sich im Saal ein donnernder Jubelruf, der von der draußen versammelten Volksmenge aufgenommen in den Straßen der Stadt weithin widerhallte. Frau Johanna drängte sich auf ihren Mann zu, um ihn zu umarmen. Ein Polizeibeamter befahl den Kinkel umgebenden Gendarmen, sie zurückzuhalten. Aber Kinkel, sich hoch aufrichtend, rief mit gebietender Stimme: „Komm, Johanna! Gib Du Deinem Mann einen Kuß! Das soll Dir niemand wehren!“ Wie von einer höheren Macht überwältigt, traten die Gendarmen zurück und öffneten eine Gasse für die Frau, die sich in die Arme ihres Mannes warf.
Die andern Angeklagten konnten nun frei ihres Weges gehen. Nur Kinkel, der noch die ihm früher zuerkannte Strafe abzubüßen hatte, wurde wieder rasch von Bewaffneten umschlossen, nach dem Wagen gebracht und unter den Hochrufen des Volks und den Trommelwirbeln der Soldaten ins Gefängnis zurückgeführt.
Wie vorauszusehen gewesen, hatten die Behörden jede mögliche Vorsichtsmaßregel ergriffen, um einem Befreiungsversuch in Köln aufs wirksamste vorzubeugen. Die Regierung hatte auch unterdes beschlossen, Kinkel nicht wieder in das Zuchthaus zu Naugard, sondern in das zu Spandau zu bringen, wahrscheinlich weil in Naugard, wie in Pommern [182] überhaupt, sich warme Sympathien für den Unglücklichen offenbart hatten. Und um Kinkels Freunde irrezuführen und alle Schwierigkeiten unterwegs zu verhüten, wurde angeordnet, daß Kinkel nicht, wie das Publikum allgemein erwartete, auf der Eisenbahn, sondern in einer Kutsche von zwei Gendarmen begleitet, die Reise machen sollte. Die Abfahrt bewerkstelligte man am Tage nach dem Schluß des Prozesses mit aller Heimlichkeit. Aber gerade diese Vorkehrungen machten einen Fluchtversuch möglich, den Kinkel auf eigene Faust, ohne äußere Hülfe, unternahm, und den er mir später so erzählte:
Eines Abends ließen die Gendarmen die Kutsche an dem Wirtshause eines westfälischen Dorfes halten, wo sie und ihr Gefangener zu Abend essen sollten. Kinkel wurde in ein Zimmer des oberen Stockwerks geführt, wo ein Gendarm bei ihm blieb, während der andere hinunterging, um einige Anordnungen zu treffen. Kinkel bemerkte, daß die Türe des Zimmers nur angelehnt war, und daß der Schlüssel draußen im Schloß steckte. Der Gedanke, diesen Umstand zu seiner Flucht zu benutzen, schoß ihm durch den Kopf. Am Fenster stehend, suchte er die Aufmerksamkeit des ihn bewachenden Gendarmen, der an der Türe saß, auf ein Geräusch zu lenken, das sich drunten auf der Straße hören ließ. Sobald der Gendarm die Nähe der Türe verlassen hatte, um an das Fenster zu treten, sprang Kinkel mit einem raschen Satz aus der Tür und drehte draußen den Schlüssel um. Nun lief er, so schnell er konnte, die Treppe hinunter, durch eine Hintertür in den Hof, dann in den Garten und in der Richtung, die ihm eben offenstand, querfeldein. Es war unterdessen ganz dunkel geworden. Bald hörte der Flüchtige Stimmen hinter sich und, sich umwendend, sah er in der Entfernung Lichter, die sich hin und her bewegten. Kinkel rannte mit rasender Eile vorwärts, von der Verfolgung angespornt, die ihm augenscheinlich auf den Fersen war. Plötzlich stieß er mit der Stirn gegen einen harten Gegenstand und stürzte nieder, von dem Schlage betäubt.
Die Verfolgung hatte mittlerweile auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Gendarm, dem Kinkel aus dem Zimmer entwischt war, sprang nach der Tür, die er verschlossen fand. Er eilte nach dem Fenster zurück, aber in der Aufregung des Augenblicks gelang es ihm nicht, es so schnell, wie er wünschte, zu öffnen. Nun zertrümmerte er mit kräftigem Faustschlag die Scheiben und schrie auf die Gasse hinaus, der „Spitzbube“ sei entkommen. Das ganze Haus kam sofort in Alarm. Die Gendarmen sagten dem Wirte und den Dienstboten, der Entflohene sei einer der berüchtigtsten und gefährlichsten Verbrecher des Rheinlandes, und wer ihn wieder einfinge, würde einer Belohnung von hundert Talern sicher sein. Natürlich glaubten die Dorfleute alles, was ihnen gesagt wurde. Der Postillon, der die Kutsche gefahren und der keine Ahnung davon hatte, daß sein Passagier Kinkel gewesen, zeigte sich besonders tätig. Schnell wurden Laternen herbeigeschafft, um die Spur des Flüchtigen, der aus dem Hause und Hofe unbemerkt entwischt war, draußen aufzusuchen. Bald entdeckte der Postillon die Spur; doch hatte Kinkel durch diese Verzögerungen einen ansehnlichen Vorsprung gewonnen. Aber sein Anrennen gegen einen aufgestapelten Holzhaufen, [183] von dem ein herausstehendes Scheit ihn an der Stirne traf, hatte diesen Vorteil wieder zunichte gemacht. In weniger als einer Viertelstunde wurde er, immer noch in betäubtem Zustande, von dem Postillon, der wirklich glaubte, einen Straßenräuber vor sich zu haben, aufgefunden und den herbeieilenden Gendarmen zurückgeliefert. Diese verdoppelten nun ihre Wachsamkeit, bis das Tor des Zuchthauses in Spandau sich hinter dem Unglücklichen schloß.
Nachdem die durch die Prozeßepisode verursachte Aufregung sich gelegt und Kinkel, still im Spandauer Zuchthause sitzend, zeitweilig aufgehört hatte, die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen, reiste ich von Paris nach Deutschland zurück. Ich hatte unterdessen neue Instruktionen von dem Züricher Komitee erhalten, die ich getreulich ausführte. Zu diesem Zwecke besuchte ich mehrere Plätze im Rheinland und in Westfalen und wohnte sogar einer Zusammenkunft demokratischer Führer bei, die im Juli in Braunschweig stattfand. Dort machte ich die Bekanntschaft des mecklenburgischen Abgeordneten Moritz Wiggers, mit dem ich später in interessante Beziehungen kommen sollte. Auf diesen Reisen schien mir nur einmal eine Gefahr recht nahe zu treten. Ich war auf ein paar Stunden im Posthause zu Hamm eingekehrt und saß im Restaurationszimmer, auf eine bestellte Speise wartend. Mit einem preußischen Leutnant, der an demselben Tische mir gegenüber sitzend eine Tasse Kaffee trank, knüpfte ich ein harmloses Gespräch an, – wie ich denn gewöhnlich an öffentlichen Plätzen mich womöglich an Militärs oder Beamte, auf den Bahnhöfen vorzugsweise an die Polizisten hielt, um mich so als ein ganz unbefangenes und unverdächtiges Individuum zu beweisen. Während ich nun im Posthause zu Hamm mit dem Leutnant über gleichgültige Dinge sprach, bemerkte ich plötzlich, durchs Fenster blickend, eine sonderbare Bewegung. Ein Wagen hielt und ein ältlicher Herr in hellem Reiseüberrock stieg aus; mit ihm zwei Gendarmen, von denen einer an der Haustüre stehen blieb, während der andere mit dem Herrn im hellen Reiseüberrock hereinkam und sich auf dem Flur an der Treppe postierte. Der Herr trat ins Gastzimmer, und ich bemerkte, wie aus dem zugeknöpften Überrock ein dunkelroter Uniformkragen hervorsah. Der Herr war also ein Beamter – wahrscheinlich ein Polizeibeamter. Er fragte nach dem Wirt, und sobald dieser herzugetreten war, eröffnete sich zwischen beiden ein angelegentliches Gespräch, in leisem Tone geführt. Dieser Umstand beunruhigte mich. Unterdessen kam das Beefsteak, das ich bestellt hatte, und ich bezeichnete dem Kellner einen leeren Tisch an einem Fenster, das auf den Hof des Gasthauses hinausging. Dort wünschte ich zu essen. Um an diesen Tisch zu gelangen, schritt ich an dem Herrn im Überrock und dem Wirt möglichst dicht vorüber und suchte ein Wort aufzufangen, das mir über den Gegenstand der eifrigen Unterhaltung Aufschluß geben könnte. Ich hörte den Beamten die Worte aussprechen: „blonde Haare und Brille“, worauf der Wirt ziemlich laut antwortete: „Ich glaube, das muß er sein.“ Dies konnte auf mich passen, und es wurde mir ziemlich schwül zumute. Indes ging ich an den Tisch, auf dem mein Beefsteak mich erwartete, schob meinen Stuhl ans Fenster und fragte zwei in der Nähe sitzende Herren, ob es ihnen unangenehm sein [184] werde, wenn ich das Fenster öffnete, da die Luft im Zimmer drückend warm sei. Ich erhielt die gewünschte Erlaubnis und rekognoszierte durch das geöffnete Fenster den Hof, ob ich eine Chance des Entkommens haben würde, wenn ich den Sprung durchs Fenster wagen müßte. Der Ausblick war sehr zweifelhaft. Dann setzte ich mich nieder und beschäftigte mich mit dem Beefsteak.
Der Wirt hatte unterdessen mit dem Beamten das Gastzimmer verlassen. Nach einigen Minuten traten sie wieder ein, und sogleich entstand um sie her ein Gemurmel, aus welchem die Worte: „Sie haben ihn“, herausklangen. Bald darauf kam der Wirt in die Nähe meines Tisches, und ich fragte ihn, was da los sei? Da hörte ich denn, ein junger Mann sei morgens früh angekommen, habe sich ein Zimmer geben lassen und sich auch seine Mahlzeiten aufs Zimmer bestellt. Soeben sei er verhaftet worden. Er sei Postsekretär in einem nicht weit entfernten Städtchen und habe die Postkasse um 300 Taler bestohlen, um damit nach Amerika zu gehen. „Der arme Kerl!“ setzte der Wirt verächtlich hinzu. „Es war mir gleich auffallend, daß er sich sein Mittagessen ins Zimmer bestellte, statt zur Table d’hote zu kommen. Und dann nur 300 Taler!“ Ich fühlte mich sehr erleichtert und konnte mich nicht enthalten, von dem Tisch, an dem der geheimnisvolle Beamte sich zu einem Imbiß und einem Schoppen Wein niedergelassen hatte, mir ein Zündhölzchen zu holen, um mir zur Tasse Kaffee eine Zigarre anzuzünden.
Anfangs August kehrte ich nach Köln zurück und hatte dort noch eine Zusammenkunft mit Frau Kinkel. Sie berichtete mir, daß die für die Befreiung ihres Gatten verfügbare Summe um ein ansehnliches gewachsen sei, und freute sich zu hören, daß ich diese Summe für hinreichend hielt, um nun ans Werk zu gehen. Wir verabredeten, daß das Geld an eine vertraute Person in Berlin geschickt werden sollte, von der ich es nach Bedarf in Empfang nehmen könne. Auch erzählte sie mir, daß sie eine Methode gefunden habe, Kinkel auf unverfängliche Weise Nachricht zu geben, wenn etwas für seine Befreiung geschähe. Sie habe ihm über ihre musikalischen Studien geschrieben und in ihren Briefen spielten lange Auseinandersetzungen über die „Fuge“ eine große Rolle. Kinkel habe ihr nun in einer ihr verständlichen, aber den Gefängnisbeamten, welche die Briefe revidierten, unverständlichen Weise angedeutet, daß er die Bedeutung des Wortes „Fuge“ (lateinisch „fuga“, deutsch „Flucht“) sich gemerkt habe und begierig sei, über dieses Thema mehr zu hören. Frau Johanna versprach mir, mit ihren Briefen an Kinkel vorsichtig zu sein und ihn nicht in unzeitige Aufregung zu versetzen – auch selbst nicht ungeduldig zu werden, wenn sie von mir nur selten hören sollte. So schieden wir und ich ging nach dem Schauplatz meines Unternehmens ab.
Auf dem Bahnhofe traf ich meinen Freund Jacobi, der auf dem Wege nach Schleswig-Holstein war, um dem kämpfenden Brudervolk seine Dienste als Mediziner zu widmen. Einen Teil des Weges konnten wir zusammen reisen. Dies war eine angenehme Überraschung. Eine um so unangenehmere war es, daß wir in dem Coupé, in dem wir Platz nahmen, den Professor Lassen von der Bonner Universität, [185] der mich kannte, uns gerade gegenüber fanden. Wir stutzten beide einen Augenblick. Auch sah Lassen mich zuerst eine Weile verdutzt an. Aber da Jacobi und ich nun begannen, scheinbar unbefangen und lustig zu lachen und zu schwatzen, wie auch andere junge Leute das getan haben würden, so dachte der gute Orientalist wahrscheinlich, er müsse sich geirrt haben, und ich könne unmöglich der Übeltäter sein, dem ich ähnlich sähe.
Am 11. August kam ich in Berlin an. Da mein auf Heribert Jüssen lautender Paß in bester Ordnung war, so ließ mich die Polizei, die sonst alle Reisenden scharf beobachtete, ohne Schwierigkeit in die Stadt ein. Zunächst suchte ich einige meiner Universitätsfreunde auf, die von Bonn nach Berlin übergesiedelt waren. Ihnen vertraute ich mich an – d. h. meine Person; nicht das Geheimnis meines Planes. Bei zweien von ihnen, Müller und Rhodes, ehemaligen Mitgliedern der Bonner Frankonia, die nun in Berlin studierten und ein Quartier auf der Markgrafenstraße bewohnten, fand ich Obdach und herzliches Willkommen. Mit ihnen ging ich aus und ein, so daß die Polizisten, die in jenem Bezirk Dienst hatten, mich für einen der Berliner Universität angehörenden Studenten hielten. Und wie es damals in Berlin Sitte war und vielleicht teilweise noch ist, daß der Einwohner eines Miethauses nicht selbst einen Hausschlüssel führt, sondern, wenn er nachts nach Hause kommt, sich vom Nachtwächter der Straße das Haus aufschließen läßt, so rief auch ich, wenn ich spät von meinen Gängen zurückkehrte, den Nachtwächter herbei, damit er mir das gastliche Haus öffne. Daß ich, der steckbrieflich Verfolgte, der Flüchtling, von der Berliner Polizei, die für so allwissend galt, so willig bedient wurde, gab uns häufig Stoff zum Lachen und war in der Tat scherzhaft genug. Es ist daher nicht zu verwundern, daß ich unter solchen Umständen ein wenig übermütig wurde und einige leichtsinnige Dinge tat, die mir hätten teuer zu stehen kommen können. Während ich Verbindungen anknüpfte und Anstalten traf, welche die Befreiung Kinkels vorbereiteten, und von denen ich später genauer erzählen werde, konnte ich mich der Versuchung der von der Hauptstadt gebotenen Genüsse nicht ganz entziehen, und unter diesen Genüssen war einer, der mir besonders kostbar, aber auch besonders gefährlich wurde.
Die berühmte französische Schauspielerin Rachel befand sich damals in Berlin, um dort ihr klassisches Repertoire dem hauptstädtischen Publikum vorzuführen. Sie hatte zu jener Zeit den Höhepunkt ihres Ruhmes erreicht. Ihre Lebensgeschichte wurde wieder und wieder von den Zeitungen erzählt – wie dieses Kind armer elsässischer Juden, geboren im Jahre 1820 in einem kleinen Wirtshause im schweizerischen Kanton Aargau, ihre Eltern auf ihren Hausiertouren in Frankreich begleitet hatte; wie sie Pfennige erworben hatte, indem sie mit einer ihrer Schwestern auf den Straßen von Paris zur Harfe sang; wie ihre Stimme vielfache Aufmerksamkeit auf sich zog und sie darauf im Konservatorium aufgenommen wurde; wie sie vom Singen zum Deklamieren und zu schauspielerischen Versuchen überging; wie ihr phänomenales Genie, plötzlich hervorstrahlend, sie sofort den berühmtesten histrionischen Künstlern der Zeit voranstellte. Wir revolutionären jungen Leute erinnerten [186] uns auch mit besonderem Interesse an die kurz nach der Februarrevolution des Jahres 1848, als König Louis Philipp geflohen und die Republik proklamiert worden war, von Paris gekommenen Berichte, wie die Rachel auf einer Bühne in Paris die Marseillaise halb singend und halb sprechend rezitiert und damit in ihren Zuhörern einen wunderbaren Paroxysmus von patriotischer Begeisterung entflammt habe.
Einige meiner jungen Freunde in Berlin, die ihrer ersten Aufführung dort beigewohnt, kamen zu mir mit überaus enthusiastischen Erzählungen. Natürlich wünschte ich sehr, das auch zu genießen. Freilich konnte ich das nicht ohne Gefahr. Aber meine Freunde meinten, die Polizeispitzel würden schwerlich im Theater sich nach Staatsverbrechern umsehn, und ich würde in einem Schwarm von Rachelenthusiasten ziemlich sicher sein. Ich könnte mich ja in irgend einer dunkeln Ecke des Parterre aufhalten ohne Gefahr, einem feindlichen Blick zu begegnen – wenigstens einen Abend. Mit dem Leichtsinn der Jugend entschloß ich mich dann zu dem Wagnis.
So sah ich die Rachel. Es war einer der überwältigendsten Eindrücke meines Lebens. Ich hatte die meisten der Tragödien Racines, Corneilles und Voltaires gelesen und getraute mich wohl, dem Dialog folgen zu können. Aber ich hatte nie an diesen Stücken viel Gefallen gefunden. Die darin dargestellten Empfindungen waren mir gekünstelt erschienen, die Leidenschaften unecht, die Sprache stelzenhaft, die alexandrinische Versform mit ihrer unerbittlichen Cäsur über die Maßen steif und langweilig. Ich hatte mich immer gewundert, wie solche Stücke auf der Bühne packend dargestellt werden könnten. Das sollte ich nun erfahren. Als die Rachel auf die Szene trat – nicht mit dem bekannten affektierten Kothurnschritt, sondern mit einer ihr eigentümlichen Würde und majestätischen Anmut, gab es zuerst einen Moment schweigenden Erstaunens und dann einen rauschenden Ausbruch von Beifall. Einen Augenblick stand sie still, in den Falten ihres klassischen Gewandes wie eine antike Statue frisch von der Hand des Phidias, – das Gesicht ein langes Oval; eine schön gewölbte Stirn beschattet von schwarzem welligem Haar; unter hoch geschwungenen gewitterdunkeln Brauen zwei Augen, die wie schwarze Sonnen in tiefen Höhlen brannten und leuchteten; die Nase fein und leicht gebogen mit offenen, zuckenden Nüstern; über einem energischen Kinn eine strenge, vornehme Linie der Lippen mit leicht abwärts geneigten Mundwinkeln, wie wir uns den Mund der tragischen Muse vorstellen mögen; die Gestalt, – zuweilen groß, zuweilen klein scheinend, sehr mager und doch voll Kraft; die schlanke, sprechende Hand mit ihren feinen Fingern von seltener Schönheit – der bloße Anblick versetzte den Zuschauer in einen Zustand des Erstaunens und der geheimnisvollen Erwartung.
Nun begann sie zu sprechen. In tiefen Tönen, wie aus den innersten Höhlen der Brust, ja, wie aus dem Bauche der Erde, kamen die ersten Sätze hervor. War das die Stimme eines Weibes? Eines fühlte man gewiß, – eine solche Stimme hatte man nie gehört, – nie einen Ton zuweilen so hohl und doch so voll, so gewaltig und doch so weich, so übernatürlich und doch so wirklich. Aber diese erste Überraschung [187] mußte bald neuen und größeren weichen. Diese Stimme, in so tiefen Tönen beginnend, flog und rollte nun im wechselnden Spiel der Empfindungen oder Leidenschaften die Tonleiter auf und ab, – eine Oktave oder zwei, wie die Noten eines musikalischen Instrumentes von scheinbar unbegrenztem Umfang und endloser Mannigfaltigkeit der Tonfarbe. Wo war nun die Steifheit der Alexandriner geblieben? Wo die langweilige Einförmigkeit der Cäsur? Diese wunderbare Stimme und die Wirkungen, die sie auf den Hörer hervorbrachte, lassen sich kaum beschreiben ohne die Hülfe scheinbar übertriebener Metapher.
Wie ein stiller Strom durch grüne Gefilde floß die Rede dahin: oder sie hüpfte munter spielend wie ein Bach über Kieselgeröll; oder sie stürzte rauschend herab wie ein Bergwasser von Fels zu Fels. Aber wenn die Leidenschaft losbrach, wie schwoll und wogte und brauste diese Stimme gleich der vom Sturm gejagten Brandung der Meeresflut stürzend gegen den Strand; oder sie rollte und krachte und schmetterte wie der Donner nach dem Zischen des nah einschlagenden Blitzes, der uns in Schrecken auffahren macht. Die elementaren Kräfte der Natur und alle Gefühle und Erregungen der menschlichen Seele schienen entfesselt in dieser Stimme, um darin ihre beredteste, ergreifendste, durchschauerndste Sprache zu finden. Jetzt kam ein Ton der Rührung, und die Tränen schossen uns jählings in die Augen; nun eine scherzende oder einschmeichelnde Wendung, und ein glückliches Lächeln flog über alle Gesichter; nun eine Note der Trauer oder der Verzweiflung, und die Herzen aller Zuhörer zitterten vor Wehmut; aber dann einer jener furchtbaren Ausbrüche der Leidenschaft, und man griff unwillkürlich nach dem nächsten Gegenstand, um sich festzuhalten gegen den Orkan. Die wunderbaren Modulationen dieser Stimme würden allein, ohne sichtbare Gestalt, hingereicht haben, die Seele des Zuhörers mitzureißen durch all Phasen der Empfindung, der Freude, des Schmerzes, der Liebe, des Hasses, der Verzweiflung, der Eifersucht, der Verachtung, des unbändigen Zornes, der wütenden Rachesucht.
Aber wer kann den Zauber der Geste beschreiben und das Spiel der Augen und der Gesichtszüge, mit denen die Rachel den Zuschauer überwältigte, so daß die gesprochenen Worte zuweilen fast überflüssig schienen? Das war nicht allein kein Umherschwenken der Arme, kein Durchsägen der Luft, keine der armseligen mechanischen Künste, von denen Hamlet spricht. Rachels Gestikulation war sparsam und einfach. Aber wenn diese schöne Hand mit ihren schlanken, fast durchsichtigen Fingern sich erhob oder senkte, so sprach sie, und jedem Zuschauer war diese Sprache eine Offenbarung. Breiteten diese Hände sich offen in erklärender Weise aus und verharrten einen Augenblick in dieser Stellung – einer Stellung, die das Genie des Bildhauers sich nicht schöner hätte träumen können –, so eröffneten sie das vollste, befriedigendste Verständnis. Streckten diese Hände sich nach dem Freunde, dem Geliebten aus, und begleitete sie diese Bewegung mit einem Lächeln – dem Lächeln, das in ihrer Aktion selten war, aber wenn es kam, die Umgebung bestrahlte wie ein freundlicher Sonnenblick aus einem wolkigen Himmel –, so flog etwas wie ein glückliches Beben über das Haus. Wenn sie ihren edeln Kopf mit dem majestätischen Stolz der Autorität [188] erhob, als beherrschte sie die Welt, so mußte jeder sich vor ihr beugen. Wer würde gewagt haben, den Gehorsam zu verweigern, wenn sie, mit königlicher Macht auf ihrer Stirn, die Hand erhob zum Zeichen des Befehls? Und wer hätte aufrecht vor ihr stehen können gegen den steinig stieren Blick der Verachtung in ihrem Auge, und gegen das höhnisch vorgestoßene Kinn, und den wegwerfenden Schwung ihres Armes, der den Elenden vor ihr in das Nichts zu schleudern schien?
Es war in der Darstellung der bösen Leidenschaften und der wildesten Empfindungen, daß sie ihre ungeheuersten Wirkungen erreichte. Nichts Furchtbareres kann die Phantasie sich ausmalen, als ihren Anblick in den größten Steigerungen des Ausdrucks. Wolken von unheimlich drohender Finsternis sammelten sich auf ihren Brauen. Ihre Augen, von Natur tief liegend, schienen hervor zu quellen und funkelten und blitzten mit wahrhaft höllischem Feuer. Ihr Gesicht verwandelte sich in ein Gorgonenhaupt, und man fühlte, als sähe man die Schlangen sich in ihren Haaren winden. Ihr Zeigefinger schoß hervor wie ein vergifteter Dolch auf den Gegenstand ihrer Verwünschung. Oder ihre Faust ballte sich, als wollte sie die Welt mit einem einzigen Schlage zerschmettern. Oder ihre Finger krallten sich, wie mörderische Tigerklauen, um das Opfer ihrer Wut zu zerreißen, – ein Anblick so grauenvoll, daß der Zuschauer, schaudernd vor Entsetzen, sein Blut erstarren fühlte und, nach Atem ringend, unwillkürlich stöhnte: „Gott steh uns bei!“
Dies alles mag wie eine wilde Übertreibung klingen, wie ein extravagantes Phantasiebild, geboren aus der erhitzten Einbildung eines von der Theatergöttin bezauberten jungen Menschen. Ich muß gestehen, daß ich zuerst meinen eigenen Empfindungen mißtrauen wollte. Ich habe daher, damals sowohl wie zu späteren Zeiten, Personen reifen Alters, welche die Rachel gesehen hatten, nach den Eindrücken gefragt, die sie empfangen, und ich habe gefunden, daß diese Eindrücke sich fast nie von den meinen wesentlich unterschieden. In der Tat, ich habe oft grauköpfige Männer und Frauen, Personen von künstlerischer Erfahrung, gebildetem Geschmack und ruhigem Urteil über die Rachel sprechen hören mit derselben unbeherrschbaren Begeisterung, die mich zurzeit überwältigt hatte.
Ich kann in Wahrheit sagen, daß in meiner Bewunderung der Rachel nichts war von der oft vorkommenden Schwärmerei eines romantischen Jünglings für eine Schauspielerin. Wenn jemand mir angeboten hätte, mich bei der Rachel persönlich einzuführen, so würde nichts mich bewogen haben, die Einladung anzunehmen. Die Rachel war mir ein Dämon, ein übermenschliches Wesen, eine geheimnisvolle Naturkraft, – nur kein Weib, mit dem man frühstücken, oder über alltägliche Dinge sprechen, oder im Park spazieren fahren könnte. Meine Bezauberung war von durchaus geistiger Art. Aber die Anziehungskraft ihres Genies war so stark, daß ich ihr nicht widerstehen konnte, und so ging ich denn ins Theater, um sie zu sehen, so oft der Zweck, zu dessen Erreichung ich in Berlin war, und der häufige nächtliche Besuche in Spandau erforderte, mir dazu Zeit ließ. Dabei vergaß ich allerdings nicht ganz die Gefahr, der die Theaterbesuche mich aussetzten. [189] Ich nahm mir immer einen Sitz im Parterre möglichst nahe beim Ausgang. Bei offenem Vorhang durfte ich darauf rechnen, daß aller Augen auf die Szene geheftet blieben. In dem Zwischenakten aber, wenn manche der Zuschauer sich umdrehten, um sich das Publikum anzusehen, hatte ich stets mein Opernglas vor den Augen, auf die Leute in den Logen gerichtet, und gelegentlich hielt ich mein Taschentuch vors Gesicht, als ob ich Zahnweh hätte. Und sobald nach dem letzten Akte der Vorhang fiel, eilte ich möglichst schnell hinaus, um das Gedränge zu vermeiden.
Aber eines Abends, als die Schlußszene mich noch mehr als gewöhnlich gefesselt hatte, war ich doch nicht schnell genug. Ich geriet unter die Menge der Hinausströmenden, und plötzlich wandte sich mir in diesem Gedränge ein Gesicht zu, dessen Anblick mich erschreckte. Es war das eines Menschen, der nach der Märzrevolution im Jahre 1848 in Bonn studiert und unserem demokratischen Verein angehört hatte, aber durch einige sonderbare Vorkommnisse unter den Verdacht gefallen war, der Polizei als Spion zu dienen. Ich hatte von seiner Anwesenheit in Berlin gehört, und auch dort wurde er als eine verdächtige Persönlichkeit gemieden. Nun befand ich mich in diesem Menschenknäuel ihm dicht gegenüber, und er blickte mir gerade in die Augen mit einem Ausdruck, als sei er überrascht, mir dort zu begegnen. Ich sah ihn fest an, als wunderte ich mich, von einem unbekannten Menschen so fixiert zu werden. So standen wir einige Augenblicke Angesicht zu Angesicht, ohne uns bewegen zu können. Dann lockerte sich das Gedränge, und ich machte mich eiligst davon. Das war mein letzter Rachelabend in Berlin.
Aber ich habe sie doch später wiedergesehen, im nächsten Jahre in Paris und noch später in Amerika. In der Tat, ich habe sie zu verschiedenen Zeiten in all ihren großen Rollen gesehen, in einigen davon mehrere Male, und der Eindruck war immer der gleiche, selbst auf ihrer amerikanischen Tour, als ihre Lungenkrankheit schon stark bemerklich war und es hieß, ihre Kräfte seien sehr auf der Neige. Ich habe oft versucht, mir über diese Eindrücke Rechenschaft zu geben, und mich zu diesem Ende gefragt: „Aber ist dies nun wirklich der Spiegel der Natur? Hat wirklich je ein Weib in solchen Tönen gesprochen? Haben solche Wesen, wie die Rachel uns vorführt, jemals wirklich gelebt?“ Nie konnte ich eine andere Antwort finden, als daß solche Fragen müßig und eitel seien. Wenn die Phädra, die Roxane je gelebt haben, so mußten sie so gewesen sein und nicht anders. Aber die Rachel stellte nicht nur individuelle Menschen dar; in ihren verschiedenen Charakteren war sie die ideale Verkörperung des Glücks, der Freude, des Schmerzes, des Elends, der Liebe, der Eifersucht, des Hasses, des Zornes, der Rache; und alles dies in plastischer Vollendung, in höchster poetischer Gewalt, in gigantischer Wahrheit. Dies mag keine besonders klare oder genaue Definition sein, aber sie ist so klar und genau, wie ich sie geben kann. Man sah, man hörte, und man war überwunden, unterjocht, zauberhaft, unwiderstehlich. Die Schauer des Entzückens, der Angst, des Migefühls, des Entsetzens, mit denen die Rachel ihre Zuschauer übergoß, entzogen sich aller Analyse. Die Kritik tastete in hülfloser [190] Verlegenheit umher, wenn sie unternahm, die Leistungen der Rachel zu klassifizieren, oder sie mit irgend einem herkömmlichen Maßstabe zu messen. Die Rachel stand ganz allein in ihrer Eigentümlichkeit. Der Versuch, sie mit irgend andern Schauspielern oder Schauspielerinnen zu vergleichen, schien sinnlos, denn die Verschiedenheit zwischen ihr und den andern war nicht eine bloße Verschiedenheit zwischen Graden der Vortrefflichkeit, sondern eine Verschiedenheit der Art, des Wesens. Einige Schauspielerinnen jener Periode mühten sich ab, die Rachel nachzuahmen; aber wer das Original gesehen, hatte nur ein Achselzucken für die Kopie. Es war der bloße Mechanismus ohne den göttlichen Hauch. Ich habe seither nur drei Künstlerinnen höheren Ranges gesehen, die Ristori, die Wolter und Sara Bernhardt, die dann und wann mit einer Geste oder einer besondern Intonation der Stimme an die Rachel erinnerten, aber nur in flüchtigen Momenten. Im ganzen war der Unterschied doch unverkennbar. Es war der Unterschied zwischen dem wahren Genie, das unwiderstehlich überwältigt, und vor dem wir uns unwillkürlich beugen, und dem großen Talent, das wir bloß bewundern. Die Rachel ist mir daher eine alles überschattende Erinnerung geblieben. Und wenn in späteren Jahren dann und wann in meinem Freundeskreise von großen Bühnenleistungen die Rede war und sich ein besonderer Enthusiasmus über eine lebende Theatergröße laut machte, so habe ich selten die Bemerkung zurückhalten können, – in der Tat, ich fürchte, ich habe sie oft genug bis zur Langweiligkeit wiederholt: „Alles recht schön, aber ihr hättet die Rachel sehen sollen!“
Wenige Tage nach meiner Begegnung mit dem Polizeispion traf mich ein wirkliches Unglück. Ich ging mit meinen Freunden Rhodes und Müller in ein öffentliches Badehaus. In der Zelle, in welcher ich mich nach dem Bade wieder ankleidete, glitt ich auf dem nassen Fußboden aus und verletzte durch den Fall meine linke Hüfte dergestalt, daß ich nicht aufzustehen vermochte. Ich wurde nun von meinen Freunden unter großen Schmerzen in eine Droschke gepackt und nach meinem Quartier in der Markgrafenstraße geschafft, wo zwei herbeigerufene junge Ärzte, von denen einer, Dr. Tendering, mein Universitätsgenosse in Bonn gewesen, zurzeit aber Kompagniechirurg in einem Infanterieregiment war, den Schaden untersuchten. Da ich sehr litt, so wurde ich, zum erstenmal in meinem Leben, unter Chloroform gesetzt. Ich erinnere mich noch sehr deutlich des Traumes, den das Chloroform hervorbrachte. Mir war, als säße ich auf einer rosafarbenen Wolke, die sich langsam mit mir von der Erde erhob, aber mein linker Fuß war an der Erde festgebunden und das Hinaufsegeln der Wolke verursachte eine etwas schmerzhafte Spannung. In der Tat waren die beiden Ärzte damit beschäftigt, mein linkes Bein zu ziehen und hin und her zu drehen. Sie fürchteten nämlich, ich hätte den linken Schenkelhals gebrochen. Aber ich litt nur, wie die Ärzte sich überzeugten, an einer sehr starken Quetschung, die mich längere Zeit ans Bett zu fesseln drohte. Da lag ich denn, unbeweglich und hülflos, während die Stadt von Polizeiagenten wimmelte, denen der Fang eines pfälzisch-badischen Freischärlers, der noch dazu wegen sonstiger politischer Untaten verfolgt und jetzt in sehr sträflichen Dingen engagiert war, ein besonderes Vergnügen [191] gewesen sein würde. Mein Invalidentum dauerte über zwei Wochen. Sobald ich mich wieder hinauswagen konnte, ging ich mit verdoppeltem Eifer an die Aufgabe, von deren Lösung ich nun einen zusammenhängenden Bericht geben werde.
Neuntes Kapitel.
Kinkels Befreiung.
Sogleich nach meiner Ankunft in Berlin setzte ich mich mit mehreren Personen in Verbindung, die mir teils von Frau Kinkel, teils von demokratischen Gesinnungsgenossen als zuverlässig bezeichnet worden waren. Ich brachte einige Zeit damit zu, sie möglichst sorgfältig zu studieren, da ich den wahren Zweck meiner Anwesenheit in Berlin niemandem anvertrauen wollte, von dem ich nicht überzeugt sein durfte, daß er zur Erreichung dieses Zweckes wesentlich helfen werde. Nach dieser Umschau teilte ich nur einem mein Geheimnis mit, dem Doktor Falkenthal, einem Arzt, der in der Vorstadt Moabit wohnte, dort einen Junggesellenhaushalt führte, und der mir seinem Charakter und seinen Umständen nach am geeignetsten schien, an dem beabsichtigten Wagestück teilzunehmen. Auch hatte er schon mit Frau Kinkel in Briefwechsel gestanden. Falkenthal hatte eine ziemlich ausgedehnte Bekanntschaft in Spandau und brachte mich dort mit dem Gastwirt Krüger zusammen, für den er sich als einen durchaus vertrauenswerten und tatkräftigen Mann verbürgte. Herr Krüger nahm in Spandau eine sehr geachtete Stellung ein. Er hatte seiner Gemeinde mehrere Jahre als Ratsherr würdig gedient, führte das beste Gasthaus in der Stadt, war wegen seines ehrenhaften Charakters und seiner Leutseligkeit allgemein beliebt und auch in seinen Vermögensverhältnissen gut gestellt. Obgleich er viel älter war als ich, so entwickelte sich doch zwischen ihm und mir bald ein Gefühl wahrhafter Freundschaft. Ich fand in ihm nicht nur ein mir sehr sympathisches Wesen, sondern einen ungemein klaren Verstand, große Diskretion, festen Mut und eine edle, opferwillige Hingebung an Zwecke, die er für gut erkannte. Er bot mir sein Haus an zum Hauptquartier meines Unternehmens.
Ich zog es jedoch vor, nicht in Spandau zu wohnen, da die Anwesenheit eines Fremden in einer so kleinen Stadt nicht lange geheim bleiben konnte. Der Aufenthalt in dem großen Berlin schien mir weniger gefährlich, wenigstens während der voraussichtlich langwierigen Vorbereitungen zu dem Schlußakt. Um von Berlin nach Spandau und von da nach Berlin zurückzufahren, bediente ich mich nicht der Eisenbahn, da auf dem Berliner Bahnhofe die Paßkarte eines jeden Reisenden, selbst auf den Lokalzügen, visitiert wurde und mein auf Heribert Jüssen lautender rheinischer Paß, obgleich er äußerlich in bester Ordnung war, [192] durch häufiges Wiedererscheinen zwischen Berlin und Spandau doch einem wachsamen Polizeibeamten hätte verdächtig werden können. Wenn ich also nach Spandau wollte, so passierte ich, gewöhnlich mit Einbruch der Nacht, das Brandenburger Tor zu Fuß und nahm mir dann in Moabit oder Charlottenburg ein Lohnfuhrwerk, aber jedesmal ein anderes.
Herr Krüger war über das innere Getriebe des Spandauer Zuchthauses wohl unterrichtet, und was er nicht wußte, das konnte er durch seine Bekanntschaft mit den Beamten der Anstalt leicht erfahren. Die erste zu erwägende Frage war, ob es möglich sein werde, Kinkel mit Gewalt zu befreien. Ich überzeugte mich bald, daß es eine solche Möglichkeit nicht gebe. Die bewaffnete Besatzung des Zuchthauses bestand zwar nur aus einer Handvoll Soldaten und den wachthabenden Gefängnisbeamten. Es wäre daher einer nicht gar großen Zahl entschlossener Leute möglich gewesen, das Zuchthaus mit gewalttätiger Hand zu stürmen, hätte es nicht inmitten einer starken, mit Soldaten gefüllten Festung gelegen, wo das erste Alarmsignal eine überwältigende Macht augenblicklich auf den Platz gebracht haben würde. Ein solches Beginnen war also hoffnungslos. Nun wußten wir von Fällen, in denen selbst noch schärfer bewachte Gefangene vermittelst Durchsägen von Gitterstäben und Durchbrechen von Mauern aus ihren Kerkern entkommen und dann von helfenden Freunden in Sicherheit gebracht worden waren. Aber auch gegen einen solchen Plan erhoben sich große Bedenken, unter denen Kinkels Ungeübtheit in handlichen Verrichtungen nicht das geringste war. Auf alle Fälle schien es geraten, zuerst zu versuchen, ob nicht eine oder mehrere der Zuchthausbeamten zur Mithülfe gewonnen werden konnten.
Es wurden nun auf Krügers Rat und durch seine Vermittlung noch zwei ihm wohlbekannte junge Männer, die mit einigen der Zuchthausbeamten in freundlichem Verkehr standen, ins Vertrauen gezogen. Der eine hieß Poritz, der andere Leddihn, gesunde, kräftige, treuherzige Naturen, bei so gutem Werk zu jedem Dienste willig. Mit ihnen wurde verabredet, daß sie mir denjenigen der Zuchthausbeamten vorführen sollten, von dem sie glaubten, daß er am leichtesten zugänglich sei. Dieser Teil des Geschäftes war mir sehr zuwider; aber was hätte ich nicht tun mögen, um den so schmählich mißhandelten Freund und Freiheitskämpfer aus den Banden tyrannischer Willkür zu retten? So brachten sie mir denn einen Gefangenenwärter, den ich Schmidt nennen will, nach einer Schenke, in der ich in einem kleinen Zimmer allein saß, und überließen es mir, mich mit ihm zu verständigen. Er war, wie fast alle seiner Kollegen, Unteroffizier in der Armee gewesen und hatte eine ziemlich zahlreiche Familie von einem sehr kleinen Gehalt zu ernähren. Poritz und Leddihn hatten sich bei ihm für meine Diskretion verbürgt, und er hörte ruhig an, was ich ihm zu sagen hatte. Ich stellte mich ihm als einen in Geschäften Reisenden vor, der mit der Familie Kinkel eng verbunden sei. Ich beschrieb ihm den Jammer der Frau und der Kinder um den Gatten und Vater, der bei der ärmlichen Lebensweise der Züchtlinge körperlich und geistig verelenden werde. Würde es nicht möglich sein, Kinkel zuweilen etwas kräftige Kost, ein [193] Stück Fleisch, einen Schluck Wein zukommen zu lassen, um ihn wenigstens einigermaßen bei Kräften zu erhalten, bis des Königs Gnade sich seiner erbarme?
In der Tat, meinte Schmidt, es würde wohl ein gutes Werk sein, – vielleicht nicht unmöglich, aber gefährlich. Er wolle zusehen, was sich tun lasse.
Dann schob ich Schmidt eine Zehntalernote in die Hand mit der Bitte, damit für Kinkel etwas Stärkendes zu kaufen, das er ihm ohne Gefahr zustellen könne. Ich müsse jetzt meiner Geschäfte wegen Spandau verlassen, werde aber in wenigen Tagen zurückkehren, um zu hören, was für einen Bericht er mir dann über den Zustand des Gefangenen geben könne. Meiner Dankbarkeit dürfe er gewiß sein.
So trennten wir uns. Nachdem drei Tage vergangen, fuhr ich abends wieder nach Spandau und sah Schmidt in derselben Weise wie früher. Er erzählte mir, es sei ihm gelungen, Kinkel eine Wurst und einen kleinen Laib Brot zuzustecken, und er habe den Gefangenen in guter Verfassung gefunden. Er sei auch bereit, in ähnlicher Art noch mehr zu tun. Natürlich wollte ich nicht, daß er sich selbst deshalb in Unkosten stürzen sollte, und gab ihm daher eine zweite Zehntalernote. Diese aber begleitete ich mit dem Wunsche, daß Schmidt einen kleinen Zettel von mir in Kinkels Hände liefern und diesen mit einem Worte von Kinkel mir zurückbringen sollte. Auch dies versprach Schmidt auszuführen. Ich schrieb also auf ein Stückchen Papier ein paar Worte ohne Unterschrift, etwa wie folgt: „Deine Freunde sind treu. Halte dich aufrecht.“ Es war mir weniger darum zu tun, Kinkel von mir Nachricht zu geben, als mich davon zu überzeugen, ob Schmidt meinen Auftrag wirklich erfüllt habe, und ob ich mit ihm weitergehen könne.
Ich verließ also Spandau wieder und kehrte nach wenigen Tagen zurück. In derselben Weise wie früher stellte Schmidt sich ein und brachte mir auch meinen Zettel wieder, der ein Wort des Dankes in Kinkels Handschrift trug. Schmidt hatte also sein Versprechen gehalten, damit aber auch einen Schritt getan, der ihn schwer kompromittierte. Nun schien es mir an der Zeit, eingehender mit ihm zu reden. So sagte ich ihm denn, der Gedanke sei mir durch den Kopf gegangen, daß es ein sehr löbliches Werk sein werde, Kinkel gänzlich aus seiner entsetzlichen Lage zu befreien, und ehe ich nach dem Rheinlande zurückkehrte, hielte ich es für meine Pflicht, ihn, Schmidt, zu fragen, ob diese Befreiung mit seiner Hülfe nicht ins Werk gesetzt werden könne. Schmidt fuhr auf und fiel mir sogleich ins Wort. Das sei unmöglich, sagte er. Mit einem solchen Versuche dürfe und wolle er nichts zu tun haben.
Die bloße Andeutung hatte ihm offenbar einen Schrecken eingejagt, und ich erkannte deutlich, daß dies der Mann nicht sei, den ich brauchte. Jetzt galt es, ihn los zu werden und mich zugleich seines Schweigens zu versichern. Ich drückte mein Bedauern über seine Ablehnung aus und setzte hinzu, daß, wenn er, der mir als ein mitleidiger und zugleich mutiger Mann bezeichnet worden sei, den Versuch für hoffnungslos halte, ich seine Meinung annehmen und die Sache aufgeben müsse. Ich werde also ohne Verzug nach dem Rheinlande abreisen und nicht wieder [194] zurückkehren. Dann erging ich mich in einigen dunklen Redensarten, die durchblicken ließen, daß es eine geheimnisvolle Macht gebe, die, wenn sie auch Kinkel nicht zu befreien vermöchte, doch denen furchtbar werden könnte, die an ihm zum Verräter würden. Es gelang mir wirklich, Schmidt so sehr in Angst zu setzen, daß er mich inständig bat, ihm nicht übel zu wollen. Ich versicherte ihm, daß, wenn er das Geschehene in Schweigen begraben wolle, er sich desselben von mir zu versehen habe. Er dürfe sogar auf meine weitere Erkenntlichkeit rechnen, wenn er auch nach meiner Abreise fortfahren wolle, Kinkel von Zeit zu Zeit mit kräftigenden Nahrungsmittel beizustehen. Dies versprach er mir mit großer Wärme. Dann händigte ich ihm noch eine Zehntalernote ein und sagte ihm für immer Lebewohl.
Der erste Versuch war also mißglückt. Ich lag dann einige Tage still, bis Krüger, Leddihn und Poritz, die mittlerweile das Zuchthauspersonal sorgfältig überwachten, mir ihre Überzeugung mitteilen konnten, daß Schmidt nicht geschwatzt habe. Darauf führten meine Spandauer Freunde mir einen zweiten Gefangenenwärter vor. Ich verfuhr mit ihm in derselben Weise wie mit dem ersten, und alles ging nach Wunsch, bis ich ihm die entscheidende Frage stellte, ob er willig sei, zu einem Befreiungsversuche die Hand zu bieten. Dazu zeigte der zweite nicht mehr Mut als der erste, worauf ich auch für ihn verschwand. Ein dritter Mann wurde herangebracht, der aber schon nach dem ersten Schritt wankte und es zu der entscheidenden Frage gar nicht kommen ließ.
Nun schien es mir geraten, die Angelegenheit ruhen zu lassen, wenigstens bis wir ganz gewiß sein konnten, daß die drei beunruhigten Gemüter im Zuchthaus reinen Mund gehalten. Auch begann mein Aufenthalt in Berlin, wo unterdessen die bereits erzählten Dinge geschehen waren, mir unbehaglich zu werden. Die Zahl der Freunde, die um meine Anwesenheit in der Hauptstadt wußten, war etwas zu sehr angewachsen, und die Frage, was ich denn eigentlich dort vorhabe, begegnete mir zu häufig. Einer meiner Freunde erhielt nun den Auftrag, den andern für mich Lebewohl zu sagen. Ich reiste ab, um nicht wiederzukommen, – wohin, wußte niemand. In der Tat fuhr ich auf ein paar Wochen nach Hamburg. Dort traf ich meinen treuen Adolph Strodtmann, der mich sicher unterbrachte. Er setzte mich auch mit einigen gesinnungsverwandten Menschen in Verbindung, die in dem kleinen Freistaat einen vielseitig tätigen und nützlichen Gemeinsinn pflegten, und von denen ich lernen konnte, wie viel unter freien Staatseinrichtungen die bürgerliche Initiative zu leisten vermag. Aber die angenehme Gesellschaft konnte mich nicht lange halten. Vor Ende September kehrte ich zu meiner Arbeit zurück, schlug jedoch nicht in Berlin selbst, sondern in der Vorstadt Moabit bei Dr. Falkenthal mein Quartier auf.
In Spandau wurde mir berichtet, daß dort alles ruhig geblieben sei. Überhaupt war mein Geheimnis gut bewahrt worden. Meinen Freunden in Berlin war ich in unbekannte Fernen verschwunden. Nur einer davon, ein Student der Jurisprudenz, namens Dreyer, traf mich einmal zufällig in Moabit. Er ahnte, was mein Geschäft war, aber [195] auf seine Diskretion konnte ich mich fest verlassen. Später haben viele Personen, die mir ganz fremd waren, erzählt, sie seien damals mit mir zusammengetroffen und in meinem Vertrauen gewesen, aber das war bloße Einbildung. Selbst Dr. Falkenthal und Krüger kannten zu jener Zeit meinen wahren Namen nicht. Ihnen war ich, wie mein Reisepaß besagte, Heribert Jüssen, und unter Dr. Falkenthals Nachbarn in Moabit, die mich zuweilen sahen, galt ich als ein junger Mediziner, der dem Doktor bei seinen Studien assistierte. Um diesen Glauben zu bestärken, trug ich eine kleine Tasche mit chirurgischen Werkzeugen, wie die Ärzte sie häufig bei sich führen, mit mir herum. Von Moabit machte ich meine nächtlichen Fahrten nach Spandau wie vorher.
Aber auch nach meiner Rückkehr von Hamburg wollte es mir nicht sogleich glücken, unter den Zuchthausbeamten den richtigen Mann zu finden. Ein vierter wurde mir vorgeführt, doch auch dieser wollte sich zu nichts mehr verstehen, als Kinkel einige Lebensmittel und etwa Briefe zuzuführen. Ich fing an, die Ausführbarkeit des bis dahin verfolgten Planes ernstlich zu bezweifeln, denn die Liste der Unterbeamten des Zuchthauses mußte nahezu erschöpft sein. Da fand ich plötzlich, was ich so lange vergeblich gesucht hatte. Meine Spandauer Freunde machten mich mit dem Gefangenenwärter Brune bekannt.
Im ersten Augenblick empfing ich von Brune einen Eindruck sehr verschieden von dem, den seine Kollegen mir gegeben hatten. Auch er war Unteroffizier gewesen; auch er hatte Frau und Kinder und ein spärliches Gehalt wie die andern. Aber in seinem Wesen war nichts von der unterwürfigen Demut der Subalternnatur. Als ich ihm von Kinkel sprach und von meinem Wunsche, daß sein Elend wenigstens durch kräftigere Nahrung etwas erleichtert werde, machte Brune nicht das kläglich verlegene Gesicht eines Menschen, der zwischen seinem Pflichtgefühl und einer Zehntalernote mit sich unterhandelt. Brune trat fest auf wie ein Mann, der sich dessen nicht schämt, was er zu tun willig ist. Er sprach frei davon, ohne auf meine schrittweise vorgehenden Andeutungen zu warten. „Gewiß will ich dem Mann helfen, so viel ich kann,“ sagte er. „Es ist eine Gottesschande, daß ein so gelehrter und tüchtiger Herr unter gemeinen Halunken im Zuchthause sitzt. Ich würde ihm selbst heraushelfen, wenn ich nicht für Frau und Kinder zu sorgen hätte.“ Seine Entrüstung über die Behandlung, die Kinkel erfahren, schien so ehrlich, und die ganze Art des Mannes drückte so viel Mut und Entschlossenheit aus, daß ich dachte, auch ohne die gewöhnlichen Umwege mit ihm zum Ziele zu kommen. So sagte ich ihm denn ohne weiteres, daß, wenn der Lebensunterhalt seiner Familie sein größtes Bedenken sei, ich wohl imstande sein werde, dafür zu sorgen. Wenn dies geschähe, würde er dann, fragte ich, bereit sein, zur Befreiung Kinkels hülfreiche Hand leisten? „Wenn es gemacht werden kann,“ antwortete er. „Aber Sie sehen ein, es ist eine schwierige und gefährliche Sache. Ich will mir’s überlegen, ob und wie es gelingen kann. Geben Sie mir drei Tage Bedenkzeit.“
„Gut,“ sagte ich. „Überlegen Sie sich’s.“
„Nach Ihrer Sprache sind Sie ein Westfale,“ setzte ich hinzu.
„Ja, bei Soest zu Hause.“
[196] „Dann sind wir ja nicht entfernte Nachbarn. Ich bin ein Rheinländer. In drei Tagen also, Landsmann.“
Das waren lange drei Tage, die ich in Dr. Falkenthals Quartier zubrachte. Ich beschwichtigte meine Ungeduld damit, daß ich Dumas’ „Drei Musketiere“ und einen großen Teil von Lamartines „Geschichte der Girondisten“ las. Aber das Buch sank mir nicht selten in den Schoß, und meine Gedanken schweiften abseits.
Am Abend des dritten Tages fuhr ich wieder nach Spandau, und es fiel mir eine schwere Last vom Herzen, als ich Brunes erstes Wort hörte. „Ich habe mir’s überlegt,“ sagte er. „Ich glaube, es wird gehen.“
Ich hätte ihm um den Hals fallen mögen. Brune setzte mir nun auseinander, wie in einer Nacht, wenn er die Wache in den oberen und ein gewisser anderer Beamter die Wache in den unteren Räumen des Zuchthauses habe, er sich die nötigen Schlüssel verschaffen und Kinkel an das Tor des Gebäudes bringen wolle. Der Plan, den er mir darlegte, und auf dessen Einzelheiten ich zurückkommen werde, schien ausführbar. „Aber“, setzte Brune hinzu, „es wird noch einige Zeit dauern, bis alles in rechter Ordnung ist. In der Nacht vom 5. auf den 6. November sind die Nachtwachen, wie sie sein sollen.“
„Gut,“ antwortete ich. „Auch ich brauche noch einige Zeit für nötige Einrichtungen.“
Dann eröffnete ich Brune, was ich für seine Familie zu tun imstande sei. Es stand mir eine Summe Geldes zur Verfügung, die teils von deutschen Parteigenossen, teils von persönlichen Freunden oder Bewunderern Kinkels, darunter die russische Baronin Brüning, von der noch mehr die Rede sein wird, zusammengesteuert worden war. Diese Summe erlaubte mir, Brune einen anständigen Vorschlag in bezug auf die Versorgung seiner Familie zu machen. Brune war damit zufrieden. Die Frage, ob es nicht am besten sein werde, ihn mit den Seinigen nach Amerika zu befördern, verneinte er sofort, – sei es, daß er hoffte, als Helfer bei dem Unternehmen unentdeckt zu bleiben, oder daß er vorzog, im Falle der Entdeckung seine Strafe zu erdulden und seine Familie im Vaterlande zu behalten.
Wir waren also einig. Nun ging es an die unmittelbaren Vorbereitungen. Frau Kinkel hatte mich angewiesen, die zur Verfügung stehende Summe in Berlin bei einer ihr befreundeten Dame, einer Verwandten des berühmten Felix Mendelssohn-Bartholdy, persönlich abzuholen. Es war gegen Abend, als ich an dem mir bezeichneten Hause ankam. Ich wurde von einem feierlichen Diener, dem ich meinen Namen, Heribert Jüssen, gab, in einen großen Salon gewiesen, in welchem alles, Möbel, Bilder, Bücher, musikalische Instrumente, ein elegantes Behagen atmete. Ich hatte eine Weile zu warten, und der Kontrast zwischen meinem wilden Geschäft und dieser Umgebung wurde mir recht fühlbar. Endlich trat eine in Schwarz gekleidete Dame ein, deren Züge ich im Dämmerlicht eben unterscheiden konnte. Sie war nicht mehr jung und auch nicht gerade schön, aber ihre Erscheinung strahlte Anmut aus. In ihrer Hand trug sie eine große Brieftasche.
„Sie bringen mir Grüße von einer Freundin aus dem Rheinland?“ sagte sie fragend mit einer wohltuenden Altstimme.
[197] „Herzliche Grüße,“ antwortete ich. „Und diese Freundin schickt mich, um Sie um ein Paket mit wertvollen Papieren zu bitten, das sie zu gütiger Aufbewahrung in Ihre Hand niedergelegt hat.“
„Ich wußte, daß Sie um diese Zeit kommen würden,“ entgegnete die Dame. „In dieser Brieftasche finden Sie alles. Ich kenne Ihre Pläne nicht, aber sie müssen gut sein. Sie haben meine aufrichtigsten Wünsche. Gott schütze und segne Sie.“
Damit reichte sie mir ihre vornehme, schlanke Hand mit warmem Druck, und ich fühlte, nachdem ich sie verlassen, als wäre ihr Segen schon zur Wirklichkeit geworden.
Das Geld war mir eine schwere Sorge. Niemals hatte ich für fremdes Eigentum eine solche Verantwortlichkeit getragen. Um diese kostbare Summe keinem Zufalle auszusetzen, führte ich sie in einer Brusttasche, die ich sorgfältig zunähte, beständig mit mir herum.
Die schwierigste Aufgabe, die ich vor der entscheidenden Stunde noch zu lösen hatte, bestand darin, für Transportmittel nach einem sicheren Zufluchtsort zu sorgen. Wohin sollten wir uns wenden, nachdem die Befreiung des Gefangenen gelungen sein würde? Die Grenzen der Schweiz, Belgiens und Frankreichs waren zu weit entfernt. Die lange Landreise konnten wir nicht wagen. Es blieb also nichts übrig, als irgendwo die Seeküste zu gewinnen und dann zu Schiff nach England zu fliehen. Nach kurzer Überlegung kam ich zu dem Schluß, daß die Regierung Anstalt treffen werde, in den Häfen von Bremen und Hamburg jedes abgehende Fahrzeug mit Argusaugen zu bewachen. Es schien mir daher geboten, einen anderen Hafenplatz zu wählen, und so wendete ich mich nach Mecklenburg. In Rostock hatten wir in dem hervorragenden Advokaten und Präsidenten des Abgeordnetenhauses Moritz Wiggers, den ich auf dem Demokratenkongreß in Braunschweig persönlich hatte kennen lernen, einen einflußreichen und treuen Freund. Auch war Rostock zu Wagen am schnellsten zu erreichen – denn den Eisenbahnen durften wir uns nicht anvertrauen – und die Reise dahin bot noch den Vorteil, daß, wenn wir Spandau um Mitternacht verließen, wir hoffen durften, vor Tagesanbruch die mecklenburgische Grenze zu erreichen und so der unmittelbarsten Verfolgung durch preußische Polizei zu entgehen. Auch hatte ich auf meiner Liste zuverlässiger Personen eine ansehnliche Zahl von Mecklenburgern, an die ich mich um Hülfe wenden konnte.
Nun unternahm ich es, die Route, die ich zu nehmen gedachte, entlang zu reisen und mit den Gesinnungsgenossen, die ich auf ihr, oder rechts und links davon, finden würde, für die entscheidende Nacht und den darauf folgenden Tag Verabredungen für Relais von Pferden und Wagen zu treffen. Natürlich durften das nur Privatfuhrwerke sein, womöglich von den Eigentümern selbst kutschiert. Bis dahin war es gelungen, mein Geheimnis auf einen sehr kleinen Kreis zu beschränken. Nun aber wurde es nötig, eine größere Zahl von Personen ins Einverständnis zu ziehen, und damit wuchs die Gefahr. Was ich am meisten fürchtete, war nicht böswilliger Verrat, sondern übergroßer und indiskreter Eifer. Überall kam man mir mit biederer Herzlichkeit entgegen, und diese Herzlichkeit beschränkte sich nicht auf die politischen [198] Glaubensbrüder. Davon hatte ich ein merkwürdig überraschendes Beispiel. Im Innern von Mecklenburg wurde mir ein Mann von hervorragender Stellung, dessen Name jedoch nicht auf meiner Liste stand, als besonders vertrauenswert und hülfsbereit von meinen demokratischen Freunden bezeichnet. Ich besuchte ihn und wurde sehr freundlich empfangen. Auch sagte er mir bei der Aufstellung der Relais seine Mitwirkung ohne Umstände zu. Dann kamen wir auf Politik zu sprechen, und zu meinem größten Erstaunen erklärte mir mein neuer Freund, daß er unsere demokratischen Ideen für gutgemeinte, aber eitle Phantastereien halte. Mit großem Behagen setzte er mir auseinander, wie seiner Meinung nach die menschliche Gesellschaft am schönsten aussehe und auch am glücklichsten fahren werde, wenn sie recht bunt sei in ihrer Ständegliederung mit Fürsten, Rittern, Kaufleuten, Handwerkszünften, Bauern, Geistlichen und Laien, mit verschiedenen Rechten und Pflichten. Sogar die Klöster hätte er erhalten mögen mit ihren Äbten und Äbtissinnen, Mönchen und Nonnen. Kurz, von allen Phasen der menschlichen Zivilisation schien ihm die des Mittelalters als die erquicklichste. „Sie sehen,“ setzte er gemütlich hinzu, „ich bin so was man einen Vollblutreaktionär nennt, und an euere Freiheit und Gleichheit glaube ich nicht. Aber daß man den Kinkel, einen Dichter und Gelehrten, wegen seiner idealistischen Hirngespinste ins Zuchthaus gesteckt hat, das ist ein empörender Skandal, und, obgleich ein gut konservativer Mecklenburger, bin ich jederzeit bereit, ihm fortzuhelfen.“ So schieden wir denn voneinander im besten Einverständnis. Aber so ganz geheuer war mir doch nicht dabei, und ich sprach nachher mit meinen demokratischen Freunden in Mecklenburg von den sonderbaren Reden dieses Mannes und meiner Besorgnis. „Darüber können Sie sich beruhigen,“ war die Antwort. „Er ist allerdings ein kurioser Heiliger und schwätzt wunderliches Zeug. Aber wenn es eine gute Tat zu tun gilt, so ist er treu wie Gold.“ Und so bewies er sich auch.
Nach einer Rundreise von einigen Tagen waren meine Relais angeordnet und ich durfte hoffen, daß eine Fahrt von weniger als dreißig Stunden uns nach Rostock bringen würde. Dort konnten wir uns dann unseren Freunden anvertrauen, bis eine sichere Fahrgelegenheit zur See bereit sein würde. Um uns von Spandau bis zum ersten Relais zu bringen, wandte Krüger sich an einen in der Nähe wohnenden Gutsbesitzer namens Hensel, der besonders schnelle Pferde besaß und sie uns mit seinem Wagen und sich selbst als Kutscher gern zur Verfügung stellte.
Am 4. November nahm ich von Dr. Falkenthal Abschied. Er war mit meinem Plane im allgemeinen bekannt, aber ich hatte es nicht nötig gefunden, ihm alle Einzelheiten mitzuteilen. So wußte er nicht genau, in welcher Nacht der Befreiungsversuch gemacht werden sollte, und er war auch diskret genug, nicht mit Fragen in mich zu dringen. Aber beim Lebewohl schenkte er mir ein paar Pistolen, die mir dienen sollten, wenn ich ins Gedränge käme. Nachdem ich am Abend des 4. November in Spandau angelangt war, hatte ich noch eine Unterredung mit Brune, in welcher wir alle Details unseres Planes wiederum durchsprachen, um uns zu vergewissern, daß nichts vernachlässigt worden sei. Alles, so schien es, war in Ordnung.
[199] „Nun noch eine Sache, von der ich nicht gern spreche,“ sagte Brune, als wir mit dem Hauptgeschäft zu Ende gekommen waren.
Ich horchte auf. „Was ist es?“
„Ich vertraue Ihnen durchaus,“ fuhr Brune fort. „Was Sie versprochen haben, für meine Familie zu tun, das werden Sie redlich tun, wenn Sie können.“
„Freilich kann ich. Ich habe die Mittel in meinem Besitz.“
„Das meine ich nicht,“ warf Brune ein. „Wenn alles gut geht morgen nacht, dann bin ich des Geldes so sicher, als wenn ich es jetzt schon in meiner Tasche hätte. Das weiß ich. Aber es mag auch morgen nacht nicht alles gut gehn. Die Sache ist gefährlich. Der Zufall kann sein Spiel haben. Ihnen kann etwas Menschliches passieren und mir auch, uns beiden. Und was wird dann aus meiner Frau und meinen Kindern?“
Er schwieg, und ich einen Augenblick auch. „Nun, was wollen Sie weiter sagen?“ fragte ich dann. „Wenn Sie sich die Sache richtig bedenken,“ antwortete Brune langsam, „so werden Sie selbst einsehen, daß das Geld in den Händen meiner Familie sein muß, ehe ich meinen Kopf wage.“ „Sie meinen selbst, daß ich mir die Sache bedenken soll“, sagte ich nach einigem Zaudern. „Ich will mir also überlegen, wie es zu machen ist, und Ihnen so bald wie möglich Bescheid geben. Wollen Sie unterdessen alles der Abrede nach fertig machen?“
„Verlassen Sie sich drauf.“
Damit sagten wir uns gute Nacht.
Die Stunde, die ich dann in der Einsamkeit meines Zimmers im Krügerschen Gasthause mit mir selbst zu Rate gehend zubrachte, werde ich nie vergessen.
Das Geld, eine nach meinen Begriffen sehr große Summe, war mir für einen bestimmten Zweck anvertraut worden. Ging es verloren, ohne daß dieser Zweck erfüllt wurde, so war es um Kinkel geschehen, denn eine solche Summe ließ sich schwerlich zum zweitenmal für ihn aufbringen. Meine persönliche Ehre war auch verloren, denn ich hatte dann den Verdacht der Unredlichkeit auf mir, – oder im besten Falle den Vorwurf sträflichen Leichtsinns. Und war es nicht wirklich sträflicher Leichtsinn, einem mir unbekannten Menschen, auf ein bloßes Versprechen hin, ohne weitere Garantie, das mir anvertraute Geld auszuliefern? Was wußte ich von Brune? Nichts, als daß sein Gesicht und seine äußere Haltung auf mich einen günstigen Eindruck gemacht hatten, und daß er bei seinen Bekannten in gutem Rufe stand. Und diese Bekannten hatten mir gesagt, sie würden mir Brune zu allererst zugeführt haben, hätten sie nicht gedacht, daß ein Mann wie Brune sich schwerlich auf mein Ansinnen einlassen würde. Freilich hatten sie hinzugesetzt, daß, wenn er das täte, man sich auf ihn am zuversichtlichsten würde verlassen können. Aber war nicht für einen Menschen in seiner Stellung die Gelegenheit, sich eine solche Summe Geldes anzueignen und dann seine Amtstreue durch meine Auslieferung an die Behörden zu beweisen, im höchsten Grade verführerisch? Und würde nicht derjenige, der einen solchen Verrat im Sinne führte, genau so handeln wie Brune? Würde er nicht durch die bestimmtesten Versprechen und [200] scheinbare Vorbereitung mich auf den Gipfel der Hoffnung geführt haben, um mir unter irgendeinem schlauen Vorwande das Geld abzulocken und mich dann um so leichter zu verderben?
Auf der andern Seite – konnte Brune denn eigentlich anders handeln, auch wenn er es ehrlich meinte? Konnte er seine Frau und seine Kinder der Laune des Zufalls preisgeben? Mußte er nicht, um die Seinigen sicherzustellen, das Geld im voraus verlangen? Würde ich nicht in seiner Lage gerade so handeln wie er?
Ferner, sah Brune aus wie ein Verräter? Konnte ein Verräter mir so in die Augen blicken und so zu mir sprechen, wie Brune? War sein gerades, offenes, biederes, ja stolzes Wesen das eines Menschen, der einen andern in einen Hinterhalt lockt, um ihn zu berauben? Unmöglich.
Und schließlich, wie konnte ich hoffen, zu gewinnen, wenn ich nicht wagen wollte? Sollte ich die Befreiung meines Freundes aufgeben, weil ich Brune eine Forderung zu bewilligen zauderte, die jeder andere unter denselben Umständen an mich stellen würde? Es war klar, wollte ich Kinkel seinem furchtbaren Schicksal entreißen, so mußte ich auch meine Ehre aufs Spiel setzen.
Der Gedanke, das Geld für Brune in dritter Hand zu hinterlegen, war mir natürlich auch gekommen, aber ich verwarf ihn, teils, weil das zu neuen Verwicklungen hätte führen können, teils auch, weil ich, wenn nun einmal gewagt werden mußte, in einer Weise zu wagen vorzog, die von Brune als ein Beweis meines Vertrauens in seine Ehrlichkeit genommen werden mußte.
Ich erinnere mich, daß der Krieg in Schleswig-Holstein, damals auf deutscher Seite nur von der schleswig-holsteinischen Armee geführt, noch im Gange war. In diese Armee, dachte ich, könnte ich unter irgendeinem Namen als Freiwilliger eintreten und auf dem Schlachtfelde mein Schicksal suchen, wenn mein Unternehmen in Spandau fehlschlüge und das Geld verloren ginge, ich persönlich aber davonkäme. Meine Freunde würden dann wenigstens an meine Ehrlichkeit glauben. Dies war der Gang meiner Überlegung, die mich zu dem Entschlusse führte, Brune das Geld vor der Erfüllung seines Versprechens in die Hand zu geben. Ich war eben mit mir selbst darüber einig geworden, als Herr Krüger anklopfte und sagte, Poritz und Leddihn seien unten; ob ich noch etwas zu bestellen hätte. „Ja,“ antwortete ich, „ich möchte sie bitten, mir Brune in einer Viertelstunde noch einmal auf den Heinrichsplatz zu bringen.“
In einer Viertelstunde fand ich Brune dort mit meinen Freunden. Ich nahm ihn abseits.
„Herr Brune,“ sagte ich, „ich wollte Sie nicht mit einem Zweifel zu Bett gehen lassen. Wir sprachen von dem Geld. Das Geld ist mir anvertrautes Gut. Meine Ehre hängt daran. Ich vertraue Ihnen ganz, Geld, Ehre, Freiheit, alles. Sie sind ein braver Mann. Ich wollte Ihnen heute nacht noch sagen, daß ich Ihnen morgen abend um fünf Uhr das Geld in Ihre Wohnung bringen werde.“
Brune schwieg eine Augenblick. Endlich atmete er auf und sagte: „Ich hätt’s auch wirklich ohne das getan. Morgen um Mitternacht ist Ihr Freund Kinkel ein freier Mann.“
[201] Ich schlief die Nacht in Spandau und brachte den größten Teil des folgenden Tages damit zu, daß ich mit Krüger, Leddihn und Poritz jede mögliche Chance des Unternehmens durchsprach, um für alle bis dahin noch nicht vorgesehenen Fälle Vorsorge zu treffen. Endlich brach die Dunkelheit ein. Ich packte das Geld für Brune wohlgezählt in eine kleine Zigarrenkiste und ging nach seiner Wohnung. Ich fand ihn in seiner ärmlichen, aber sauberen Stube allein, händigte ihm die Zigarrenkiste ein und sagte: „Hier ist es; zählen Sie es.“
„Da kennen Sie mich schlecht“, antwortete er. „Wenn’s bei uns nicht aufs Wort ginge, hätten wir nichts miteinander anfangen sollen. Was von Ihnen kommt, zähle ich nicht nach.“
„Ist irgend etwas an unserm Plane zu ändern?“
„Nichts.“
„Auf Wiedersehen also heute nacht!“
„Auf Wiedersehen und gut Glück!“
In der Tat hatten wir guten Grund, das Gelingen unseres Planes mit Zuversicht zu erwarten, wenn uns nur der Zufall keinen Strich durch die Rechnung machte. Das Zuchthaus lag in der Mitte der Stadt – ein großes, kasernenartiges Gebäude, dessen kahle Wände von einem Tor und einer Menge enger Fensterluken durchbrochen waren –, auf allen vier Seiten von Straßen umgeben. Nach der Hauptstraße zu befand sich das Tor, durch das man zunächst in einen großen Torweg trat. Innerhalb des Torwegs gab es auf der rechten Seite eine Tür, die in die Amtswohnung des Gefängnisdirektors, und auf der linken eine andere, die in die Soldatenwachtstube führte. Am Ende des Torwegs öffnete sich eine dritte Tür auf einen innern Hof. Eine steinerne Treppe, die in den Torweg mündete, verband das Erdgeschoß mit den oberen Stockwerken. Auf dem zweiten Stockwerke über dem Erdgeschoß lag Kinkels Zelle. Sie hatte ein Fenster nach der Rückseite des Gebäudes. Dieses Fenster war durch einen Blechkasten verwahrt, der, an der unteren Seite fest an die Mauer geschlossen, sich nach oben schief öffnete, so daß das Tageslicht von oben einfiel und von der Zelle aus nur ein kleines, quadratisch abgegrenztes Stückchen Firmament, von der irdischen Umgebung aber gar nichts sichtbar war. Außerdem hatte das Fenster starke Eisenstäbe, ein enges Drahtgitter und einen hölzernen Laden, der nachts verschlossen wurde, – kurz, all die Vorkehrungen, die gewöhnlich angewandt werden, um einen Gefangenen von aller Verbindung mit der Außenwelt abzuschließen. Außerdem war die Zelle durch ein starkes vom Fußboden bis zur Decke reichendes Lattengitter mit ebenso starken Querriegeln in zwei Abteilungen geschieden. In der einen stand Kinkels Bett; in der andern hatte er während des Tages seine Arbeit zu verrichten. Die beiden Abteilungen waren durch eine Tür im Lattengitter verbunden, die abends verschlossen wurde. Der Eingang der Zelle von dem Treppenflur aus war mit zwei schweren, mit mehreren Schlössern versehenen Türen verwahrt. Auf der Straße, nach welcher Kinkels Zelle hinaus sah, stand Tag und Nacht eine Schildwache. Ein anderer Posten bewachte während des Tages das Tor des Gebäudes an der Hauptstraße, wurde aber des Nachts auf den inneren Hof versetzt – eine Einrichtung, die uns [202] in der Folge sehr wichtig wurde. Die Zelle, Türen, Schlösser und Gitter wurden mehrmals während der vierundzwanzig Stunden von wachthabenden Beamten revidiert.
Die Schlüssel zu Kinkels Zelle, sowie zu der Tür des Lattengitters in deren Innern wurden des Nachts, nachdem Kinkel in der innern Abteilung eingeschlossen worden, in einem Spinde verwahrt, das sich in der Stube der Inspektoren des Zuchthauses, der sogenannten Revierstube, befand. Da Brune des Nachts zur Revierstube nicht Zutritt hatte und der Schlüssel dazu einem andern, höhern Beamten anvertraut war, so verschaffte er sich von diesem Schlüssel, der während des Tages im Schlosse stak, gelegentlich einen Wachsabdruck, nach welchem meine Spandauer Freunde ein Duplikat anfertigten, das sie Brune zustellten, um ihm den nächtlichen Eintritt in die Revierstube zu ermöglichen. Der Schlüssel zu dem Spinde, das Kinkels Zellenschlüssel verwahrte, wurde, wie Brune wußte, des Abends immer auf das Spind selbst gelegt, so daß er ohne Schwierigkeit sich der Zellenschlüssel bemächtigen konnte. So glaubte sich also Brune in den Stand gesetzt, Kinkel aus seiner Zelle herauszubringen. Nun war verabredet, daß Brune, der in der Nacht vom 5. auf den 6. November auf Kinkels Korridor die Wache hatte, Kinkel, nachdem er ihn aus der Zelle geholt, die Treppe herunter über den Korridor des ersten Stockwerks und dann weiter herunter in den Torweg führen sollte. Auf dem ersten Stockwerk hatte in jener Nacht der Gefangenenwärter Beyer die Aufsicht. Brune nahm es auf sich, Kinkel ungefährdet an Beyer vorüber zu bringen. Ob er diesen auch ins Interesse ziehen, oder in irgend einer Weise zur Zeit anderwärtig beschäftigen und so seine Aufmerksamkeit ablenken wollte, sagte Brune mir nicht. Er versicherte mir nur, ich könne mich darauf verlassen, daß es damit keine Schwierigkeit haben werde. Sobald nun Kinkel in den Torweg heruntergeführt war, sollte ich ihn dort in Empfang nehmen. In einem der Flügel des großen Tors, das sich nach der Hauptstraße öffnete, befand sich ein kleines Pförtchen zum Zweck der Erleichterung des Personenverkehrs. Von dem Schlüssel zu diesem Pförtchen hatten wir uns ebenfalls einen Wachsabdruck verschafft und danach einen Nachschlüssel angefertigt. Meine Aufgabe war es nun, kurz nach Mitternacht, nachdem der Nachtwächter – denn in Spandau gab es damals noch Nachtwächter mit Schnarre und Spieß – auf der Straße vorbeipassiert sein würde, das Pförtchen von der Straße aus zu öffnen, mich in das Innere des Torwegs zu begeben, dort Brune und Kinkel zu erwarten, Kinkel eine Hülle umzuwerfen, ihn durch das Pförtchen ins Freie zu führen und mit ihm nach Krügers Gasthaus zu eilen, wo er die für ihn bereitgehaltenen Kleider anlegen und dann mit mir in Hensels zur Flucht fertig stehenden Wagen steigen sollte.
Ich hatte Kinkel schon vor einiger Zeit durch Brune mit kräftigenden Speisen versehen lassen, um ihn in gutem körperlichen Zustande zu halten. Aber, um lange Aufregung zu vermeiden, wurde ihm erst am Abend des 5. November durch Brune eröffnet, daß etwas für ihn unmittelbar im Werke sei; er solle um die gewöhnliche Zeit zu Bett gehen, doch kurz vor Mitternacht wieder aufstehen, sich ankleiden und bereit sein, seinen Kerker zu verlassen.
[203] An demselben Tage hatten Leddihn und Poritz ein paar handfeste Freunde ins Vertrauen gezogen, um mit ihnen während der Nacht die nächsten Straßenecken zu besetzen, und sie im Falle der Not zur Hülfe zu haben.
Um Mitternacht waren meine Leute auf ihren Posten, und nachdem der Nachtwächter die Straße hinunter passiert war, näherte ich mich dem Tor des Zuchthauses. Ich hatte Gummischuhe über die Stiefel gezogen, um meinen Schritt unhörbar zu machen. Ein zweites Paar Gummischuhe für Kinkel führte ich bei mir. Im Gürtel unter dem Rock trug ich die Pistolen, die Falkenthal mir gegeben hatte. In einer Tasche hatte ich ein scharfes Jagdmesser und in einer andern einen fußlangen Lederstock mit schwerem Bleiknopf, einen sogenannten Totschläger, um Kinkel für den Fall der Not damit zu bewaffnen. Um die Schultern hatte ich einen weiten Mantel mit Ärmeln geworfen, der Kinkel als erste Verhüllung dienen sollte. So ausgerüstet öffnete ich leise das Pförtchen und trat in den Torweg des Gefängnisses. Das Pförtchen ließ ich angelehnt und den Schlüssel draußen im Schloß stecken. Der Torweg war durch eine von der Decke herabhängende Laterne matt erhellt. Rechts sah ich die Tür, die in das Quartier des Zuchthausdirektors Jeserich führte; links die Tür der Wachtstube. Es war mein Geschäft, das Öffnen dieser Türen von innen zu verhindern, indem ich mit einer starken Schnur die äußeren Türklinken an die Schellenzüge festband. Nichts regte sich. Mein Blick war auf das gegenüberliegende Ende des Torwegs geheftet, wo Brune mit Kinkel erscheinen sollte.
So wartete ich. Eine Minute nach der andern verging – alles blieb totenstill. Ich mochte bereits eine Viertelstunde gewartet haben – noch immer regte sich nichts. Was bedeutete das? Aller Berechnung nach hätten sie längst herunter sein können. Meine Lage fing an mir sehr bedenklich zu scheinen. War Brune doch untreu? Ich zog eine meiner Pistolen aus dem Gürtel und hielt sie schußfertig in der linken Hand, mein Jagdmesser in der rechten. Doch nahm ich mir vor, auf meinem Posten zu bleiben, bis ich mir sagen könnte, die letzte Chance des Gelingens sei vorüber. Es mochte schon eine halbe Stunde vergangen sein, und noch alles still wie das Grab. Plötzlich hörte ich eine leise Bewegung, und an dem andern Ende des Torwegs sah ich eine dunkle Gestalt erscheinen, als wäre sie, wie ein Gespenst, aus der Mauer herausgetreten. Meine Hände schlossen sich fester um meine Waffen. Im nächsten Augenblick erkannte ich im matten Licht Brune. Da war er endlich, aber allein. Er legte den Finger auf den Mund und näherte sich mir. Ich erwartete ihn, auf alles gefaßt.
„Ich bin unglücklich“, flüsterte er kaum hörbar mir zu. „Ich habe alles versucht. Es ist mißlungen. Die Schlüssel waren nicht in dem Spinde. Kommen Sie morgen zu mir und holen das Geld wieder.“
Ich antwortete nichts, sondern löste schnell die Schnüre an den Türklinken und trat dann durch das Pförtchen zurück, schloß es ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Kaum war ich auf der Straße, als Leddihn und Poritz zu mir eilten. Mit wenigen Worten erzählte ich ihnen im Davongehen, was geschehen war. „Wir fürchteten schon, es wäre Ihnen etwas passiert“, sagte Leddihn. „Sie blieben so lange [204] drinnen, daß wir auf dem Punkte waren, Ihnen nachzukommen, um Sie herauszuholen.“
Bald hatten wir Krügers Gasthaus erreicht, wo Hensel mit seinem Wagen bereit stand, Kinkel und mich hinweg zu führen. Die Enttäuschung, die meinem Bericht folgte, war entsetzlich.
„Aber es gibt diese Nacht noch etwas zu tun“, sagte ich. „Meine Relais stehen auf der Landstraße bis tief nach Mecklenburg hinein. Die müssen wir abbestellen.“
Ich stieg in den Wagen, eine offene Kalesche mit Kappe über dem Hintersitz. Hensel ergriff die Zügel, und so rollten wir davon. Es war eine traurige Reise. Wir mochten etwas über drei Stunden in der finsteren Novembernacht gefahren sein, als wir auf dem Kutscherbock eines Fuhrwerks, das uns entgegen kam, Funken sprühen sahen. Ich hatte Stahl und Stein bei der Hand und schlug ebenfalls Funken. Dies war das Erkennungssignal, das ich mit den Mecklenburger Freunden verabredet hatte. Der uns entgegenkommende Wagen hielt an, der unsrige auch.
„Ist das der Richtige?“ fragte eine Stimme von drüben. – Dies war die verabredete Frage.
„Es ist der Richtige“, antwortete ich. „Aber die Sache ist mißlungen. Bitte, fahren Sie zurück und sagen es dem nächsten Relais, und ersuchen Sie unsern Freund da, die Nachricht so weiter zu bringen. Aber um Gotteswillen, im übrigen tiefes Stillschweigen, sonst ist alles verloren.“ „Versteht sich. Aber das ist eine verfluchte Geschichte. Wie ging denn das zu, daß es mißlungen ist?“
„Ein andermal, und gute Nacht!“
Die beiden Wagen drehten um. Wir fuhren wieder auf Spandau zu, aber recht langsam, fast wie ein Leichenzug. Beide saßen wir schweigend und hingen unsern Gedanken nach. Ich machte mir schwere, quälende Vorwürfe. Hätte nicht dem unglücklichen Zufall, der unsern Plan durchkreuzt, leicht vorgebeugt werden können? Hätten wir nicht ebensogut wie von dem Schlüssel zum Tor und zu der Revierstube, uns auch von den Zellenschlüsseln Duplikate verschaffen können? Gewiß. Aber warum war es nicht geschehen? Warum hatte Brune nicht daran gedacht? Aber wenn Brune nicht daran dachte, war es nicht meine Pflicht gewesen, daran zu denken? So hatte ich meine Pflicht versäumt. Mein, mein war die Schuld an diesem entsetzlichen Fehlschlag. Mein die Verantwortlichkeit dafür, daß Kinkel nicht jetzt ein freier Mann war und hinter schnellen Pferden der Seeküste zueilte. Die Frucht monatelanger und gefahrvoller Arbeit war durch mich gedankenlos, leichtsinnig verscherzt worden. Würde ich jemals imstande sein, die zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen? Und wenn auch – war es nicht wahrscheinlich, daß durch die Unvorsichtigkeit irgend eines Beteiligten Gerüchte von dem Geschehenen entstehen und Kinkel mit strengeren Vorsichtsmaßregeln umgeben oder gar in eine andere und sicherere Strafanstalt versetzt werden würde? Und wenn auch dieses nicht – wo war das mir anvertraute Geld? Nicht mehr in meinem Besitz – in eines anderen Menschen Hand, der es behalten konnte, wenn er nur wollte – und ich ganz machtlos, es wieder zu erlangen. Und somit mochte Kinkels [205] grauenvolles Schicksal durch meine Schuld für immer besiegelt sein. So marterte mich mein Gewissen in jener furchtbaren Nacht.
Endlich unterbrach Hensel das Schweigen. „Wie wär’s, wenn wir in Oranienburg auf ein paar Stunden einkehrten?“ sagte er. „Wir könnten dort die Pferde füttern lassen, ein wenig schlafen und dann in aller Gemütlichkeit weiterfahren.“ Ich war’s zufrieden. Ich fing an, mich sehr ermattet zu fühlen; und dann, sollte von den Ereignissen der Nacht in Spandau etwas laut geworden sein und somit irgendwelche Gefahr drohen, so dachte ich, der kluge und wachsame Krüger würde uns jemanden entgegenschicken, um uns zu warnen.
Es war noch tief dunkel, als wir in Oranienburg an einem Herrn Hensel bekannten Gasthause abstiegen. Nachdem ich mich von meinen Gedanken noch eine Zeitlang hatte quälen lassen, schlief ich endlich ein. Als ich erwachte, schien der helle Tag durchs Fenster meines Zimmers. Mit mir erwachte auch wieder das Bewußtsein der ganzen Schwere unseres Mißgeschicks, jetzt mit noch größerer Klarheit als während der vergangenen Nacht. Solch ein Erwachen gehört zu den unglücklichsten Momenten des menschlichen Lebens.
Wir frühstückten spät, und es war bei dieser Gelegenheit, daß ich meinen Begleiter, den Gutsbesitzer Hensel, zum erstenmal in hellem Tageslicht ins Auge fassen konnte. Ich hatte ihn bei Krüger und auf unserer Fahrt nur in der Dunkelheit gesehen. Die stattliche breitschultrige Gestalt und der lange dunkle Vollbart waren mir damals schon aufgefallen; aber jetzt erst konnte ich ihm in die klaren, klugen und zugleich kühn blitzenden Augen blicken und den Gesichtsausdruck unterscheiden, der Willenskraft sowohl wie Aufrichtigkeit und Herzensgüte aussprach. Hensel sah wohl, wie mir zumute war; er versuchte heiter auszusehen und mich darüber zu beruhigen, daß all unsere Freunde in Spandau nicht allein treu, sondern auch diskret seien, und daß die Gefängnisbeamten in ihrem eigenen Interesse schweigen würden; ein neuer Versuch würde also bald wieder möglich sein. Ich stimmte ihm gern zu. In der Tat erfüllte mich schon der Gedanke an das, was nun zu tun sei, der Gedanke, der stets der wirksamste Trost für vergangenes Unglück ist. Ich habe im Leben oftmals die Erfahrung gemacht, daß, wenn uns ein recht schwerer Schlag trifft, wir nichts Besseres tun können, als uns im Geiste zuerst alle, auch die schlimmsten Seiten des Unheils möglichst klar vorzuführen und so den Becher der Bitternis bis auf den letzten Tropfen zu trinken, dann aber die Gedanken der Zukunft zuzuwenden und ganz mit dem zu beschäftigen, was getan werden muß, um den Schaden wieder gut zu machen, oder das unwiederbringlich Verlorene durch anderes Wünschenswertes zu ersetzen. Das ist sichere und rasche Heilung – es sei denn, daß das Verlorene ein sehr teurer Mensch war.
Mit der Rückfahrt nach Spandau hatten wir keine Eile. Wir hielten es sogar für geraten, erst mit dem Abenddunkel dort einzutreffen, und so setzten wir uns denn erst nachmittag in langsamen Trab in Bewegung. In Spandau angekommen, erfuhr ich von Krüger, daß alles ruhig geblieben war. Sofort ging ich zu Brunes Wohnung. Ich fand ihn in seiner Stube. Er hatte mich offenbar erwartet. Das Zigarrenkistchen stand auf dem Tisch.
[206] „Das war eine verdammte Geschichte letzte Nacht“, sagte er. „Ich konnte nicht dafür. Alles war in der schönsten Ordnung, aber als ich das Spind in der Revierstube aufschloß, fand ich die Schlüssel zur Zelle nicht. Ich suchte und suchte, aber sie waren nicht da. Heut morgen hörte ich, daß der Inspektor Semmler sie ganz zufällig, statt sie in das Spind zu legen, aus Vergeßlichkeit in der Tasche mit nach Hause genommen hatte.“
Er schwieg einen Augenblick.
„Da ist das Geld“, fuhr er fort, auf das Zigarrenkistchen deutend. „Nehmen Sie es mit, oder zählen Sie es erst. Es fehlt kein Taler daran.“
Ich konnte nicht umhin, dem Mann die Hand zu drücken und ihm im Herzen meine Zweifel abzubitten.
„Was von Ihnen kommt“, antwortete ich, seine gestrigen Worte wiederholend, „wird nicht nachgezählt.“
„Aber was nun? Ich gebe nicht auf. Müssen wir warten, bis Sie wieder die Nachtwache haben?“
„Wir könnten warten“, versetzte er, „und uns mittlerweile all die Schlüssel nachmachen lassen, so daß uns nicht mehr eine so dumme Geschichte passiert. Aber“, setzte er hinzu, „ich habe mir heute die Sache bedacht – bei Gott, es ist eine Schande, daß der Mann da noch einen Tag länger sitzen soll –, ich will versuchen, ihm diese Nacht herauszuhelfen, wenn er Mut zu einem halsbrecherischen Stück hat.“
„Was? diese Nacht?“
„Ja, diese Nacht. Hören Sie mir nur ruhig zu.“ Nun erzählte mir Brune, der Beamte, der in der kommenden Nacht die Wache auf dem oberen Stockwerk habe, sei krank geworden, und er, Brune, habe sich erboten, den Dienst für ihn zu versehen. Darauf habe er sich überlegt, er könne Kinkel ohne besondere Schwierigkeit auf den Söller unter dem Dachstuhl bringen und ihn dann mit einem Seil aus der Dachluke auf die Straße herunterlassen. Dazu brauche er allerdings die Zellenschlüssel wieder, aber nachdem gestern abend der Inspektor diese in der Zerstreutheit mit sich nach Hause genommen, würde er sie diese Nacht gewiß an dem gewöhnlichen ordnungsmäßigen Platz niederlegen. Ich sollte nur dafür sorgen, unten die Straße frei zu halten, während Kinkel vom Dach heruntergelassen würde, und ihn dann prompt in Empfang nehmen und fortschaffen.
„Es ist eine etwas halsbrechende Geschichte“, setzte Brune hinzu. „Von der Dachluke bis auf die Straße mag’s wohl sechzig Fuß sein. Aber wenn der Herr Professor Mut dazu hat, so glaube ich, daß es gehen wird.“
Für Kinkels Mut konnte ich einstehen. Was wagt ein Gefangener nicht für seine Freiheit?
Die Einzelheiten waren bald besprochen und festgestellt. Ich übernahm es, Brune sofort das nötige Seil zu schaffen. Er wollte es sich dann unter seinem Überrock um den Leib wickeln und so mit ins Zuchthaus nehmen. Ich sollte dann zur Mitternachtsstunde in der tiefen Türnische eines dem Tor des Zuchthauses schräg gegenüberliegenden Hauses stehen und nach den Dachluken des Gebäudes hinaufblicken. [207] Wenn ich in einer Luke den Schein einer in senkrechter Linie auf und ab bewegten Laterne sähe, so würde das ein Zeichen sein, daß oben alles gut stehe und Kinkel bereit sei, heruntergelassen zu werden. Wenn ich dann, in meiner Türnische stehend, mit Stahl und Stein Funken schlüge, so würde Brune das als ein Signal verstehen, daß unten auf der Straße alles in Ordnung sei, um Kinkel zu empfangen.
Mit herzlichem Händedruck nahm ich von Brune Abschied und eilte nach Krügers Gasthaus. Poritz und Leddihn, die ich rasch herbeiholen ließ, besorgten sofort ein Seil von gehöriger Stärke und Länge und trugen es nach Brunes Wohnung. Aber wie sollten wir Kinkel fortschaffen? Ich hatte keine Relais von Pferden und Wagen mehr auf der Landstraße. In der vergangenen Nacht hatte alles so vortrefflich geklappt. Aber was nun? Zum Glück fand ich Hensel noch bei Krüger. Auf die Nachricht, was nun in wenigen Stunden geschehen solle, brach er in lauten Jubel aus.
„Ich fahre Sie, so weit meine Pferde laufen können,“ rief er aus.
„Unser nächster Freund wohnt in Neustrelitz,“ entgegnete ich. „Das ist mehrere Poststationen von hier. Werden Ihre Pferde es bis dahin aushalten können?“
„Der Teufel hole sie, wenn sie’s nicht tun!“ sagte Hensel.
Wir mußten es daraufhin wagen und uns dem Schicksal anvertrauen.
Ein kurzes Gespräch mit Poritz und Leddihn folgte über die Maßregeln, die nötig waren, um die Straße gegen unwillkommene Eindringlinge zu sichern, während Kinkel seinen Seilschwung machte. Die Vorkehrung war einfach. Die Straßenecken auf beiden Seiten sollten meine Freunde mit ihren handfesten Genossen von der vorigen Nacht besetzen und, wenn sich etwa ein verspäteter Nachtwandler zeigte, sich angetrunken stellen und den Unwillkommenen mit munteren Schnurren zurückhalten und von dem verbotenen Wege ablenken. Im Notfalle sollte auch Gewalt gebraucht werden. Leddihn und Poritz verbürgten sich für die Ausführung.
„Köstliches Zusammentreffen,“ schmunzelte Krüger. „Heute abend wird hier im Hause Geburtstag gefeiert und mehrere Zuchthausbeamte werden dabei sein. Es gibt eine Bowle Punsch. Ich werde den Punsch besonders gut machen.“
„Und Sie werden die Beamten festhalten?“
„Ob ich sie festhalten werde! Von denen kommt Ihnen keiner in die Quere.“
Dieses Bild versetzte uns in die heiterste Laune, und wir hatten ein gemütliches kleines Souper zusammen. Unsere Gedanken waren jedoch beständig auf die Zufälle gerichtet, die uns wieder einen bösen Streich spielen könnten, und zur rechten Zeit fiel uns noch ein wichtiger Umstand ein.
Wenn Kinkel an dem Seil aus der Dachluke herunterkäme und das Seil über die Kante schnurrte, so konnte es leicht Dachschiefer oder gar Mauerziegel loslösen, die dann herunterfallen und ein lautes Geklapper machen würden. Wir verabredeten daher, daß Hensel mit seinem Wagen kurz nach zwölf langsam die Potsdamer Straße entlang am [208] Zuchthause vorbeifahren sollte, um mit dem Rasseln des Wagens auf dem schlechten Pflaster alles andere Geräusch zu übertäuben.
Um Mitternacht stand ich, ausgerüstet wie in der vorigen Nacht, wohlverborgen in der tiefen, dunklen Türnische dem Zuchthause gegenüber. Die Straßenecken zur Rechten und Linken waren der Abrede gemäß besetzt, aber die Leute hielten sich abseits. Ein paar Minuten später kam der Nachtwächter in gemächlichem Schritt die Straße herab. Gerade vor mir drehte er seine Schnarre und rief die zwölfte Stunde aus. Dann schlurfte er ruhig weiter und verschwand. Was hätte ich um ein tüchtiges Unwetter mit Sturmgebraus und klatschendem Regen gegeben! Aber die Nacht war unheimlich still. Mein Auge war fest auf das Dach des Gefängnisses gerichtet, auf dem ich die Luken in der Dunkelheit kaum unterscheiden konnte. Die spärlichen Straßenlichter flimmerten matt. Plötzlich erschien oben ein heller Schein, der mich den Rahmen einer Dachluke erkennen ließ. Der Schein bewegte sich dreimal auf und ab. Das war das gehoffte Signal. Ich warf einen schnellen Blick auf die Straße rechts und links. Nichts näherte sich. Rasch gab ich, mit Stahl und Stein sprühende Funken schlagend, meinerseits das vereinbarte Zeichen. Eine Sekunde später verschwand das Licht aus der Dachluke, und dann gewahrte ich einen dunklen Körper, der sich langsam über die Mauerkante herunterbewegte. Mein Herz klopfte heftig, und der Schweiß trat mir auf die Stirn. Da geschah, was ich befürchtet hatte. Dachschiefer und Mauerziegel, von dem rutschenden Seile gelöst, regneten mit lautem Geklapper auf das Pflaster. Nun, gütiges Schicksal, steh uns bei! In demselben Augenblick kam Hensels Wagen auf dem holperigen Pflaster rasselnd herangerollt. Man hörte das Geräusch der fallenden Ziegel nicht mehr. Aber werden diese nicht Kinkels Kopf treffen und ihn betäuben? Nun hatte der dunkle Körper beinahe den Boden erreicht. Mit wenigen Sprüngen war ich zur Stelle. Jetzt faßte ich ihn an; es war mein Freund, und da stand er lebendig auf seinen Füßen. „Das ist eine kühne Tat!“ war das erste Wort, das er mir sagte.
„Gott sei Dank!“ antwortete ich. „Nun schnell das Seil ab und dann fort!“
Ich bemühte mich umsonst, den Knoten des Seils, das um seinen Leib geschlungen war, zu lösen.
„Ich kann dir nicht helfen,“ flüsterte Kinkel. „Das Seil hat mir beide Hände furchtbar zerschunden.“
Ich zog mein Jagdmesser, und mit großer Anstrengung schnitt ich das Seil durch. Das lange Ende wurde, sobald es frei war, schleunigst nach oben gezogen. Während ich Kinkel meinen Mantel umwarf und ihm die Gummischuhe anzog, blickte er besorgt um sich. Hensels Kalesche hatte sich umgedreht und kam langsam zurück.
„Was ist das für ein Wagen?“ fragte Kinkel.
„Unser Wagen.“
Dunkle Gestalten zeigten sich an den Straßenecken und näherten sich uns.
„Um Himmelswillen, was für Leute sind das?“
„Unsere Freunde.“
[209] In einiger Entfernung hörten wir Männerstimmen singen: „Wir sitzen so fröhlich beisammen.“
„Was ist denn das?“ fragte Kinkel, während wir durch eine Seitengasse Krügers Hotel zueilten.
„Deine Kerkermeister bei einer Bowle Punsch.“
„Famos,“ sagte Kinkel.
Bei Krüger traten wir durch eine Hintertür ein und befanden uns bald in dem Zimmer, in welchem Kinkel die für ihn bestimmten Kleider anlegen sollte. Es war ein schwarzer Tuchanzug, ein großer Bärenpelz und eine Kappe, wie sie von preußischen Forstbeamten getragen wird. Von einem nahen Zimmer her erschollen noch die Stimmen der Zechenden. Krüger, der einige Minuten zugesehen hatte, wie Kinkel die Züchtlingsuniform gegen seine neue Bekleidung austauschte, entfernte sich plötzlich mit einem ihm eigenen Lächeln. Bald trat er wieder ein, einige gefüllte Gläser tragend. „Herr Professor“, sagte er, „daneben sind einige Ihrer Gefängnisbeamten bei einer Bowle Punsch. Ich habe sie eben gefragt, ob sie mir nicht ein Glas erlauben wollten für ein paar Berliner Freunde, die gerade angekommen wären. Sie hatten nichts dagegen. Nun, Herr Professor, trinken wir Ihr erstes Wohl aus der Bowle Ihrer Kerkermeister!“
Es war uns schwer, nicht vor Vergnügen über den Humor der Situation laut aufzulachen.
Kinkels Umkleidung war schnell vollendet und seine vom Seil zerrissenen blutigen Hände mit Taschentüchern verbunden. Er dankte den aufopfernden Freunden mit wenigen Worten, die sie schluchzen machten. Dann sprangen wir in Hensels Wagen. Die Zuchthausbeamten saßen und jubelten noch immer bei ihrer Bowle.
Es war angeordnet, daß unser Wagen durch das Potsdamer Tor, das auf die Straße nach Hamburg führt, aus Spandau hinausfahren und dann baldmöglichst in eine andere Richtung abbiegen sollte, um etwaige Verfolger irrezuführen. So rasselten wir denn in schnellem Trabe durch das Potsdamer Tor, und diese List gelang so gut, daß, wie wir später erfuhren, wir am nächsten Tage auf den Bericht des Torwächters hin wirklich in der Richtung von Hamburg verfolgt wurden. Ehe wir das Städtchen Nauen erreichten, bogen wir nach rechts in einen Landweg und dann in die Berlin-Strelitzer Chaussee beim Sandkruge. So scharf die Braunen traben konnten, ging es vorwärts.
Erst als ihm auf der schnellen Fahrt die kalte Nachtluft ins Gesicht wehte, schien Kinkel zum klaren Bewußtsein des Geschehenen aufzuwachen.
„Ich möchte gern Deine Hand in der meinigen halten,“ sagte er, „aber es geht nicht. Meine Hände sind zu arg geschunden.“
Er legte dann seinen Arm um meinen Nacken und drückte mich ein übers anderemal an sich.
Ich wollte ihn nicht dazu kommen lassen, seine Dankbarkeit in Worten auszusprechen, sondern erzählte ihm, wie in der vorherigen Nacht alles so vortrefflich eingerichtet gewesen, wie unser Plan durch einen unglücklichen Zufall vereitelt worden, und was für eine traurige Fahrt ich in demselben Wagen vor vierundzwanzig Stunden gemacht habe.
[210] „Das war wohl die entsetzlichste Nacht meines Lebens,“ sagte Kinkel. „Nachdem Brune mich angewiesen, ich solle mich bereit halten, erwartete ich mit der zuversichtlichsten Hoffnung die angesagte Stunde. Vor zwölf Uhr stand ich fertig. Ich horchte, wie nur ein in langer Isolierhaft geübtes Ohr horchen kann. Zuweilen hörte ich ein entferntes Geräusch von Schritten in den Gängen, aber sie wollten nicht näherkommen. Ich hörte aufmerksam die Stunden schlagen. Als Mitternacht mehr als eine Viertelstunde vorbei war, stieg mir zum erstenmal der Gedanke auf: „Ist es möglich, daß dies fehlschlägt?“ Minute nach Minute verging und alles blieb still. Da faßte mich eine Angst, die ich nicht beschreiben kann. Der Schweiß tropfte mir von der Stirn. Bis um ein Uhr hatte ich noch ein wenig Hoffnung. Als aber auch dann Brune nicht kam, gab ich alles verloren. Die grauenvollsten Bilder stiegen in meiner Einbildung auf. Der ganze Anschlag war gewiß entdeckt worden. Du warst in den Händen der Polizei und auch auf viele Jahre eingekerkert. Ich sah mich selbst als einen verelendeten Greis in der Züchtlingsjacke. Meine Frau und meine Kinder gingen vor Jammer zugrunde. Ich rüttelte an den Stäben des Lattengitters in meiner Zelle wie ein Toller. Dann fiel ich erschöpft auf meinen Strohsack. Ich glaube, ich war dem Wahnsinn nahe.“
„Nun, und diese Nacht?“
„O, diese Nacht!“ rief Kinkel aus. „Ich konnte kaum meinen Augen und Ohren trauen, als Brune mit einer Laterne in der Hand in meine Zelle trat und mir durchs Lattengitter zuflüsterte: „Schnell auf, Herr Professor! Jetzt sollen Sie heraus!“ Das war wie ein elektrischer Schlag. Im Nu war ich auf den Beinen. Aber weißt Du, daß auch diese Nacht ums Haar wieder alles in die Brüche gegangen wäre?“
Ich war aufs äußerste gespannt, und wieder und wieder lief mir’s kalt über, als Kinkel seine Geschichte erzählte.
Schon um halb zwölf war Brune in Kinkels Zelle. Er hatte diesmal die Schlüssel in dem Spinde gefunden und damit die Zellentüren geöffnet. Nachdem er Kinkel geweckt, schickte er sich an, mit einem dritten Schlüssel die Tür im Lattengitter aufzuschließen. Er versuchte und versuchte, aber umsonst. Der Schlüssel paßte nicht. – Bei den späteren Untersuchungen stellte es sich heraus, daß der Schlüssel, mit dem Brune umsonst sich anstrengte, die Lattentür zu öffnen, für das Schloß des Fensterladens bestimmt war, daß aber einer der Schlüssel für die Zellentüren auch das Lattengitter öffnete, – daß also Brune den richtigen Schlüssel in der Hand hielt, ohne es zu wissen oder ohne in der Aufregung daran zu denken.
So standen denn Kinkel auf der einen, Brune auf der andern Seite des festen Lattengitters, verblüfft und einen Augenblick ratlos. Dann ergriff Kinkel mit der Kraft der Verzweiflung eine der starken Latten und versuchte, die ganze Wucht seiner Körperschwere dagegen werfend, sie loszubrechen. Umsonst. Brune arbeitete hart mit seinem Säbel zu demselben Zweck. Vergebens.
„Herr Professor,“ sagte er dann, „Sie sollen heraus und wenn es mich das Leben kostet.“
[211] Er verließ die Zelle und kehrte nach einer Minute zurück mit einer Axt in der Hand. Mit einigen kräftigen Schlägen waren zwei Latten ein wenig von dem untern Querriegel gelöst. Die Axt, als Hebel gebraucht, löste sie noch mehr. Kinkels wütend angestrengte Kraft brach sie noch weiter auseinander und schaffte am Boden eine enge Öffnung, durch die Kinkels breitschulteriger Körper sich mühsam hindurchzuzwängen vermochte.
Aber hatten nicht Brunes Axtschläge das ganze Haus alarmiert? Die beiden lauschten mit verhaltenem Atem. Nichts regte sich. In der Tat war Brune nicht weniger klug als verwegen gewesen. Bevor er seine Axt schwang, hatte er die beiden dicken Zellentüren sorgfältig hinter sich verschlossen. Der Schall der Schläge, welcher das Innere der Zelle hatte erdröhnen machen, war durch die dicken Zwischenmauern und die schwere Doppeltüre nur sehr gedämpft nach außen gedrungen. Er hatte nicht allein keinen Schläfer geweckt, sondern sogar die Wachenden entweder gar nicht erreicht, oder auf sie den Eindruck gemacht, als wäre das Geräusch von außerhalb gekommen.
Nun verließ Brune mit Kinkel die Zelle, deren Türen er wieder verschloß. Dann hatten sie durch Korridore zu gehen und Treppen zu steigen und, in gedeckter Stellung wartend, sogar einen Nachtaufseher, der nicht im Geheimnis war, an sich vorbei passieren zu lassen. Endlich gelangten sie auf den Söller und an die Dachluke, von welcher die gefährliche Luftfahrt abwärts unternommen werden mußte. Kinkel gestand mir, daß ihn ein schwindelndes Grauen erfaßte, als er von oben auf die tief unten liegende Straße blickte und dann auf das dünne Seil, das ihn tragen sollte. Aber als er mein Feuersignal aufblitzen sah, das Brune ihm flüsternd erklärte, gewann er schnell seine Fassung wieder und schwang sich über den Abgrund. Sofort begannen die durch das Seil gelockerten Dachschiefer und Mauerziegel ihm um den Kopf zu regnen, aber keiner traf ihn. Nur die Hände, die zuerst das Seil zu hoch gegriffen, und durch die er es mußte rutschen lassen, litten schwer. Aber das war eine leichte Wunde für so harten Kampf und so großen Sieg.
Nachdem Kinkel seine Erzählung beendigt hatte, holte Hensel eine Flasche des köstlichen Rheinweins hervor, mit dem der gute Krüger uns für die Reise versehen hatte, und dann tranken wir auf die „glückliche Wiedergeburt“ und auf das Wohl des tapfern Brune, ohne dessen Treue und Unerschrockenheit all unser Planen und Arbeiten umsonst gewesen wäre. Es war ein begeisterter, glücklicher Augenblick, der uns fast vergessen ließ, daß, solange wir uns auf deutschem Boden befanden, die Gefahr nicht vorüber und unser Werk nicht ganz gelungen war.
[212]
Die Flucht.
In scharfem Trabe ging es durch die Nacht dahin. Noch höre ich den kräftigen Ruf, „Boom op!“, den Hensel erschallen ließ, so oft wir eine Chausseezollstätte mit Schlagbaum erreichten. Durch Oranienburg, Teschendorf, Löwenberg flogen wir ohne Aufenthalt. Aber als wir uns dem Städtchen Gransee, acht deutsche Meilen von Spandau, näherten, wurde es nur zu offenbar, daß unsere guten Braunen bald zusammenbrechen würden, wenn wir ihnen nicht kurze Rast und Erfrischung gönnten. So wurde denn an einem Wirtshause bei Gransee eine halbe Stunde gehalten und gefüttert. Dann weiter.
Als das Tageslicht heraufstieg, konnte ich mir Kinkel zum erstenmal genauer anschauen. Wie hatte er sich verändert, den ich noch vor wenig mehr als einem Jahr als jugendfrischen, blühenden Mann gesehen! Das kurzgeschorene Haar war grau gesprenkelt, die Gesichtsfarbe fahl, die Haut pergamentartig, die Wangen mager und schlaff, die Nase spitz und die Züge scharf eingefurcht. Wäre er mir unversehens begegnet, ich würde ihn schwerlich erkannt haben. „Sie haben dir schlimm mitgespielt,“ sagte ich.
„Ja,“ antwortete er, „es war hohe Zeit, daß du mich herausholtest. Noch ein paar Jahre und ich würde ausgebrannt, verkohlt, an Leib und Seele verheert gewesen sein. Kein Mensch, der es nicht erlitten hat, weiß, was die Isolierhaft bedeutet und die Erniedrigung, wie ein gemeiner Verbrecher behandelt zu werden. Aber nun,“ setzte er heiter hinzu, „nun beginnt ja wieder ein menschliches Leben.“
Und dann beschrieb er in seiner launigsten Weise, wie zu dieser Stunde im Zuchthaus zu Spandau die Entdeckung würde gemacht werden, daß Kinkel wie ein Vogel seiner Zelle entflogen sei, und wie ein Aufseher mit verstörtem Gesicht zu dem Direktor Jeserich stürzte, und wie dieser und die Inspektoren und das ganze Beamtenpersonal die Köpfe zusammenstecken und dann nach der höheren Behörde laufen würden; dann würden sie sich bei den Torwächtern erkundigen und von einem Wagen hören, der zwischen zwölf und eins durch das Potsdamer Tor gerasselt sei, und dann würde schleunigst ein Trupp berittener Konstabler zusammengerafft werden, um uns wie toll über Nauen nach Hamburg nachzujagen, während wir unsern Freunden in Mecklenburg Besuch machten. „Ich wünschte nur,“ bemerkte Hensel besorgt, „wir kämen etwas schneller vom Fleck.“
Es war schon heller Tag, als wir den mecklenburgischen Grenzpfahl begrüßten. Sicher fühlten wir uns da noch keineswegs, wenn auch ein wenig sicherer als auf preußischem Gebiet, denn in Mecklenburg war die Polizei harmloser. Aber der Trab unserer Pferde wurde langsamer und langsamer. Eines davon schien im höchsten Grade ermattet zu sein. So mußten wir denn am ersten mecklenburgischen Wirtshause, das wir fanden, in Dannenwalde, wieder Rast machen. Hensel wusch [213] die Pferde mit warmem Wasser. Das half ein wenig, aber nur für kurze Zeit. In dem Städtchen Fürstenberg mußten wir zu längerer Ruhe ausspannen, weil die Braunen nicht mehr weiter konnten. Erst nachmittag, nach einer Fahrt von mehr als dreizehn deutschen Meilen, erreichten wir Strelitz, wo wir an dem Stadtrichter Petermann einen begeisterten Freund und Beschützer hatten, der bereits in der vorhergegangenen Nacht an der Aufstellung der Relais beteiligt gewesen war.
Petermann empfing uns mit einer Freude, die mich fürchten ließ, er werde sich nicht enthalten können, das glückliche Ereignis aus den Fenstern den Vorübergehenden zu verkünden. In der Tat vermochte er sich’s nicht zu versagen, sofort einige Freunde herbeizuholen[1]. Bald gab’s ein reichliches Mahl mit heiterm Gläserklang, währenddessen ein Wagen mit frischen Pferden vorfuhr. Dann nahmen wir von dem braven Hensel einen herzlichen Abschied. Seine beiden schönen Braunen hatten sich niedergelegt, sobald sie in den Stall kamen – einer, wie wir später erfuhren, um nicht wieder aufzustehen. Ehre seinem Andenken!
Petermann begleitete uns auf der weiteren Fahrt, die nun mit ununterbrochener Schnelligkeit vonstatten ging. In Neubrandenburg sowie in Teterow wechselten wir die Pferde, und kurz nach sieben Uhr am nächsten Morgen, den 8. November, erreichten wir das Gasthaus zum weißen Kreuz an der Neubrandenburger Chaussee bei Rostock. Petermann holte sofort Moritz Wiggers herbei, der nun die ganze Sorge für uns übernahm. Ohne Verzug schickte er uns in Begleitung des Kaufmanns Blume in einer Droschke nach dem zwei Meilen entfernten Hafen- und Badeort Warnemünde, wo wir in dem Wöhlertschen Gasthause abstiegen. Petermann, überglücklich, daß sein Teil der abenteuerlichen Fahrt so gut gelungen war, wendete sich nach Strelitz zurück. Auf der Reise hatten wir uns angewöhnt, Kinkel mit dem Namen Kaiser und mich mit dem Namen Hensel anzureden, und unter diesen Namen wurden wir in der Herberge einquartiert.
Wiggers hatte uns Warnemünde als einen Platz von patriarchalischen Einrichtungen und Sitten geschildert, wo es eine Polizei nur dem Namen nach gäbe, und wo die Ortsobrigkeit, wenn man uns entdecken und die preußische Regierung unsere Verhaftung verlangen sollte, zuerst darauf bedacht sein würde, uns aus der Gefahr zu helfen. Dort, meinte er, würden wir sicher sein, bis eine gute Fahrgelegenheit oder ein besseres Asyl bereit sein würde. Von Warnemünde aus sah ich zum erstenmal in meinem Leben das Meer. Ich hatte mich lange danach gesehnt, aber der erste Anblick war mir eine Enttäuschung. Der Horizont erschien mir viel enger und die Wellen, die, vom Nordostwind gepeitscht, weißköpfig heranstürzten, viel kleiner, als ich sie mir in meiner Phantasie vorgemalt hatte. Ich sollte die See noch besser kennen und mit größerer Achtung und höherem Genuß betrachten lernen. Übrigens waren wir auch damals wenig zum Naturgenuß gestimmt. Kinkel hatte zwei, ich drei Nächte im Wagen auf der Landstraße zugebracht. Wir fühlten uns bis aufs äußerste erschöpft, suchten bald unser Zimmer auf und sanken fast [214] willenlos dem Schlaf in die Arme. Ich hatte noch Bewußtsein unserer Lage genug, um meine Pistolen unters Kopfkissen zu legen, und Herr Blume erzählte nachher, ich habe, als er sich während unseres sechsstündigen Schlafes leise in mein Zimmer geschlichen, sofort die Augen geöffnet, „Werda“ gerufen und meine Schießgewehre ergriffen, worauf er schleunigst davongegangen sei. Es war wohl so, aber ich erinnerte mich dessen nicht.
Am nächsten Tage traf Wiggers wieder bei uns ein. Er verkündete uns, es liege nur eine Brigg auf der Reede – wir sahen sie vor uns auf den Wellen tanzen –, die aber noch nicht segelfertig sei. Sein Freund, der Kaufmann und Fabrikherr Ernst Brockelmann, halte es auch für besser, uns auf einem seiner eigenen Schiffe über See zu schaffen, und bis dieses zur Abfahrt bereit sein werde, uns in seinem eigenen Hause zu beherbergen. So verließen wir denn das Gasthaus, bestiegen die Jolle eines Warnemünder Lootsen und, den scharfen Nordost im Segel, flogen wir über die breite Bucht den Warnowfluß hinauf. An einem Gehölze landeten wir und bei einem nahen Dorfe fanden wir Brockelmann mit seinem Wagen.
Wir sahen einen hochgewachsenen, kräftigen Fünfziger vor uns, mit grauem Haupthaar und Backenbart, aber frischer Gesichtsfarbe und jugendlich lebhaft in Ausdruck und Bewegung. Er begrüßte uns mit freudiger Herzlichkeit, und nach den ersten Minuten waren wir wie alte Freunde. In ihm erkannten wir das wahre Bild des „selbstgemachten“ Mannes im besten Sinne des Wortes, – eines Mannes, der seines eigenen Glückes Schmied gewesen, der mit Selbstgefühl auf das blicken kann, was er geleistet hat, und in seinen Erfolgen die Inspiration weiteren Strebens und eines unternehmenden und opferwilligen Gemeingeistes findet. Seine natürliche Menschenfreundlichkeit, die das Recht eines jeden auf die Anerkennung seines wahren Wertes und auf eine entsprechende Chance des Fortkommens würdigte, hatte ihn von Jugend auf zu einem Liberalen, und nach der achtundvierziger Revolution zu einem Demokraten gemacht. Seine Grundsätze und Theorien hatte er, soweit sich ihm die Möglichkeit bot, praktisch betätigt, und er war daher weit und breit als ein Freund und Fürsprecher der Armen und Bedrückten bekannt, besonders aber von seinen Arbeitern, die er in großer Zahl als Fabrikherr beschäftigte, wie ein Vater verehrt und geliebt. Er konnte, als er uns sein Haus als Zufluchtsort anbot, wohl sagen, daß er Arbeiter genug habe, die sich auf seinen Wunsch im Notfalle für uns schlagen und unser Asyl lange genug halten würden, um uns Zeit zum Entwischen zu geben. Indes würde es dazu nicht kommen, da die Beherbergung der Herren Kaiser und Hensel als Gäste seines vielbesuchten Hauses kein Aufsehen mache, und da, selbst wenn unser Geheimnis von seinen Leuten geahnt würde, es unter diesen keine Verräter gäbe. Kurz, er könne für alles einstehen.
So fuhren wir denn in Brockelmanns Wagen nach seinem in der Mühlentorvorstadt gelegenen Hause. Nun begannen für uns einige Tage der Ruhe und des eigentlichsten Schlaraffenlebens. Brockelmann, seine würdige Gattin, die älteste Tochter, deren vortrefflicher Bräutigam, der Kaufmann Schwarz und der kleine Freundeskreis, der ins Vertrauen [215] gezogen war, überschütteten uns mit den liebenswürdigsten Aufmerksamkeiten. Wie könnte ich die Sorge beschreiben, mit der die Hausfrau Kinkels verwundete Hände wusch, verband und pflegte! Und nun die nach den mecklenburgischen Begriffen von Gastfreundschaft unentbehrlichen ersten Frühstücke, und zweiten Frühstücke, und womöglich noch dritten Frühstücke, und Mittagessen, und Nachmittagskaffees mit Kuchen, und Soupers, und „Bissen vorm Schlafengehen“, und „Nachtmützen“, die von morgens früh bis zu später Nacht in unglaublich kurzen Zeiträumen aufeinander folgten! Und die Abendgesellschaften mit Strömen von Wein, während deren Wiggers zuweilen mit meisterhafter Hand Beethovensche Sonaten spielte, die Kinkel an die musikalische Sprache seiner Johanna erinnerten. Und die Überraschung, als bei einer unverfänglichen Gelegenheit Brockelmann von einem Musikkorps im Hause die allgemeine Revolutionshymne, die Marseillaise, spielen ließ! Und die Spaziergänge zum Luftschöpfen im Garten bei später Nacht, wenn das Gesinde zu Bett war!
Freilich wurde dabei die sehr ernste Seite unserer Lage nicht vergessen. Brockelmann ließ eines seiner eigenen Fahrzeuge, einen Schoner von etwa 40 Last, der sich als guter Segler erprobt hatte, für uns bereit machen. Die „Kleine Anna“, so hieß der Schoner, empfing eine Ladung Weizen für England, die man möglichst schnell an Bord schaffte, und Sonntag, den 17. November, wurde als Tag der Abfahrt bestimmt, wenn sich bis dahin der noch immer wehende starke Nordostwind gelegt haben würde. Mittlerweile ging die Nachricht von Kinkels Flucht durch die Zeitungen und erregte allenthalben das größte Aufsehen. Unsere Freunde in Rostock unterrichteten sich mit größter Sorgfalt von allem, was über die Sache gedruckt, gesagt und gerüchtweise gemunkelt wurde. Den von der preußischen Regierung gegen Kinkel erlassenen und in den Blättern veröffentlichten Steckbrief brachten sie uns zum Tee mit, und er wurde unter großer Heiterkeit mit allerlei unehrerbietigen Randglossen vorgelesen. Von meinem Anteil an Kinkels Befreiung wußten damals die Behörden und das Publikum noch nichts. Besonderes Vergnügen machten uns die Zeitungsberichte, die Kinkels Ankunft an den verschiedensten Orten zu gleicher Zeit anzeigten. Der freisinnige Pastor Dulon in Bremen, einem richtigen Instinkt folgend, beschrieb in seinem Blatt mit großer Umständlichkeit, wann und wie Kinkel durch Bremen passiert und zu Schiff nach England gefahren sei. Einige meiner Freunde berichteten sein Eintreffen in Zürich und in Paris. Eine Zeitung brachte sogar einen ausführlichen Bericht über ein Bankett, das Kinkel von deutschen Flüchtlingen in Paris gegeben worden, und von der Rede, die er dabei gehalten habe. So blieb nichts unversucht, um die preußische Polizei zu verwirren und irrezuleiten.
Es kamen aber auch Schreckschüsse beunruhigender Art. So empfing Wiggers am 14. November einen Brief aus der Gegend von Strelitz, ohne Unterschrift und von unbekannter Hand geschrieben, der so lautete: „Beschleunigen Sie die Versendung der Ihnen anvertrauten Waren; es ist Gefahr im Verzuge.“ Wahrscheinlich war von den Behörden unsere Spur zwischen Spandau und Strelitz entdeckt und von dort weiter verfolgt worden. Dann meldete sich am Freitag den 15. November, [216] ein Fremder bei Wiggers, der sich für den Gutsbesitzer Hensel ausgab und fragte, ob Kinkel, den er von Spandau nach Strelitz gefahren, noch in Rostock sei. Wiggers hatte uns zwar von Hensel in Ausdrücken des höchsten Vertrauens sprechen hören, aber er besorgte, der Fremde möge nicht der richtige Hensel, sondern ein Spion sein. So stellte er sich denn erstaunt über die Voraussetzung, daß Kinkel in Rostock sein könne, versprach aber, Erkundigungen einzuziehen, und bestellte den Fremden wieder zu sich auf den nächsten Tag. Der Vorfall wurde uns sofort berichtet, und die Beschreibung des Aussehens des Mannes überzeugte uns, daß der Fremde wirklich der brave Hensel sei. Er war, wie er Wiggers sagte, nach Rostock gekommen, nur um seine Herzensangst um unsere Sicherheit zu beschwichtigen. Kinkel und ich wünschten sehr, ihn zu sehen und dem treuen Freunde noch einmal die Hand zu drücken; aber Wiggers, der durch die Warnung von Strelitz ernstlich besorgt worden war, riet dringend zur äußersten Vorsicht und versprach uns, Hensel, der bis zum 18. in Rostock bleiben wollte, unsere Grüße zu überbringen, nachdem wir die offene See erreicht haben würden.
So fanden wir, trotz aller Gemütlichkeit, doch nicht geringe Beruhigung in der Nachricht, daß der Nordostwind sich gelegt habe, daß die „Anna“ bereits bei Warnemünde vor Anker liege, und daß alles zu unserer Abfahrt am 17. November bereit sei. Wiggers hat im Jahrgange 1863 der Leipziger „Gartenlaube“ diese Abfahrt sehr lebhaft und anziehend beschrieben.[2]
An einem frostigen Sonntagmorgen segelten wir mit unserer bewaffneten Begleitung, die unsere Freunde aus zuverlässigen Leuten zusammengesetzt und so stark gemacht hatten, daß sie, wie Wiggers sagte, „einem nicht ungewöhnlich mächtigen Angriff der Polizei hätte widerstehen können“, in zwei Booten über die Bucht nach dem Ankerplatz der „Anna“. An Bord angekommen, gab Herr Brockelmann dem Kapitän, der über den so unerwarteten zahlreichen Besuch sehr erstaunt war, seine Instruktionen. „Sie nehmen diese beiden Herren“, sagte er, auf Kinkel und mich deutend, „mit nach Newcastle. Bei Helsingör segeln Sie, ohne anzulegen, vorbei und zahlen den Sundzoll auf der Rückreise. Bei ungünstigem Winde setzen Sie lieber das Schiff an der schwedischen Küste auf Strand, als daß Sie nach einem deutschen Hafen zurückkehren. Paßt Ihnen der Wind nach einem andern Hafen der englischen oder schottischen Ostküste besser, als nach Newcastle, so segeln Sie dorthin. Es kommt nur darauf an, daß Sie möglichst schnell nach England kommen. Ich werde es Ihnen gedenken, wenn Sie meine Ordres pünktlich ausführen.“ Der Kapitän – Niemann war sein Name – mag diese Instruktion mit einiger Bestürzung angehört haben, aber er versprach, sein Bestes zu tun.
Einige unserer Freunde blieben bei uns, bis der kleine Schleppdampfer, welcher der „Anna“ vorgespannt war, uns eine kurze Strecke in die offene See hinausbugsiert hatte. Dann kam der Abschied. Wie Wiggers erzählt, warf sich Kinkel schluchzend an seine Brust und sagte: „Ich weiß nicht, soll ich mich freuen über meine Rettung, oder soll ich trauern, daß ich wie ein Verbrecher und Ausgestoßener mein teures Vaterland fliehen muß!“ Dann stiegen unsere Freunde in den kleinen [217] Dampfer, und dankbaren Herzens riefen wir ihnen Lebewohl zu. Zum letzten Abschied feuerten sie ein Salut mit ihren Pistolen und dampften dann nach Warnemünde zurück, wo, wie Wiggers erzählt, die ganze Gesellschaft das gelungene Rettungswerk mit einem höchst fröhlichen Mahle feierte.
Kinkel und ich blieben an der hintern Schanzkleidung des Schiffes stehen und sahen dem Dampfer nach, der unsere guten Freunde davontrug. Dann ruhten unsere Blicke auf der heimatlichen Küste, bis der letzte Streifen davon in der Abenddämmerung verschwunden war. So nahmen wir stillen[3] Abschied vom Vaterlande. In unserer wortkargen Unterhaltung tauchte mehr als einmal die Frage auf: „Wann werden wir wohl zurückkehren?“ Daß eine siegreiche Volkserhebung uns zurückführen werde, hofften wir beide mit Zuversicht. Es war eine Hoffnung, von heißem Wunsche geboren und von sanguinischen Einbildungen genährt. Was würden wir wohl dem Propheten geantwortet haben, der uns in jenem Augenblicke gesagt hätte, daß ich zuerst, mehr als zehn Jahre später, den deutschen Boden wieder betreten werde, aber dann als Gesandter der Vereinigten Staaten von Amerika auf meiner Rückreise von Spanien nach meinem neuen Vaterlande, und daß Kinkel warten müsse, bis ihm, nach einem Kriege zwischen Preußen und Österreich, der ehemalige Prinz von Preußen, dann König und Präsident des norddeutschen Bundes, das Tor der alten Heimat durch eine Amnestie würde aufgeschlossen haben!
Wir verließen das Deck erst, als es dunkel geworden war. Die Kajüte des Schoners war sehr klein. Ihr erster Anblick schon hatte mir eine Illusion zerstört. Ich hatte vorher nur einmal ein Seeschiff gesehen, – nämlich eine Brigg, die zur Zeit, als ich noch das Gymnasium besuchte, von Holland den Rhein heraufgebracht worden war und bei Köln ankerte. Aber dieses Seeschiff konnte ich damals nur von außen anschauen. Meine Vorstellung von dem Innern eines solchen Schiffs hatte ich aus den Seeromanen und Beschreibungen von Seekriegen geschöpft, die ich als Knabe gelesen; und so stand mir die Hauptkajüte eines Schiffs vor Augen als ein geräumiges Gemach, mit Möbeln wohl ausgestattet und die getäfelten Wände mit geschmackvoll gruppierten Flinten, Pistolen und kurzen Handschwertern geschmückt. Von all diesem erblickte ich in der Kajüte der „Kleinen Anna“ nichts. Diese maß der Schiffsbreite nach, zwischen den an den Seiten befindlichen Schlafkojen, kaum mehr als acht Fuß, und in der andern Richtung nicht über sechs. Sie war so niedrig, daß Kinkel aufrechtstehend mit dem Scheitel die Decke erreichte. In der Mitte stand ein kleiner, an den Fußboden festgeschraubter Tisch und dahinter ein mit schwarzem Haartuch überzogenes Sofa, das Kinkel und ich nebeneinander sitzend vollständig ausfüllten. Über dem Tische hing eine Lampe von der Decke herab, die nachts den Raum spärlich beleuchtete. Die Schlafkojen, die in der Eile für uns hergerichtet wurden, waren ein paar Fuß über den Boden erhaben und offen, so daß wir, wenn wir zu Bett lagen, einander sehen konnten. Diese Einrichtungen erschienen allerdings sehr verschieden von denen der stolzen Ostindienfahrer und Fregatten, die ich in meinen Büchern so anschaulich und verlockend beschrieben gefunden; aber nach der ersten [218] Ernüchterung, und als ich bedachte, daß dies doch eigentlich ein sehr kleines Seeschiff sei, fand ich sie ebenso praktisch wie einfach.
Kapitän Niemann, den seines Herrn plötzlicher Befehl so unerwartet aus seiner Winterruhe aufgestört hatte, wußte wohl zuerst nicht recht, was er aus den beiden sonderbaren Gästen auf der „Kleinen Anna“ machen sollte. Einer unserer Freunde, die uns an Bord gebracht, hatte ihm durch dunkle Andeutungen Ursache gegeben zu vermuten, daß wir ein paar bankerotte Kaufleute seien, durch unglückliche Umstände gezwungen, das Weite zu suchen. Aber, wie er uns später erzählte, er konnte diese Theorie doch nicht recht zusammenreimen mit der Hochachtung und der warmen, ja enthusiastischen Anhänglichkeit, mit deren Beweisen unsere Begleiter uns überhäuft hatten. Indes er beruhigte sich damit, daß Herr Brockelmann ihm befohlen hatte, für die Herren Kaiser und Hensel alles zu tun, was in seinen und in seiner Leute Kräften stehe, – im Notfalle sogar sein Schiff an irgend einer nichtdeutschen Küste auf den Strand zu setzen. Wäre der Notfall eingetreten, so würde er das auch redlich getan haben. Immerhin sorgte er für uns aufs beste. Die Schiffsmannschaft bestand, außer dem Kapitän, aus sieben Mann, den Steuermann, den Koch und den Schiffsjungen eingerechnet. Frau Brockelmann hatte uns mit Nahrungsmitteln, worunter eine gebratene mit Äpfeln gefüllte Gans sich besonders auszeichnete, reichlich versehen; aber die Fähigkeit des Schiffskochs war äußerst beschränkt. Glücklicherweise waren die Gäste leicht zu befriedigen.
Anfangs ließ sich die Seereise recht lustig an. Eine leichte Brise schwellte die Segel, und das Schiff glitt mit sanfter Bewegung durch die nur wenig erregte Flut. Aber gegen Morgen wurden Wind und See lebhafter, und als es Zeit zum Aufstehen war, meldete sich Kinkel seekrank. Der Wind blies immer heftiger, die See wogte immer höher, und Kinkel wurde immer kränker. Er raffte sich zusammen, um aufs Deck zu steigen, suchte aber bald wieder seine Koje auf. Ich bemühte mich ihn aufzumuntern – umsonst. Nach einigen Stunden argen Leidens wurde er ganz verzweifelt in seiner Qual. Er fühlte, daß er sterben müsse. Er hatte Lust, den Kapitän zu bitten, daß er ihn im nächsten Hafen absetzen möge. Diese Marter erschien ihm unerträglich. War er dem Gefängnisse entronnen, um hier jetzt so elend zu verenden?
Nun ist es eine Eigentümlichkeit der Seekrankheit, daß der Gesunde die Leiden des Kranken nicht würdigt, und der Kranke die behagliche Gleichgültigkeit des Gesunden herzlos und gar empörend findet. So ging es auch uns. Ich fühlte mich vollkommen wohl. Je mehr die „Kleine Anna“ sich in dem Wellenschlag hin und her und auf und nieder schwang, um so heiterer war mir zumute. Ich spürte dabei eine Eßlust, die selbst den Leistungen unseres Schiffskochs aufrichtige Anerkennung spendete. Dieses Wohlbehagen konnte ich Kinkel nicht ganz verhehlen, obgleich ich seine Leiden, die wahrscheinlich durch die Schwächung seiner Nerven infolge des langen Gefängnislebens bedeutend erhöht worden waren, innig bedauerte. Ich dachte, ich könne ihn aufrichten, indem ich mich über seine Todesbefürchtungen ein wenig lustig machte. Aber das wollte durchaus nicht fruchten. Da Kinkel allen Ernstes glaubte, es ginge ihm ans Leben, so klangen ihm meine scherzhaften [219] Bemerkungen wie gefühllose Leichtfertigkeit, und ich mußte bald wieder einen ernsteren Ton anschlagen, um ihn zu beruhigen.
In diesem Zustande passierten wir Helsingör, die Sundzollstätte, und damit die letzte Stelle, die uns hätte möglicherweise gefährlich werden können, und liefen ins Kattegatt ein. War die See im Sunde schon wild gewesen, so wurde sie im Kattegatt noch wilder. Der Wind schien abwechselnd aus allen Himmelsgegenden zu blasen, und wir kreuzten zwei Tage lang zwischen der flachen vorspringenden Landzunge von Dänemark, dem Skagen, und den hochaufragenden Felsenküsten von Schweden und Norwegen, bis wir das geräumigere Becken des Skagerrack gewinnen konnten. Aber auch da, und als wir endlich uns in der offenen Nordsee befanden, dauerte das „schmutzige Wetter“, wie unsere Seeleute es nannten, beharrlich fort. Zuweilen wurde der Wind so heftig, daß Kapitän Niemann ihn als einen wirklichen Sturm anerkannte. Wie eine Nußschale hüpfte die „Kleine Anna“ auf den zornigen Gewässern. Die See wusch beständig über das Deck, und das Schiff ächzte unter den furchtbaren Schlägen der darauf einstürzenden Wogen. Wenn Kinkel meiner nicht bedurfte, hielt ich mich beständig auf dem Deck auf, und um nicht über Bord geschleudert zu werden, ließ ich mich an den hinteren Mast festbinden. So gewann ich denn einen lebhaften Eindruck von der gewaltigen, ewig wechselnden Großartigkeit des Meeres, das mir beim ersten Anblick von Warnemünde aus nicht hatte imponieren wollen. Nun bezauberte mich der Anblick dergestalt, daß ich mich nur schwer davon losreißen konnte, und jede Minute, die ich in der Kajüte zubringen mußte, erschien mir wie ein unersetzlicher Verlust.
Kinkel blieb mehrere Tage seekrank, lernte jedoch nach und nach einsehen, wieviel Seekrankheit ein Mensch vertragen kann, ohne zu sterben. Allmählich verschwand sein Leiden; er stieg mit mir aufs Deck, würdigte die Poesie der Meerfahrt und verzieh mir dann, daß ich an den tödlichen Charakter seiner Seekrankheit nicht hatte glauben wollen.
Das böse Wetter währte unausgesetzt zehn Tage und Nächte lang fort. Zuweilen machte die Wut der Elemente das Kochen unmöglich. Höchstens konnte dann noch etwas Kaffee bereitet werden, und sonst lebten wir von Zwieback, kaltem Fleisch und Heringen. Aber wie blieben guten Mutes und genossen nicht wenig den Humor unserer Lage. Zwei Szenen haben sich mir besonders lebhaft eingeprägt. Die eine wiederholte sich jeden Morgen während der stürmischen Zeit. Kurz nach Tagesanbruch kam der Steuermann in die Kajüte herab, um uns unseren Kaffee zu bringen, während wir noch in den Kojen lagen. Wenn nun die See so recht wütend an die Schiffswände donnerte und auf das Deck niederschmetterte, so daß man sein eigen Wort kaum hören konnte, und wenn dann die „Kleine Anna“ wie toll auf und ab sprang und hin und her rollte, so daß wir uns wohl festhalten mußten, um nicht aus den Betten zu fallen, so stand der brave Seemann in seinem Ölanzug, oft von Wasser triefend, entweder vor Kinkel oder vor mir, spreizte die Beine weit aus, faßte mit einer Hand krampfhaft den kleinen am Boden befestigten Tisch, balancierte in der andern mit erstaunlicher Kunst eine große Schale Kaffee, ohne einen Tropfen zu verschütten, und schrie uns aus Leibeskräften an, um uns zu sagen, das Wetter sei immer noch [220] schlecht und heute könne wohl nichts Ordentliches gekocht werden; wir müßten vorliebnehmen. – Dreißig Jahre später, als ich Minister des Innern in der Regierung der Vereinigten Staaten war, besuchte ich während der Präsidentschaftskampagne von 1880 die Stadt Rondout am Hudson, um dort eine Rede zu halten. Nach der Versammlung kreuzte ich den Hudson auf der Dampffähre, um auf der gegenüberliegenden Station Rheinbeck den Eisenbahnzug nach New York zu nehmen. Im Abenddunkel trat auf der Fähre ein Mann zu mir und sprach mich auf Deutsch an.
„Entschuldigen Sie,“ sagte er, „daß ich Sie anrede. Ich möchte wissen, ob Sie mich noch kennen.“
Ich bedauerte, mich nicht zu entsinnen.
„Erinnern Sie sich nicht“, sagte er, „des Steuermanns auf der „Kleinen Anna“, Kapitän Niemann, auf der Sie und Professor Kinkel im November 1850 von Rostock nach England fuhren?“
„Was?“ rief ich aus. „Ob ich mich des Steuermanns erinnere, der morgens immer mit der Kaffeebowle in der Kajüte stand und so köstliche Tänze aufführte?“
„Ja, und Sie machten immer so spaßige Bemerkungen darüber, wenn man sich in dem Spektakel einmal verstehen konnte. Der Steuermann war ich.“ Ich war sehr erfreut, und wir schüttelten uns kräftig die Hände. Ich fragte, wie es ihm ginge, und er antwortete: „Recht gut.“
Ich lud ihn ein, mich einmal in Washington zu besuchen, was er versprach. Ich hätte die Unterhaltung gern fortgesetzt, aber wir waren unterdessen am östlichen Ufer des Hudson angekommen, mein Eisenbahnzug dampfte heran, und in wenigen Minuten war ich auf dem Wege nach New York. Der Steuermann hielt sein Versprechen nicht, mich in Washington zu besuchen, und ich habe ihn nie wiedergesehen.
Das andere mir noch gegenwärtige Bild war ernster in seiner unfreiwilligen Komik. Während wir auf der Nordsee von stürmischen Winden umhergetrieben wurden, war der Himmel stets von dichtem Gewölk bedeckt, so daß keine regelrechte Observation gemacht werden konnte, um zu bestimmen, wo wir uns befänden. Der Kapitän suchte allerdings mit der sogenannten toten Berechnung auszuhelfen, welche auf die Messung der Fahrgeschwindigkeit mit dem Log und Mutmaßung in bezug auf das Abtreiben von der gesteuerten Richtung gegründet ist. Aber nachdem das nun einige Tage so gegangen war, erklärte uns Kapitän Niemann ganz offen, er wisse nicht mehr recht, wo er sei. Nun sahen wir ihn oft sinnend über seiner Seekarte am kleinen Tisch in der Kajüte sitzen, und da uns die Sache auch anging, so versuchten wir, ihm rechnen zu helfen. Da Kinkel, nachdem er seine Seekrankheit überwunden hatte, und ich den ganzen Tag trotz des Unwetters auf dem Deck zubrachten und das Abtreiben des Schiffes von seinem Kurs beobachteten, so bildeten wir uns eine Meinung darüber, die der Kapitän denn auch mit großem Respekt anhörte. So kam der Kapitän oft des Nachts in die Kajüte herunter und breitete unter der Lampe seufzend seine Seekarte aus. Dann steckten Kinkel und ich unsere Köpfe aus den Schlafkojen hervor, indem wir uns krampfhaft an irgend einen festen Gegenstand festklammerten, um nicht herauszufallen; und in dieser [221] Stellung auf die Seekarte blickend diskutierten wir mit dem Kapitän, der mit Zirkel und Bleistift in der Hand auf dem kleinen Sofa eingeklemmt saß, geographische Länge und Breite, Stärke des Windes, Strömung des Wassers usw. Schließlich vereinigten wir uns auf einen Punkt, an dem das Schiff zurzeit sein müsse, und dieser Punkt wurde dann feierlichst auf der Karte mit dem Bleistift verzeichnet. Dann löste der Navigationsrat sich auf, der Kapitän stieg wieder aufs Deck, und Kinkel und ich krochen in unsere Kojen zurück, um zu schlafen.
Nach dem zehnten Tage unserer Fahrt klärte sich endlich der Himmel und die erste regelrechte Observation zeigte, daß unsere Berechnungen nicht gar so falsch gewesen waren, und daß drei oder vier weitere Tage uns an die englische Küste bringen würden. So steuerten wir denn fest auf den Hafen von Newcastle los. Kinkel hatte unterdessen seinen guten Humor ganz wiedergewonnen und ließ sich nicht gern an seine Ausbrüche seekranker Verzweiflung erinnern. Wir waren sehr guter Dinge, freuten uns aber doch von Herzen, als wir den ersten Streifen Land über dem Horizont emporragen sahen. Da warf sich plötzlich der Wind nach Süden, und der Kapitän erklärte, daß wir bei diesem Winde nur durch langwieriges Kreuzen den Hafen von Newcastle erreichen könnten. Der Navigationsrat trat also wieder zusammen, und wir beschlossen, in nördlicher Richtung nach Leith, dem Hafen von Edinburg, zu steuern. Das geschah, und am nächsten Abend erblickten wir die mächtigen Felsen, die den Eingang zum Hafen von Leith bewachen. Da fiel der Wind zu unserem lebhaften Ärger und die Segel hingen schlaff. Kinkel und ich zitierten zu unserem Troste allerlei Verse aus dem Homer, wie die zornigen Götter durch die boshaftesten Streiche den herrlichen Dulder Odysseus von der Erreichung seines geliebten Ithaka abhielten, wie er aber zuletzt, während er schlief, durch sanfte Lüfte dem heimatlichen Gestade zugeführt wurde. So geschah es uns auch. Nachdem wir verdrießlich schlafen gegangen waren, erhob sich eine leichte Brise, die uns mit unmerklicher Bewegung dem ersehnten Hafen zutrieb, und als wir am nächsten Morgen erwachten, lag die „Kleine Anna“ vor Anker.
Nun erst erfuhr der gute Kapitän Niemann, was für Passagiere er unter den Namen Kaiser und Hensel übers Meer gebracht hatte. Er gestand uns, die Sache sei ihm von Anfang an etwas unheimlich erschienen, sprach aber in herzlichster Weise seine Freude darüber aus, daß er, wenn auch unwissentlich, das seinige zu Kinkels Entkommen beigetragen habe. Kinkel und ich waren ungeduldig, ans Land zu gehen. Glücklicherweise hatte uns Brockelmann nicht allein an seinen Korrespondenten in Newcastle Briefe gegeben, sondern auch an den in Leith, einen Kaufmann namens Mac Laren. Diesem wünschten wir uns sogleich zu präsentieren. Aber der Kapitän erinnerte uns daran, daß der Tag unserer Ankunft ein Sonntag war, an dem ein schottischer Kaufmann gewiß nicht in seinem Kontor zu treffen sein werde; und er wisse nicht, wie wir das Wohnhaus finden könnten. Das sahen wir ein. Indes hatten wir die „Kleine Anna“ mit ihrer winzigen Kajüte und ihrem Teergeruch gründlich satt. Wir beschlossen daher, so gut es ging, Toilette zu machen und ans Land zu steigen, um, wenn wir auch am [222] Sonntag unseren schottischen Freund nicht erreichen könnten, uns wenigstens die Stadt Edinburg anzusehen. Auch hofften wir, in irgend einem Hotel Unterkunft zu finden.
Es war ein schöner, sonniger Wintermorgen. Welche Lust war es, als wir die Hauptstraße von Leith hinaufwanderten, zu fühlen, daß wir nun wieder festen Boden unter den Füßen hatten und als freie Menschen jedem ins Antlitz schauen durften! Endlich alles überstanden, alle Gefahren glücklich vorüber, keine Verfolgung mehr, ein neues Leben vor uns! Es war über alle Beschreibung herrlich. Wir hätten jauchzen und springen mögen, besannen uns aber und wanderten in raschem Gang aus der Hafenstadt in die Straßen von Edinburg hinauf. Diese Straßen sahen recht sonntäglich aus. Die Kaufläden waren geschlossen, kein Fuhrwerk störte die Stille, die Leute gingen schweigend daher, wahrscheinlich zur Kirche. Doch bemerkten wir bald, daß manche der Vorübergehenden uns mit einer Art Verwunderung anblickten, und es währte nicht lange, bis ein Trupp von Knaben sich um uns sammelte und uns mit spöttischem Lachen verfolgte. Wir blickten einander an und wurden gewahr, daß unsere äußere Erscheinung allerdings sonderbar genug gegen die der sauberen Kirchengänger abstach. Kinkel trug seinen großen Bärenpelzrock, der ihm beinahe bis zu den Füßen reichte. Sein Bart, den er, wie früher, voll wachsen lassen wollte, befand sich in dem Stadium der Entwicklung, in welchem er einem rauhen Stoppelfeld ähnlich sah, – und in jener Zeit gehörte in Schottland unter den anständigen Leuten ein Vollbart noch zu den Unmöglichkeiten. Seinen Kopf bedeckte eine Forstbeamtenmütze. Regelrechte Hüte besaßen wir nicht. Ich war in einen langen braunen Überrock mit weiten Ärmeln und einer mit hellblauem Flanell gefütterten Kapuze gekleidet – ein Kleidungsstück, das ich mir in der Schweiz aus meinem großen Soldatenmantel hatte anfertigen lassen. Meine Kopfbedeckung bestand in einer sonderbar geformten schwarzen Samtkappe. Indem wir uns gegenseitig betrachteten, kamen wir zu dem Bewußtsein, daß wir an einem Sonntagmorgen auf den Straßen der schottischen Hauptstadt recht seltsame Figuren machten, und über das Erstaunen der frommen Kirchengänger und den Spott der Jugend wunderten wir uns nicht mehr. Indes war der Sache nicht abzuhelfen, und so schlenderten wir ruhig weiter, ohne uns um die Gefühle der Eingeborenen weiter zu kümmern.
Solange nun das frugale Frühstück, das wir noch an Bord der „Kleinen Anna“ eingenommen hatten, keinen neuen Hunger aufkommen ließ, unterhielten wir uns vortrefflich. Wir sahen das berühmte Scott-Denkmal und einige imposante Gebäude und gingen dann auf die Burg hinauf, wo uns der erste Anblick von Soldaten in dem prächtigen schottischen Hochlandkostüm zuteil wurde. Auch genossen wir von dort aus nach Herzenslust die wundervolle Aussicht über die Stadt und ihre malerische Umgebung. Kurz, wir fanden Edinburg über die Maßen schön. Unterdessen war aber die Mittagsstunde längst vorübergegangen, und wir begannen zu fühlen, daß das Anschauen auch der herrlichsten Aussicht nicht satt macht. Gebieterisch regte sich das Verlangen nach einer soliden Mahlzeit. So stiegen wir denn von dem Kastell herunter [223] und sahen uns ernstlich nach einem Gasthof oder wenigstens einem Speisehaus um. Aber umsonst. Wir fanden allerdings Gebäude genug, die ihrem Aussehen nach Gasthäuser oder Restaurationen hätten sein können, aber nirgends eine offene Tür. Ein paarmal versuchten wir einzutreten, aber vergeblich. Nun kam uns unsere Unkenntnis der englischen Sprache äußerst ungelegen. Weder Kinkel noch ich verstanden das mindeste davon. Wir besannen uns, was für englische Worte wir wohl zu Verfügung haben mochten und fanden nur zwei: „Beefsteak“ und „Sherry“. Einige der Vorübergehenden redeten wir auf Deutsch und auch auf Französisch an, aber alle Gefragten antworteten uns nach langem, erstauntem Anstarren in einer uns durchaus unverständlichen Zunge. Zuweilen jedoch schienen sie, wenn wir unsere beiden englischen Worte „Beefsteak“ und „Sherry“ ausgesprochen hatten, mit den Händen nach der Hafenstadt Leith hinunterzudeuten. Unsere Lage wurde immer bedenklicher. Die Sonne neigte sich bereits dem Untergange zu. Von dem langen Umherwandern waren wir recht müde geworden, und der Hunger fing an, uns ernstlich zu quälen. Es schien uns nichts übrig zu bleiben, als an Bord der „Kleinen Anna“ zurückzukehren und dort eine Mahlzeit und ein Nachtquartier zu suchen.
So wanderten wir denn wieder dem Hafen zu. Plötzlich bemerkten wir in der Hauptstraße von Leith an einem großen Hause, dessen Front mit der Inschrift „Black Bull Hotel“ geschmückt war, eine offene Tür. Sogleich traten wir ein. Unmittelbar von der Türe führte eine Treppe in das obere Stockwerk hinauf. Diese stiegen wir hinan und erreichten einen geräumigen Vorplatz mit verschiedenen Türen, von denen eine halb offen stand. Durch diese blickten wir in einen kleinen von einem Kaminfeuer behaglich erhellten Salon. Ohne langes Bedenken traten wir ein, setzten uns zu beiden Seiten des Kamins in bequeme Armstühle nieder, zogen die Klingelschnur und erwarteten die weiteren Fügungen des Schicksals. Nach wenigen Minuten erschien in der Tür ein Mann in schwarzem Frack mit weißer Halsbinde und einer Serviette über dem Arm – offenbar ein Kellner. Als er die beiden fremdartigen Gestalten am Kamin sitzen sah, durch das rötlich flackernde Licht des Feuers vielleicht noch abenteuerlicher in ihrer Erscheinung gemacht, fuhr er zurück und stand einen Augenblick stumm und unbeweglich da mit großen Augen und halbgeöffnetem Munde. Wir konnten uns des Lachens nicht enthalten, und wie er uns lachen sah, so lächelte er auch, aber mit einem zweifelvoll ängstlichen Gesichtsausdruck. Dann sprachen wir unsere beiden englischen Worte aus: „Beefsteak – Sherry“. Der Kellner stammelte eine Antwort, die uns durchaus unverständlich war, und zum Zeichen dessen zuckten wir die Achseln. Er schob sich darauf hinterwärts zur Türe hinaus und verschwand.
Bald kam er wieder mit einem andern Manne, auch in Frack und weißer Halsbinde, der uns den Eindruck eines Oberkellners machte, denn es war etwas wie Autorität in seiner Miene. Beide starrten uns an und wechselten einige Worte unter sich. Wir lachten, und der neue Ankömmling lächelte ebenfalls. Dann sagte er uns etwas auf Englisch, das wie eine Frage klang. Wir antworteten ihm auf Deutsch und dann auf Französisch, daß wir ein Mittagessen und ein Nachtquartier [224] wünschten, aber er schüttelte den Kopf wie einer, der nicht verstand. So blieb uns denn nichts übrig als wieder „Beefsteak – Sherry“ zu sagen. Darauf nickte der Oberkellner, und beide verließen das Zimmer. Nach einer Weile trat ein dritter Mann ein, der nicht einen Frack, sondern einen schwarzen Gehrock trug. In dem Ausdruck seines Gesichts war noch mehr Autorität, als in dem des Oberkellners, und wir schlossen, das müsse der Wirt sein. Er betrachtete uns mit einer Art von Kennerblick und sprach dann zu uns in offenbar freundlichem Tone. Da wir aber wiederum kein Wort verstanden, so wiederholten wir unsere Rede von Beefsteak und Sherry und machten ihm durch Gebärden verständlich, daß wir hungrig seien. Zugleich hatte Kinkel den glücklichen Einfall, in die Tasche zu greifen und einige Goldmünzen hervorzuholen, die er dem Wirte auf der flachen Hand zeigte. Dieser lächelte schmunzelnd, machte eine kleine Verbeugung und entfernte sich.
Nach einer Weile brachte der Kellner, den wir zuerst gesehen hatten, ein paar brennende Kerzen auf silbernen Leuchtern und breitete ein Tischtuch über den runden Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand. Nachdem er in gutem Stil zwei Gedecke gelegt, erschien er wieder mit einer Suppenschüssel, die er vor einem der Gedecke niedersetzte. Nun nahmen wir vergnüglich Platz. Darauf hob der Kellner den silbernen Deckel von der Suppenschüssel mit mächtigem Schwunge auf, deutete mit dem Zeigefinger in die offene Schüssel und sagte langsam und nachdrücklich, indem er bei jeder Silbe dem Inhalt der Schüssel mit dem Finger einen Stoß zu geben schien: „Ox-tail-soup!“ Dann blickte er uns triumphierend an und trat hinter Kinkels Stuhl. Dies war meine erste Lektion im Englischen. Nun konnten wir nach der Ähnlichkeit mit den deutschen Wörtern uns wohl denken, was „ox“ und was „soup“ bedeutete; aber die Bedeutung des Wortes „tail“ wurde uns erst klar, als wir den Inhalt der Schüssel auf unsern Tellern erblickten. Wir fanden die Suppe köstlich, und damit war unser englischer Wortschatz um ein wertvolles Stück bereichert. Der Wirt war vernünftig genug gewesen, sich in der Ausführung unseres Wunsches nicht auf „Beefsteak“ und „Sherry“ zu beschränken, sondern uns ein vollständiges Mittagessen vorsetzen zu lassen, dem wir denn auch nach der langen Seefahrt und dem hungrigen Sonntagsspaziergang in der schottischen Hauptstadt alle Ehre erwiesen.
Wir waren, wieder am Kamin sitzend, mit unseren Nachtischzigarren beschäftigt, als der Wirt seinen Besuch wiederholte und uns mit freundlicher Miene etwas sagte, das wie die Frage klang, ob uns das Mittagessen gut geschmeckt habe, oder, was wir nun weiter wünschten. Durch allerlei sinnreiche Gebärden gaben wir ihm zu verstehen, daß wir Feder, Tinte und Papier haben wollten, um Briefe zu schreiben, und daß es dann unser Wunsch sein werde, zu Bett zu gehen. In allen Dingen wurde uns willfahren. Wir fügten nun den Briefen, die wir während der letzten beiden Tage auf dem Schiff an die Unsrigen in der Heimat geschrieben, noch mehrere hinzu. Es war ein unbeschreiblich glückliches Gefühl, daß wir uns nun den Lieben gegenüber wieder mit voller Freiheit aussprechen durften. Kinkel lud Frau Johanna zu [225] einem Wiedersehen in Paris ein und schrieb dann auch einen langen Brief an meine Eltern, in dem er ihnen allerlei Gutes von mir sagte.
Nachdem wir zu schreiben aufgehört, führte uns der Kellner in ein geräumiges Schlafgemach mit zwei Himmelbetten, deren Größe uns in Erstaunen setzte. Nicht allein der Länge, sondern auch der Quere nach hätten wir Sechsfüßigen ein Übermaß von Platz darin gefunden. Welche Wollust nach den vierzehn Nächten in den sargartigen Kojen der „Kleinen Anna“! Am nächsten Morgen nach einem vortrefflichen Frühstück verabschiedeten wir uns von dem Wirt des Black Bull Hotel mit stummem Lächeln und Händedruck, aber mit aufrichtiger Dankbarkeit, und es blieb uns ein Gegenstand der Verwunderung, was der freundliche Schotte wohl von seinen unheimlich sonderbaren Gästen gedacht haben mag, die so plötzlich, ohne Gepäck und ohne ein anderes verständliches Wort als beefsteak oder sherry, in einem seiner Zimmer auftauchten, und warum er uns nicht sofort die Türe wies.
Nun gingen wir nach der „Kleinen Anna“ im Hafen zurück und dann in Begleitung unseres Kapitäns nach dem Geschäftshause des Kaufmanns Mac Laren. In diesem fanden wir einen sehr zuvorkommenden, angenehmen Mann, der geläufig Deutsch sprach. Er war von Brockelmann von allem unterrichtet worden, was er über Kinkel und mich wissen sollte, begrüßte uns mit großer Herzlichkeit, bestand darauf, unser Gepäck sofort von der „Anna“ nach seinem Wohnhause bringen zu lassen und sich uns ganz zu widmen, so lange wir in Edinburg bleiben möchten. Von dem guten Kapitän Niemann nahmen wir in Mac Larens Kontor Abschied. Ich habe ihn nie wiedergesehen, erfuhr aber nach Jahren, daß er auf der Nordsee in einem schweren Wintersturm mit seinem Schiff untergegangen sei.
Nachdem wir uns bei einem Hutmacher und in einem Kleiderladen ein anderen Menschen ähnliches Aussehen verschafft hatten, ließen wir uns von Mr. Mac Laren die Merkwürdigkeiten Edinburgs zeigen, dinierten abends in seiner Familie und fuhren nachts nach London weiter.
Dort waren wir von Brockelmann an das Bankhaus Hambro & Sohn empfohlen, und der Chef des Hauses stellte uns sofort einen seiner Angestellten zur Seite, einen Frankfurter namens Heinrich Verhuven, der uns während unseres Aufenthaltes seine ganze Zeit widmen sollte. Verhuven war ein äußerst gefälliger und angenehmer Begleiter, und in seiner Gesellschaft jagten wir nun mehrere Tage lang, von früh morgens bis spät abends, von einer Sehenswürdigkeit zu der andern. Auf diese Weise entgingen wir auch den Besuchern, die in großer Zahl in unserm Hotel, dem London Coffee House, ihre Karten abgaben. Auch die Karte von Charles Dickens fanden wir darunter. Seine Bekanntschaft hätten wir sehr gern gemacht und erwiderten seinen Besuch, leider ohne ihn zu Hause zu finden. Auch bei meiner späteren Anwesenheit in London bin ich ihm nie begegnet.
In jenen Tagen empfing ich auch den ersten Eindruck der englischen Sprache, und zwar einen Eindruck, der mir jetzt, nachdem ich diese Sprache habe besser kennen lernen, kaum noch erklärlich ist. Der berühmte [226] Tragöde Macready gab eine Reihe von Darstellungen Shakespearescher Charaktere. Wir sahen ihn in Macbeth und Heinrich VIII. Obgleich ich die gesprochenen Worte nicht verstand, so war ich doch mit den Stücken hinreichend vertraut, um dem Dialog folgen zu können. Aber ich konnte zu keinem Genuß kommen, denn die unreinen Vokale und die Zischlaute, ja der ganze Klang und Tonfall der englischen Sprache fielen mir so unmusikalisch, so widerlich ins Ohr, daß ich dachte, eine solche Sprache würde ich niemals erlernen. Und in der Tat hat dieser unangenehme erste Eindruck mich, auch als ich später in London wohnte, lange davon abgehalten, ihr Studium ernstlich in Angriff zu nehmen.
Da Kinkel in London einen Brief von Frau Johanna empfing, in dem sie den Tag ihres Eintreffens in Paris bestimmte, so begaben wir uns nach einigen Tagen höchst anstrengenden Vergnügens auf den Weg nach der französischen Hauptstadt. Das Wiedersehen der durch hartes Schicksal so lange getrennten Gatten war mir eine kaum geringere Freude als ihnen selbst. Aber mit dieser Freude brachte unsere Ankunft in Paris mir auch eine schwere Bürde, und diese Bürde bestand in meiner plötzlichen „Berühmtheit“. Obgleich ich schon in Rostock, Edinburg und London im kleinen Freundeskreise Lobsprüche sehr warmer Art empfangen hatte, so setzte mich doch das, was ich in Paris über die durch die Befreiung Kinkels erregte Sensation erfuhr, in Erstaunen und Verlegenheit. Während Kinkel und ich auf dem Meere schwammen und in der Kajüte der „Kleinen Anna“ mit Kapitän Niemann Navigationsrat hielten, war es allgemein bekannt geworden, daß ich, ein junger Student von Bonn, bei Kinkels Erlösung in leitender Weise tätig gewesen sei. Natürlich waren die Einzelheiten des Abenteuers für das große Publikum noch im Dunkeln. Solches Dunkel ist bekanntlich der Sagenbildung günstig; und so überboten sich die freisinnigen Zeitungen in Deutschland in romantischen Geschichten, als deren alleiniger Held ich herhalten mußte. Die beliebteste und am meisten geglaubte dieser Geschichten ließ mich, wie einst Blondel vor dem Kerkerturm des Richard Löwenherz, durch Gesang – diesmal nicht mit der Laute des Troubadours, sondern mit einer Drehorgel begleitet – die Aufmerksamkeit meines gefangenen Freundes auf mich ziehen und so das Fenster seiner Zelle entdecken und dann auf wunderbare Weise sein Entkommen bewirken. Eine andere Sage brachte mich mit einer preußischen Prinzessin in Verbindung, die auf geheimnisvolle und für sie selbst gefährliche Weise meinem Unternehmen Vorschub geleistet habe. Manche Blätter legten ihren Lesern meine Biographie vor, die natürlich zum großen Teil aus phantastischen Ausschmückungen bestand, da es von meinem jungen Leben fast gar nichts zu erzählen gab. Ich wurde sogar zum Gegenstand dichterischer Ergüsse gemacht, die meine „Tat“ in allen Tonarten verherrlichten. Über meine Eltern ergoß sich, wie sie mir schrieben, eine Flut von Glückwünschen, die zum großen Teil von ganz unbekannten Personen kamen.
Nun war das Lob, das meine Eltern mir spendeten, und die Dankbarkeit, die Frau Kinkel mir in ihrem und ihrer Kinder Namen aussprach, mir eine wirkliche und große Genugtuung. Aber die Überschwenglichkeiten, [227] die ich in den deutschen Blättern zu lesen und in unserm ausgedehnten und täglich wachsenden Bekanntenkreise in Paris zu hören bekam, beunruhigten mich ernstlich. Das, was ich getan hatte, war mir nie als etwas gar so Absonderliches vorgekommen, daß es all diesen Lärm verdient hätte. Dann war mir auch stets der Gedanke gegenwärtig, daß ohne Brunes kühne Entschlossenheit im entscheidenden Augenblicke all mein Bemühen vergeblich gewesen wäre, und von Brune, der in jenen Tagen einer scharfen Untersuchung unterworfen war, durfte ich nicht sprechen, ohne ihn in gefährlicher Weise zu kompromittieren. So fühlte ich mich denn, indem ich meinen „Heldenruhm“ über mich ergehen ließ, wie einer, der sich’s gefallen läßt, mit fremden Federn geschmückt zu werden; und dieses Gefühl war mir in hohem Grade peinlich. Dazu kam noch, daß ich in jeder Gesellschaft, in der ich mich zeigte, ein übers andere Mal gefragt wurde: „Wie haben Sie denn diesen kühnen Streich ausgeführt? Erzählen Sie!“ Da ich nun nicht erzählte, weil ich nicht die ganze Wahrheit sagen durfte, so wurden neue Geschichten erfunden, die womöglich noch phantastischer waren als die alten. Dies wurde mir nachgerade so drückend, daß ich gar nicht mehr in Gesellschaft gehen mochte, und diejenigen, die zu mir kamen und mich mit Fragen bestürmten, fast unfreundlich abwies. So ist denn meine erste Erfahrung in der Rolle eines interessanten und populären Menschen keineswegs eine sehr lockende gewesen. Ich war in ernstlichem Zweifel, ob nicht die Bürde den Genuß überwog. Diese Erfahrung hat sich in meinem Leben mehr als einmal wiederholt.
Um nun die Erzählung dieser Episode zum Abschluß zu bringen, bleibt noch einiges über die weiteren Schicksale derjenigen nachzutragen, die bei der Befreiung Kinkels hauptsächlich tätig waren. Am Tage nach Kinkels Flucht aus Spandau fiel sogleich der Verdacht der Mitwirkung auf Brune. Er wurde unverzüglich gefangen gesetzt und eine Untersuchung über ihn angeordnet. Anfangs konnte man ihm nichts nachweisen; aber dann – so wurde berichtet – sperrte man mit ihm einen Polizeiagenten ein, den er nicht als solchen erkannte, und dem er unvorsichtigerweise seine Geschichte anvertraute. Er wurde darauf vor Gericht gestellt und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Nachdem er diese Strafe abgebüßt, zog er mit seiner Familie nach dem heimatlichen Westfalen, wo er mit seinem Gelde, das nicht entdeckt worden war, seiner Familie einen behaglichen Haushalt gründen konnte und unter seinen Landsleuten geachtet lebte. Als ich im Jahre 1888 von Amerika aus Deutschland besuchte und mein Aufenthalt in Berlin einige Aufmerksamkeit auf mich zog, empfing ich einen Brief, den ein Freund Brunes in seinem Auftrage an mich geschrieben hatte. Es hieß darin, daß Brune zurzeit Pförtner in einem großen Eisenwerk in Westfalen sei, daß es ihm gut gehe, obgleich er anfange, die Beschwerlichkeiten seines hohen Alters zu fühlen, und daß er gern wissen möchte, wie ich mich befände. Ich antwortete sogleich, gab ihm über mich die gewünschte Auskunft und bat um sein Bild. Derselbe Freund schrieb mir wieder, Brune habe sich über meinen Brief sehr gefreut, aber er sei in seinem Alter noch eigensinniger geworden, als er es früher gewesen; er habe sich nie wollen photographieren lassen und sei auch jetzt nicht [228] dazu zu bewegen. Ich wünschte lebhaft, Brune noch einmal zu sehen, und beabsichtigte ihn zu besuchen. Aber verschiedene Umstände machten die bereits vorbereitete Reise zu meinem großen Leidwesen unmöglich. Im Jahre 1891 empfing ich in Amerika einen Brief von Brunes Tochter, worin sie mir den Tod ihres tapferen Vaters meldete.
Da die Spandauer Teilnehmer an der Befreiung Kinkels sich zu sehr über das Gelingen des Wagestücks freuten, als daß sie diese Freude hätten ganz für sich behalten können, so wurde auch Krüger in die Untersuchung verwickelt und vor Gericht gezogen. Es wurde berichtet, daß er in den Gerichtsverhandlungen meine Einkehr in seinen Gasthof bereitwillig zugestanden habe mit dem Bemerken, es sei sein Geschäft, anständig aussehende Fremde, die voraussichtlich ihre Rechnung bezahlen könnten, in sein Haus aufzunehmen. Er könne dabei nicht immer genau untersuchen, wer diese Fremden seien, und was sie beabsichtigten. So sei z. B. sogleich nach der Revolution in Berlin am 18. März 1848 ein sehr stattlich aussehender Herr mit einigen Freunden in seinem Gasthofe abgestiegen. Die Herren seien in großer Aufregung und Eile gewesen, und er habe manches Außergewöhnliche in ihrem Benehmen bemerkt. In großer Hast seien sie wieder abgereist, wie er gehört habe, nach England. Es sei ihm nicht einen Augenblick eingefallen, ihnen die Gastlichkeit seines Hauses als Unbekannten zu verweigern. Erst später habe er erfahren, daß der vornehmste dieser Herren Se. Königliche Hoheit der Prinz von Preußen gewesen sei. – Diese Erzählung, mit dem stillen Lächeln vorgetragen, das Krüger eigen war, soll das anwesende Publikum in die heiterste Laune versetzt haben, der sich selbst der Gerichtshof nicht ganz entziehen konnte. – Krüger wurde freigesprochen, lebte ruhig in Spandau fort und starb in den siebziger Jahren, von seinen Mitbürgern allgemein geachtet.
Poritz, Leddihn und Hensel gingen ebenfalls frei aus, da man keine Beweise gegen sie aufbringen konnte. Poritz und Hensel starben nicht viele Jahre nach den hier erzählten Ereignissen. Leddihn sah ich im Jahre 1888 in Berlin wieder. Er wohnte schon längere Zeit dort, war ein wohlhabender Bürger geworden und bekleidete die geachtete Stellung eines Stadtverordneten. Drei Jahre später meldeten die Zeitungen seinen Tod.
Ich habe diese Geschichte, deren Gegenstand in jenen Tagen sehr viel von sich reden machte, so niedergeschrieben, wie sie mir in der Erinnerung steht; und da dieses Haupterlebnis meiner Jugend sich natürlich in mein Gedächtnis sehr scharf einprägte, so glaube ich, daß die Erzählung, den wesentlichen Inhalt der angeführten Gespräche nicht ausgenommen, wahrheitsgetreu ist.
Ich habe bereits erwähnt, daß anfangs der sechziger Jahre Moritz Wiggers in der Leipziger Gartenlaube eine ausführliche Erzählung der Befreiung und Flucht Kinkels veröffentlichte. Aber das machte den mehr oder minder phantastischen Legenden, die darüber erzählt wurden, kein Ende. Im Gegenteil, es ist seither fast kein Jahr vergangen, während dessen ich nicht von verschiedenen Gegenden Deutschlands Zeitungsblätter und Briefe empfangen hätte, die darüber wunderlich ausgeschmückte Geschichten enthielten. Und noch immer kommen von [229] Zeit zu Zeit Zuschriften von Unbekannten, die mir berichten, ihre Väter hätten ihnen erzählt, daß sie mich zu jener Zeit irgendwo gesehen oder mir gar bei dem Befreiungsabenteuer beigestanden hätten.
Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, ehe das Zuchthaus in Spandau abgebrochen wurde, erfreuten mich einige Spandauer Bürger mit einem photographischen Bilde, welches das Gebäude und die anliegende Straße sowie Kinkels Kerkerzelle darstellte. Und mehr als fünfzig Jahre nach dem Ereignis empfing ich einen von mehreren Deutschen, darunter einem Reichstagsmitgliede, gezeichneten Gruß auf einer Ansichtspostkarte mit dem Bilde des Gasthauses „Zum weißen Kreuz“ bei Rostock, auf dem die „Kinkelsecke“ markiert war. So lebt die Sage noch.
Elftes Kapitel.
In Paris.
Die Kinkels beschlossen, sich in England niederzulassen. Nach einigen Tagen höchst glücklichen Zusammenseins mit ihrem Gatten kehrte Frau Johanna von Paris nach Bonn zurück, um so schnell wie möglich die Vorbereitungen für die Übersiedelung der Familie zu treffen. Kinkel beschäftigte sich noch eine Weile mit dem Studium der wichtigsten Architekturen, Gemäldegalerien und sonstigen Kunstsammlungen in Paris und reiste dann nach London ab. Ich zog vor, noch einige Zeit in Paris zu bleiben, teils weil ich hoffte, dort meine geschichtlichen Lieblingsstudien am besten fortsetzen zu können, teils auch, weil damals noch Paris als der Herd liberaler Bewegungen auf dem europäischen Kontinent galt, und ich glaubte, da, wo die Schicksale der Welt geschmiedet würden, auch den geeignetsten Platz für mich als Zeitungskorrespondenten zu finden. So trennten wir uns denn, und damit war die Periode der aufregenden Abenteuer und der darauffolgenden Festtage zu Ende.
Nun galt es, mir wieder eine geordnete Lebensart und Tätigkeit einzurichten, um mich ehrlich durchzuschlagen. Meine journalistischen Verbindungen in Deutschland waren bald wieder angeknüpft, und ich fand, daß ich etwa 180 Franken den Monat mit Korrespondenzen verdienen konnte. Ich nahm mir vor, meine regelmäßigen Ausgaben auf 100 Franken den Monat zu beschränken und somit eine kleine Reserve für außergewöhnliche Erfordernisse übrig zu behalten. Das setzte eine sorgfältige sparsame Haushaltung voraus, aber ich lernte bald, mit wie wenig Geld man in Paris verhältnismäßig anständig wirtschaften konnte. Diese Schule der Ökonomie ist mir immer nützlich geblieben. Noch während die Kinkels in Paris waren, hatte ich das Gasthaus, in das wir zuerst eingekehrt, verlassen, um das Zusammensein der so lang getrennten Eheleute nicht zu stören, und war zu meinem Freunde Strodtmann gezogen, der sich schon einige Zeit vor uns in Paris eingefunden hatte und eine geräumige Stube in einem Hotel garni des Faubourg [230] Montmartre bewohnte. Aber diese gemeinsame Wirtschaft währte nicht lange. Strodtmann vermochte nicht, in seinen Sachen Ordnung zu halten, und da auch ich in dieser Richtung meine Schwächen hatte, so gab es in unserem Zimmer, das zugleich als Wohn- und Schlafraum diente, oft ein schlimmes Durcheinander. Es ist eine alte Erfahrung, daß ein Mensch, der selbst nicht ordentlich ist, die Unordentlichkeit eines andern zuweilen recht unbequem empfindet. So ging es uns auch. Natürlich schien es mir, daß Strodtmann der größere Sünder sei, und nicht ganz mit Unrecht. Er aß gern gut, studierte die in den Schaufenstern der Delikateßhandlungen ausgestellten Leckerbissen mit großem Eifer und bildete sich ein, feine Speisen selbst bereiten zu können. So machte er denn auf unserem Kaminfeuer allerlei Koch- und Bratversuche, die das Zimmer mit unwillkommenen Düften erfüllten. Auch wollte er sich das Kaffeemachen nicht nehmen lassen, denn er bestand darauf, er verstehe das viel besser als ich oder irgend jemand anders. Dieser Anmaßung würde ich mich schon gern unterworfen haben, aber da er mit der brennenden Spirituslampe seiner Kaffeemaschine zuweilen sehr lebhaft umging, so passierte es ihm wohl, daß er umherliegende Kleider und Papiere in Brand setzte und endlich gar ein großes Loch in das wertvollste Stück meiner Garderobe brannte, – nämlich jenen weiten Paletot mit Kapuze, den ich mir in der Schweiz aus meinem badischen Offiziersmantel hatte anfertigen lassen. Als dies geschehen war, wollte Strodtmann sich über seine eigene Ungeschicklichkeit totlachen, und ich lachte mit. Aber nach dieser Katastrophe kamen wir doch in der freundschaftlichsten Weise dahin überein, daß für zwei so unordentliche Menschen in der einen Stube nicht hinreichend Raum sei. Ich mietete mir also ein Zimmer auf dem Quai St. Michel Nr. 17, und Strodtmann siedelte sich im „lateinischen Quartier“ in meiner Nähe an.
Das Haus Quai St. Michel Nr. 17 wurde von einer Witwe, Mme. Petit, und ihren Töchtern, zwei nicht mehr ganz jungen unverheirateten Damen, nach Grundsätzen strengen Anstandes geführt. Die Mieter durften weder Hunde noch menschliche Wesen weiblichen Geschlechts über die Schwelle bringen. Auch sonst wurde ein stilles Verhalten gewünscht. In diesen Dingen unterschied sich dieses Haus vorteilhaft von den meisten Mietwohnungen im lateinischen Viertel. Wer sich bei uns durch besonders korrekte Aufführung auszeichnete, der wurde damit belohnt, daß ihn Mme. zuweilen in ihren kleinen Salon zum Tee einlud, wo es in der Gesellschaft der vergilbten Töchter und einiger Freunde der Familie recht langweilig herging. Nachdem man diese Erfahrung einmal gemacht hatte, drückte man sich an solcher Ehrenbezeugung vorbei, so gut man konnte. Mein Zimmer im Hause der Mme. Petit war meinen damaligen Begriffen nach recht behaglich. Allerdings lag es nicht nach der Seine hinaus, sondern ich sah von meinen Fenstern in eine enge und nicht ganz reinliche Gasse. Auch mußte ich, um meine Wohnung zu erreichen, mehrere Treppen hinauf- und andere Treppen hinabsteigen, einen dunkeln Gang durchwandern und um verschiedene Ecken biegen. Aber das störte mich nicht. Meine Stube war ziemlich geräumig, hatte einen roten Ziegelboden, stellenweise mit kleinen Stückchen Teppich bedeckt, mehrere brauchbare Stühle, einen runden Tisch, einen [231] Kamin, einen Kleiderschrank und sogar ein Klavier, das freilich alt und schlecht war, aber doch nicht so schlecht, wie man hätte fürchten dürfen. Mein Bett stand in einem Alkoven und konnte vermittelst baumwollener Vorhänge den Blicken des Besuchers entzogen werden. Für diese Wohnung hatte ich monatlich eine Miete von 30 Franken zu bezahlen, eine für meine Verhältnisse hohe Summe; aber ich dachte mir, daß der Charakter des Hauses mir anderweitig werde sparen helfen. Mein erstes Frühstück bestand in einer Tasse Kaffee, die ich mir selbst bereitete, oder in einem Glase Wein mit Wasser und einem Stück Brot, zuweilen mit, zuweilen ohne Butter. Nachdem ich bis Mittag gearbeitet hatte, nahm ich mein zweites Frühstück, das nie über einen halben Franken kosten durfte, in irgendeinem Restaurant des lateinischen Viertels, und abends aß ich in einem Lokal in der Rue St. Germain L’Auxerrois nahe beim Louvre, das von einer sozialistischen Vereinigung von Köchen geführt wurde, der Association fraternelle des cuisiniers réunis. Köche, Aufwärter und Gäste redeten sich dort nach dem Muster der ersten französischen Revolution mit dem Titel „Citoyen“ an, und der bürgerliche Gleichheitsstolz betätigte sich auch darin, daß der Citoyen Aufwärter von dem Citoyen Gast kein Trinkgeld annahm. Übrigens empfing man bei diesen Citoyens für einen Franken ein allerdings einfaches, aber doch reichliches und schmackhaftes Mahl, bei dem sogar die „Konfitüre“ zum Nachtisch und ein Glas Wein nicht fehlten. Die Gesellschaft war gemischt, aber um so mehr hatte man Veranlassung, sich während des Essens in den idealen Brüderlichkeitsstaat hineinzuträumen.
Rechnete ich zu diesen Ausgaben das Nötige für Wäsche und dann und wann ein Feuer im Kamin, so belief sich das regelmäßige Budget auf nicht ganz drei Franken täglich, oder 90 bis 93 Franken per Monat. Ich konnte mir sogar einigen Luxus erlauben, den Ankauf einiger Bücher, die ich jetzt noch besitze, zuweilen ein Billet für das Parterre des Odeon oder eines Vorstadttheaters, eine gelegentliche Tasse Kaffee auf dem Boulevard und dergleichen, ja ich konnte, freilich nur sehr selten, die Rachel im Théâtre français sehen, ohne die Summe von 120 Franken den Monat zu übersteigen; und dann blieb mir von meiner Einnahme noch eine kleine Reserve übrig für unvorhergesehene Fälle, wie sie sich in dem Leben eines Flüchtlings wohl ereignen konnten. So hielt ich Haus, machte keine Schulden, war niemandem verpflichtet und befand mich sehr wohl dabei.
Natürlich konnte ich unter diesen Umständen nicht daran denken, viele gesellschaftliche Verbindungen anzuknüpfen. Außer einem gelegentlichen Besuch des Salons der Gräfin d’Agoult, der bekannten Freundin Liszts, blieb mein Umgang beschränkt auf die deutschen Flüchtlinge, einige deutsche Studierende und junge Künstler, die in Paris weitere Ausbildung suchten, und einige französische Studenten, die ich teils bei meinen deutschen Freunden, teils als Hausgenossen im Salon der Mme. Petit hatte kennen lernen. Aber in diesem kleinen Kreise fand ich tüchtige und angenehme Menschen. Wir hatten wöchentlich musikalische Abende zusammen, zuweilen in meinem Zimmer, bei denen die jungen Musiker, unter ihnen Reinecke, der spätere Direktor der Leipziger Gewandhauskonzerte, die neueren Komponisten durchgingen und auch wohl ihre [232] eigenen Erzeugnisse vorführten, während ich als enthusiastischer Zuhörer und wohlwollender Kritiker fungierte. Auch tranken wir bei diesen Gelegenheiten einen Punsch, der aus Gründen der Sparsamkeit an Schwäche nichts zu wünschen übrig ließ. In diesem Kreise war mein guter Kamerad Strodtmann ein großer Liebling. Er hatte sich damals tief in die sozialistische Poesie jener Periode gestürzt, in der er ein vielversprechendes Symptom einer neuen geistigen und sittlichen Regeneration der Menschheit sah. Einige französische Gedichte dieser Art übersetzte er mit großem Geschick in wohltönende deutsche Verse, die er uns zu unserem großen Vergnügen zuweilen an unseren geselligen Abenden vorlas. Er war auch ein guter Zuhörer. Obgleich sehr taub, zeigte er warmes Interesse an unseren musikalischen Leistungen und gab mit seiner Donnerstimme dann und wann ein überraschend naives Urteil ab. Wir alle waren ihm herzlich gut wegen seiner hohen Begeisterung, seiner regen Sympathien, der offenbaren Ehrlichkeit seiner Natur und der robusten Freimütigkeit, mit der er seine oft recht exzentrischen Ansichten über Menschen und Verhältnisse aussprach. Zuweilen erregten seine Sonderbarkeiten stürmische Ausbrüche von Gelächter, in das er dann gutmütig einstimmte, indem er am lautesten lachte in kindlichem Erstaunen über die wunderlichen Dinge, die er selbst gesagt oder getan hatte. Er hätte wohl als Original dienen können für manche Karikaturen des „zerstreuten Professors“, der einen Lieblingsgegenstand deutscher Witzblätter abgibt.
Nicht selten sah man ihn auf den Straßen des Quartier Latin aus seiner langen deutschen Tabakspfeife rauchend, wie er als Student in Bonn umhergegangen war. In Paris blieben die Leute verwundert stehen, wenn sie diese ungewohnte Erscheinung erblickten, und bald war er im lateinischen Viertel als „l’homme à la longue pipe“ bekannt. Eines Tages trat er in mein Zimmer mit einer Haarbürste unter dem Arm, und als ich ihn fragte: „Aber Strodtmann, was trägst du denn da?“ sah er sich die Sache zuerst erstaunt an, lachte dann hell auf und sagte mit seiner lauten Stimme: „Das ist ja meine Haarbürste! Ich dachte, es sei ein Buch, aus dem ich dir ein Gedicht vorlesen wollte.“ Ein andermal, als er mich besuchte, bemerkte ich, daß sein Gesicht den Ausdruck ungewöhnlichen Ernstes trug. „Ich habe nur ein Paar Stiefel,“ sagte er. „Einer davon ist noch ziemlich gut, aber der andere, siehst du,“ – und damit deutete er auf seinen rechten Fuß – „der andere geht ganz aus den Nähten. Hast du nicht einen Stiefel übrig, den du mir leihen kannst?“ In der Tat besaß ich zwei Paare, und es traf sich so, daß von dem einen Paar ein Stiefel schadhaft, der andere aber noch in ganz brauchbarem Zustande war. Diesen stellte ich Strodtmann gern zur Verfügung. Als nun Strodtmann den Austausch sofort vornehmen wollte, bemerkten wir, daß die beiden guten Stiefel, der seinige und der meinige, zwei verschiedenen Moden angehörten; der seinige war an den Zehen zugespitzt, der meinige breit abgeschnitten, und beide waren für den linken Fuß gemacht. Diese unglücklichen Umstände störten jedoch Strodtmann durchaus nicht, und obgleich er zuweilen einige Unbequemlichkeit spüren mochte, ging er doch mehrere Tage in den beiden linken Stiefeln, von denen der eine spitz, [233] der andere breit war, ruhig umher, bis sein eigenes Fußzeug die nötige Reparatur erfahren hatte.
Ich fühlte das Bedürfnis, mich in der französischen Sprache zu vervollkommnen und sie mit der Feinheit sprechen und schreiben zu lernen, die ihren charakteristischen Reiz ausmacht. Einer meiner Freunde empfahl mir eine Lehrerin, die den pompösen Namen Mme. la Princesse de Beaufort führte. Es hieß, sie gehöre einer alten hochadeligen Familie an, und sei durch die Folgen der Revolutionen so verarmt, daß sie als Sprachlehrerin ihr Brot verdienen müsse. Ob sich dies in Wirklichkeit so verhielt, weiß ich nicht; aber als ich sie aufsuchte, fand ich in einer sehr bescheidenen Wohnung eines Hotel garni eine ältliche Dame von angenehmen Gesichtszügen und ruhigem, feinem Wesen, das leicht glauben ließ, sie habe sich in gebildeten Kreisen bewegt. Sie nahm mich als Schüler an und erklärte sich bereit, mir wöchentlich zwei Unterrichtsstunden zu geben, von denen jede einen Franken kosten sollte. Am nächsten Tage begannen wir. Meine Lehrerin erlaubte mir, die Methode des Unterrichts selbst zu bestimmen, und ich schlug ihr vor, daß, statt nach dem gewöhnlichen System die grammatischen Regeln durchzugehen, ich ihr kleine Briefe oder Aufsätze schreiben sollte über Gegenstände, die mich interessierten, oder die sie mir angeben möchte. Die Lehrerin sollte dann meine Fehler korrigieren und mir für meine unfranzösischen Redeweisen die idiomatischen beibringen. Wir wollten dabei eine Grammatik zur Hand haben, um mir die Regeln nachzuweisen, die ich etwa verletzte. Dies gefiel ihr, und da ich mich schon einigermaßen verständlich zu machen wußte, so gingen wir ohne Verzug ans Werk.
Diese Methode bewährte sich vortrefflich. Meine Briefe oder Aufsätze handelten von Vorkommnissen, die mir eben begegnet waren, oder von Museen oder Gemäldesammlungen, die ich gesehen, oder von Büchern, die ich gelesen, oder von Tagesereignissen und gar von politischen Angelegenheiten, die mich interessierten. Da ich nun nicht bloße Wortformen grammatikalisch aneinanderreihte, wie die Schüler der Gymnasien gewöhnlich ihre lateinischen Aufsätze schreiben, sondern meine Beobachtungen, Erfahrungen und Ansichten mit großer Freiheit darlegte und damit meinen Stilübungen einen möglichst interessanten Inhalt zu geben suchte, so begnügte sich meine Lehrerin nicht damit, mir meine sprachlichen Fehler zu korrigieren, sondern es entspannen sich lebhafte Unterhaltungen zwischen uns, in denen sie mich zu weitern Auseinandersetzungen über den Gegenstand meines Aufsatzes anregte. Diese Gespräche, in denen sie neben gründlicher Sprachkenntnis auch einen feinen Geist offenbarte, wurden uns beiden so angenehm, daß uns nicht selten der Ablauf der festgesetzten Stunde entging, und wenn ich dann aufstand, um mich zu verabschieden, sie mich zu bleiben bat, um das besprochene Thema noch etwas weiter zu verfolgen. Da ich nun außerdem viel las und mir dabei nie erlaubte, über Worte oder Redewendungen, die ich nicht verstand, hinwegzuschlüpfen, so waren meine Fortschritte sehr ermutigend, und nach einigen Wochen kam es nicht selten vor, daß meine Lehrerin mir einen Aufsatz mit der Versicherung zurückgab, sie finde darin nichts zu verbessern.
[234] Diese Weise, eine fremde Sprache zu erlernen, erprobte sich als ebenso angenehm wie wirksam. Man kann die Versuche, sich frei auszudrücken und somit die Sprache selbständig zu handhaben, schon mit einem sehr kleinen Wortschatz beginnen. Gewissenhaftes Lesen und verständig geführte Unterhaltung wird dann den Wortschatz rasch vermehren und die Leichtigkeit des Ausdrucks entwickeln. Aber ich kann nicht zu viel Nachdruck auf den Punkt legen, daß der schriftliche Ausdruck eigener Gedanken die wirksamste und die wichtigste Übung zu der Aneignung der fremden Sprache ist. In der bloßen Konversation sind wir geneigt, über Schwierigkeiten hinwegzueilen mit vagen oder unpräzisen Redensarten, die im schriftlichen Ausdruck Korrektur verlangen, und zwar Korrektur, die sich im Gedächtnis festsetzt, wenn das geschriebene Wort uns ins Gesicht blickt. Freilich gehört dazu ein Lehrer, der nicht allein dem Schüler grammatische Regeln einzutrichtern, sondern auch in dem Sprachstudium ein anderweitiges geistiges Interesse anzuregen weiß. Dieser Anforderung genügte die Princesse de Beaufort in hohem Grade, und die Stunden, die ich bei ihr zubrachte, sind mir immer eine besonders angenehme Erinnerung geblieben. Als ich zehn Jahre später als Gesandter der Vereinigten Staaten nach Spanien ging und mich unterwegs einige Tage in Paris aufhielt, besuchte ich das Hotel garni, das sie bewohnt hatte, um ihr meine Dankbarkeit zu bezeugen. Aber ich hörte dort, sie habe schon vor Jahren ihre Zimmer verlassen, und niemand im Hause konnte mir über sie Auskunft geben.
Eine andere, fast ebenso wirksame Methode fremde Sprachen ohne Lehrer zu erlernen, werde ich später erwähnen, wenn ich an die Zeit komme, da ich das Englische angriff. Hier will ich nur hinzusetzen, daß mir in der beschriebenen Weise das Französische recht geläufig wurde. Leider habe ich seither durch Mangel an beständiger Übung nicht wenig von der Leichtigkeit und Korrektheit des Ausdrucks eingebüßt. Ich mache mir einen Vorwurf daraus, denn man kann sich ohne Schwierigkeit, auch ohne beständige Gelegenheit zum Gespräch, in dem vollständigen Besitz einer einmal gewonnenen Sprache dadurch erhalten, daß man täglich sich selbst ein paar Seiten aus einem guten Schriftsteller laut vorliest.
Ich fuhr fort, französische Geschichte, besonders die der Revolutionszeit, eifrig zu studieren, und da Frankreich noch immer als der revolutionäre Führer Europas galt und wir von der Entwicklung der Dinge dort die wichtigsten Resultate erwarteten, so nahm ich auch an der französischen Tagespolitik das lebhafteste Interesse und verfolgte den damals vor sich gehenden Kampf zwischen den Republikanern und dem usurpatorischer Gelüste verdächtigen Präsidenten Louis Napoleon Bonaparte mit der größten Spannung. Aber ich mußte mir gestehen, daß manche von den Dingen, die ich, als nüchterner Beobachter, um mich her vor sich gehen sah, meine Vorstellung von der Großartigkeit der Ereignisse der Revolutionsperiode wesentlich abschwächten und meinem Glauben an die künftige welthistorische Mission Frankreichs einen argen Stoß gaben.
Oft besuchte ich die Galerie der Nationalversammlung, wenn Verhandlungen von Wichtigkeit angekündigt waren. Ich hatte die Geschichte [235] der Konstituanten von 1789, des gesetzgebenden Körpers und des Konvents der ersten Revolution mit großem Fleiß studiert, wußte einige der bedeutendsten oratorischen Leistungen Mirabeaus fast auswendig, kannte die parlamentarischen Debatten jener Periode ziemlich gründlich und hoffte nun etwas dem Ähnliches zu hören und zu sehen, das mich beim Lesen so mächtig erregt hatte, und das mir wie das Bild eines gewaltigen Heroendramas in der Phantasie lebte. Mit dieser Erwartung besuchte ich die Nationalversammlung. Meine Enttäuschung war groß. Allerdings fehlte es da nicht an hochtönenden Reden und an Szenen stürmischer, ja tumultuarischer Aufregung. Aber alles dies erschien mir vielfach weniger einem ernsten Gedankenkampf bedeutender Männer ähnlich als einer würdelosen Zänkerei eitler Phrasendrescher. Das war wohl ein zu hartes Urteil; aber es geschieht ja häufig, daß eine zu hoch gespannte Erwartung, wenn sie getäuscht wird, uns dann auch das Gute nicht schätzen läßt, das wirklich vorhanden und der Anerkennung wert ist. Was ich nun in der Gegenwart tatsächlich beobachtete, war die französische Art und Weise zu reden und zu handeln. Diese Art entsprach meinem Ideal nicht, aber sie war immerhin dieselbe französische Art, die bei allen ihren schauspielerischen Äußerlichkeiten in der Vergangenheit, besonders in der Revolutionsperiode, sich sehr wirklich und wirksam erwiesen und kolossale Resultate geliefert hatte.
So wurde ich durch das, was ich auf dem politischen Felde wahrnahm, einigermaßen ernüchtert, und diese Ernüchterung wurde nicht wenig verstärkt durch das, was ich im lateinischen Viertel und an verschiedenen Vergnügungsplätzen von der Liederlichkeit des Studentenlebens sah – des gewohnheitsmäßigen Lebens junger Leute, die man doch zur Blüte der französischen Jugend rechnen sollte.
Ich werde nie den Eindruck vergessen, den einer der Maskenbälle im großen Opernhause auf mich und meine deutschen Freunde machte. Jeder hatte Zutritt, der die Einlaßkarte bezahlen und sich mit dem vorgeschriebenen Kostüm, der gewöhnlichen Abendtoilette oder einem Maskenanzuge versehen konnte. Der Ball begann um Mitternacht. Das Publikum bestand aus jungen Leuten aller Stände, unter denen ich mehrere Studenten aus dem lateinischen Viertel wiedererkannte, mit ihren Grisetten oder „petites femmes“, und aus anderen Personen, die gekommen waren, nicht um am Tanze teilzunehmen, sondern um diese charakteristische Schaustellung des Pariser Lebens zu sehen. Die Foyers wimmelten von Frauengestalten in Dominos, die sich an die dort umhergehenden Männer ohne Umstände mit vertraulichen Reden heranmachten. Der große Zuschauerraum der Oper und die Bühne waren als Ballsaal hergerichtet. Der Tanz begann in ziemlich anständiger Weise, artete aber bald in den eigentlichen Cancan aus. Polizeibeamte bewegten sich durch den Saal, um die gröbsten Verletzungen der guten Sitte zu verhüten. Anfangs schien dies auch zu gelingen – wenigstens ließen die Tänzer und Tänzerinnen sich nur dann gehen, wenn sie sich von dem Polizeimann unbeobachtet glaubten. Aber wie es spät wurde, die Temperatur des Saales stieg und das Blut der Tanzenden sich erhitzte, wurde das Geschäft der Ordnungswächter immer schwieriger. Schließlich war kein Halten mehr. Die Bestialität ließ sich nicht mehr bändigen. [236] Männer und Frauen, von denen einige in der Wut des Tanzes ihre Kleider von Schulter und Brust abgerissen hatten, gebärdeten sich wie Rasende. Die Szene spottete aller Beschreibung. Als letzter Tanz war auf dem Programm ein Galopp angekündigt, der den Namen „Höllengalopp“ trug. Das Orchester spielte eine besonders feurige Weise mit Begleitung von Glocken. In der Tat stellten die in wildem Sinnlichkeitstaumel Umherwirbelnden ein Pandämonium dar, das dem Rachen der Verdammnis spornstreichs entgegenzutanzen schien. Während dieser Galopp vor sich ging – es war ungefähr vier Uhr morgens –, füllte sich der Hintergrund des Saales mit Soldaten, die sich in Linie aufstellten. Plötzlich übertönte ein rasselnder Trommelwirbel das Orchester und die Linie Infanterie, das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett an der Seite, avancierte langsam, Schritt für Schritt die Tänzer und Zuschauer aus dem Saal hinausdrängend.
Um den Becher bis zur Neige zu leeren, gingen wir nach einem der benachbarten Restaurants auf dem Boulevard, um einen Imbiß zu nehmen. Das wüste Schauspiel, das wir dort fanden, überbot alles bis dahin Gesehene. Die zügelloseste Phantasie könnte kein abstoßenderes Bild hervorbringen.
Ich hatte oft in der Luxembourggalerie vor dem großen Bilde Coutures, „La décadence des Romains“ verweilt, das in so beredter Weise den Verfall eines großen Volks und einer großen Zivilisation darstellt; aber was wir hier vor uns sahen, ließ selbst die Erinnerung vergangener Größe nicht aufkommen, die in Coutures Gemälde so eindrucksvoll ist. Hier war nur sittliche Fäulnis in ihrer gemeinsten Form, ihrer abstoßendsten Gestalt, ihrer schamlosesten Schaustellung.
Meine Freunde und ich trösteten uns mit dem Gedanken, daß wir hier das Schlimmste gesehen, ein ausnahmsweises Extrem, und daß dies unmöglich auf das ganze französische Volk schließen lasse; und diesen Gedanken hielten wir um so lieber fest, je mehr unsere Hoffnung auf einen neuen demokratischen Umschwung in Europa von der Rolle abhing, die in der nahen Zukunft die französische Republik spielen würde. Aber ich mußte mir selbst gestehen, daß mir die Atmosphäre von Paris nicht behagte, und mit großem Vergnügen nahm ich eine Einladung der Familie Kinkel an, die mich bat, sie in London zu besuchen und einige Tage in ihrem glücklichen Heim zuzubringen.
Hier will ich einen Vorfall erwähnen, der mich zurzeit in lebhaftes Erstaunen setzte. Strodtmann hatte mich mit einem dänischen Marinemaler namens Melbye bekannt gemacht. Dieser war ein viel älterer Mann als wir, ein Künstler von nicht unbedeutender Geschicklichkeit, und er wußte über seine Kunst sowie über manche andere Dinge angenehm zu sprechen. Besonders interessierte er sich für Clairvoyance und behauptete, eine Hellseherin zu kennen, die Außerordentliches leiste. Er forderte uns mehrmals auf, ihn zu dieser merkwürdigen Dame zu begleiten und uns von ihren wunderbaren Eigenschaften zu überzeugen. Endlich wurde auch ein Abend zu diesem Zwecke bestimmt; aber es traf sich, daß ich gerade zu derselben Zeit, um die Familie Kinkel in England zu besuchen, Paris auf einige Tage verlassen wollte. Als ich meine Sachen packte, war Strodtmann bei mir in meinem Zimmer, [237] und er sprach sein Bedauern darüber aus, daß ich nicht der Clairvoyancevorstellung beiwohnen könnte. Da nun Strodtmann sich auf eine kurze Zeit aus meiner Wohnung entfernte, um später zurückzukehren und mich zum Bahnhof zu begleiten, so kam mir der Gedanke, ich könnte doch vielleicht zur Prüfung der Hellseherin meinen Beitrag liefern. Ich schnitt mir einen kleinen Büschel Haare ab, legte ihn in ein zusammengefaltetes Papier und steckte dies in einen Briefumschlag, den ich versiegelte. Dann riß ich von einem Briefe, den ich an demselben Morgen von dem ungarischen General Klapka, dem berühmten Verteidiger der Festung Komorn, empfangen hatte, einen kleinen, das Datum enthaltenden Streifen ab, legte diesen Streifen ebenfalls in ein zusammengefaltetes Papier und steckte auch dieses in einen Briefumschlag, den ich gleichfalls mit Siegellack verschloß. Nachdem Strodtmann zu mir zurückgekehrt, gab ich ihm die beiden Kuverte, ohne ihn von deren Inhalt zu unterrichten, und bat ihn, diese in die Hände der Hellseherin zu legen mit dem Ersuchen, daß sie eine Beschreibung des Aussehens, des Charakters, der Vergangenheit und des zeitweiligen Aufenthaltes der Personen geben möge, von denen die in den Kuverten verborgenen Gegenstände herrührten. Dann reiste ich ab.
Wenige Tage später empfing ich von Strodtmann einen Brief, worin dieser mir folgendes erzählte: Die Hellseherin nahm eines meiner Kuverte in die Hand und sagte, dieses enthalte Haare von einem jungen Manne, der so und so aussehe. Sie schilderte meine äußere Erscheinung aufs genaueste und setzte hinzu, daß dieser junge Mann durch ein kühnes und glücklich gelungenes Unternehmen weit bekannt geworden sei und viel Beifall gewonnen habe, und daß er sich augenblicklich jenseits eines tiefen Wassers in einer großen Stadt und in einem Kreise heiterer Menschen befinde. Dann gab sie eine Beschreibung meines Charakters, meiner Neigungen und meiner geistigen Eigenschaften, die, wie ich sie so Schwarz auf Weiß vor mir sah, mich aufs höchste überraschte. Nicht allein erkannte ich mich sofort in den Hauptzügen dieser Schilderung, sondern ich fand darin auch einige Angaben, die mir neue Aufschlüsse über mich selbst zu geben schienen. Es geschieht uns ja, wenn wir in die eigene Seele hineinblicken, daß wir in unseren Impulsen, in unserem Fühlen, Denken und Wollen etwas Widerspruchsvolles, Rätselhaftes finden, das eine noch so gewissenhafte Selbstprüfung nicht immer zu lösen vermag. Und nun blitzten mir aus den Aussprüchen der Hellseherin Lichtblicke entgegen, die manche dieser Widersprüche und Rätsel aufklärten. Ich empfing gewissermaßen eine Offenbarung über mein eigenes inneres Selbst – eine psychologische Analyse, die ich als richtig anerkennen mußte, sobald sie mir entgegentrat.
Was die Hellseherin über das andere, Klapkas Handschrift enthaltende Kuvert sagte, war kaum minder auffallend. Sie schilderte den Schreiber der darin befindlichen Buchstaben und Ziffern als einen schönen, bärtigen Mann mit blitzenden Augen, der einst eine mit Bewaffneten gefüllte und von Feinden umlagerte Stadt regiert habe. Die Schilderung seiner Person, seiner Vergangenheit und auch seines Charakters, soweit ich diesen kannte, war durchaus richtig. Aber als die Hellseherin nun hinzusetzte, dieser Mann befinde sich zurzeit nicht in [238] Paris, sondern in einer nicht sehr weit entfernten Stadt, wohin er gereist sei, um eine ihm sehr liebe Person zu sehen, da dachte ich, sie doch auf einem Irrtum ertappt zu haben. Einige Tage später kehrte ich nach Paris zurück und, kaum dort angekommen, begegnete ich dem General Klapka auf der Straße. Ich fragte ihn sogleich, ob er, seit er mir zuletzt geschrieben, beständig in Paris gewesen sei, und war nicht wenig erstaunt, von ihm zu hören, er habe vor kurzem einen Ausflug nach Brüssel gemacht und sich dort nicht ganz eine Woche aufgehalten. Und die liebe Person, die er dort gesehen haben sollte? Ich erfuhr von einem intimen Freunde Klapkas, der General sei nach Brüssel gegangen, um mit einer Dame zusammenzutreffen, von der man sagte, daß sie sich mit ihm verheiraten werde. Die Hellseherin behielt also in jedem Punkte recht.
Dieser Vorfall war mir in hohem Grade rätselhaft. Je mehr ich mir die Frage überlegte, ob die Hellseherin von dem Inhalt der Kuverte irgendwelche Kenntnis erhalten, oder irgendeinen Anhaltspunkt gehabt haben könnte, um ihn zu erraten, um so verneinender fiel die Antwort aus. Strodtmann selbst wußte nicht, was ich in die Kuverte eingesiegelt hatte. Von dem Briefe Klapkas an mich hatte er nicht die geringste Kenntnis. Auch versicherte er mir, er habe die Kuverte, eins nach dem andern, in die Hände der Hellseherin gelegt, genau in demselben Zustande, in dem er sie von mir empfangen hatte, ohne sie auch nur einen Augenblick jemand anders anzuvertrauen und ohne irgend jemand zu sagen, von wem sie herrührten. Und auf das Wort des durch und durch ehrlichen Freundes konnte ich mich verlassen. Aber selbst wenn er – was mir gänzlich undenkbar war – mit der Hellseherin im Einverständnis gehandelt hätte, oder wenn er, ohne es zu wissen, verraten hätte, von wem die Kuverte gekommen seien, so würde dadurch nicht das Rätsel gelöst worden sein, wie die Hellseherin meinen Charakter, meine Neigungen und meine Geisteseigenschaften viel genauer, treffender und feiner hätte beschreiben können, als dies Strodtmann oder Melbye jemals möglich gewesen wäre. Melbye kannte mich überhaupt nur sehr oberflächlich. In unseren wenigen Unterhaltungen hatte er immer das Wort geführt. Und zu Strodtmanns vortrefflichen Fähigkeiten gehörte ein tiefer Blick in die menschliche Seele keineswegs. Kurz, ich konnte in dem ganzen Vorgange keinen Anhalt finden für den Verdacht, daß wir es hier bloß mit einer geschickten Taschenspielerin zu tun hätten. Die Frage warf ich auf: war hier nicht eine Kraft wirksam, die außerhalb der gewöhnlichen Sinnestätigkeit liegt, und die wir zwar in ihren Äußerungen beobachten und auch vielleicht in Bewegung setzen, aber nicht ihrem Wesen nach definieren können? In späteren Jahren habe ich ähnliche Beobachtungen gemacht, die ich an der richtigen Stelle aufzuzeichnen gedenke.
Ich will nun zu meinem Besuch in London zurückkehren. Kinkel hatte in der Vorstadt St. Johns Wood ein kleines Haus gemietet, und dort wurde ich als Gast begrüßt von dem wiedervereinigten Ehepaar und seinen vier Kindern. Kinkel hatte bereits einen ziemlich einträglichen Wirkungskreis als Lehrer gewonnen, und Frau Kinkel gab [239] Musikstunden. Ich fand die Familie in sehr heiterer Stimmung, und wir verlebten einige glückliche Tage zusammen. Es behagte mir in der Tat so gut dort, daß Kinkel mich ohne Mühe überreden konnte, meinen Aufenthalt in Paris aufzugeben und nach London überzusiedeln, wo ich, wie mir schien, ohne große Schwierigkeit als Privatlehrer meinen Lebensunterhalt gewinnen konnte. Ich kehrte also, wie ich glaubte, nur noch auf ein paar Wochen nach Paris zurück. Aber mein Abschied von der französischen Hauptstadt sollte durch einen unerwarteten und recht unangenehmen Zwischenfall verzögert werden.
Eines Nachmittags begleitete ich die Frau meines Freundes und Mitflüchtlings Reinhold Solger, der später im Dienste der Vereinigten Staaten eine angesehene Stellung einnahm, auf einem Spaziergange. Wir waren in der Nähe des Palais Royal, als mir ein unbekannter Mann in den Weg trat und mich ersuchte, mit ihm einen Schritt auf die Seite zu gehen, da er mir etwas Vertrauliches mitzuteilen habe. Sobald wir von Frau Solger weit genug entfernt waren, daß sie unser Gespräch nicht hören konnte, eröffnete er mir, er sei ein Polizeiagent und habe den Auftrag, mich zu verhaften und sofort zur Polizeipräfektur zu bringen. Er erlaubte mir, zu Frau Solger zurückzutreten, der ich, um sie nicht zu beunruhigen, mit möglichst unbefangener Miene sagte, sie müsse mich entschuldigen, da ich von diesem Herrn zu einem sehr dringenden Geschäft abgerufen worden sei.
Der Agent führte mich zuerst zu einem Polizeikommissar, der mich über meinen Namen, mein Alter, meine Herkunft usw. befragte. Zu meiner großen Verwunderung fand ich, daß die Polizei, die meinen Namen zu kennen schien, nicht wußte, wo ich wohnte. Ich erklärte dem Kommissar, ich habe durchaus keine Ursache, irgend etwas zu verheimlichen, und gab ihm nicht allein meine Wohnung an, sondern auch den Platz darin, wo man die Schlüssel zu meiner Kommode und meinem Koffer finden werde. Dafür wünschte ich zu wissen, aus welchem Grunde ich denn verhaftet worden sei. Der Kommissar machte ein geheimnisvolles Gesicht, sprach von höherem Befehl und meinte, ich werde bald genug alles erfahren. Ein anderer Polizeiagent führte mich dann zur Polizeipräfektur. Dort wurde ich, nachdem ich mein Taschenmesser und was ich an Geld bei mir führte, abgeliefert hatte, einem Gefängniswärter übergeben, der mich in eine Zelle brachte und die Tür hinter mir abschloß. Auf die Frage, ob man mir nicht sogleich den Grund meiner Verhaftung mitteilen werde, erhielt ich keine bestimmte Antwort. Meine Zelle war ein kleiner kahler Raum, von einem engen, hoch oben in der Wand befindlichen vergitterten Fenster spärlich beleuchtet. Es standen zwei schmale, nicht besonders reinliche Betten darin, zwei hölzerne Stühle und ein kleiner Tisch. Ich erwartete jeden Augenblick, zu einem Verhör abgerufen zu werden, denn ich dachte, in einer Republik, wie Frankreich damals war, werde man doch niemanden einsperren, ohne ihm sofort den Grund zu sagen, aber vergeblich. Es wurde Abend, und der Schließer teilte mir mit, daß ich ein aus gewissen Gerichten, die er aufzählte, bestehendes Souper haben könne, wenn ich imstande und willens sei, dafür zu bezahlen. Sonst würde ich mit der gewöhnlichen Gefangenenkost, die er mir in durchaus nicht lockender [240] Weise beschrieb, vorlieb nehmen müssen. Ich ließ mir ein bescheidenes Mahl geben und dachte dabei mit melancholischer Sehnsucht an meine braven Citoyens in der Rue St. Germain l’Auxerrois.
Spät abends, als ich mich schon zum Schlafen niedergelegt hatte, wurde noch ein zweiter Gefangener in meine Zelle gebracht, dem der Schließer das andere Bett anwies. In dem matten Lichte der Laterne des Schließers sah ich in dem neuen Ankömmling einen noch jungen Mann in ziemlich schäbigen Kleidern, mit glatt rasiertem Gesicht und dunklen rastlosen Augen. Er begann sofort ein Gespräch mit mir und teilte mir mit, man klage ihn an, er habe gestohlen, und deshalb sei er eingesteckt worden; die Anklage sei durchaus unbegründet, aber da man ihn früher auf ähnlichen Verdacht hin verhaftet habe, so glaube die Obrigkeit nicht an seine Unschuld. Ich hatte also einen gemeinen Dieb zum Gesellschafter und Schlafkameraden. Er schien in mir einen Handwerksgenossen zu vermuten, denn er fragte mich in vertraulichem Ton, auf was ich mich denn habe ertappen lassen. Meine kurze der Wahrheit gemäße Antwort schien ihm offenbar ungenügend, wenn nicht gar unfreundlich, denn er sagte kein Wort mehr, warf sich auf sein Bett und lag bald in tiefatmendem Schlaf.
Während der stillen Nacht überdachte ich mir meine Lage. Hatte ich in Paris irgend etwas getan, das mich in irgendeiner Weise hätte strafbar machen können? Ich durchforschte alle Winkel meiner Erinnerung und fand nichts. Natürlich konnte die Verfolgung, der ich ausgesetzt war, nur eine politische sein. Aber wie sehr auch meine Gesinnungen der Regierung des Präsidenten Louis Napoleon mißfallen mochten, so hatte ich mich in Frankreich doch an keiner politischen Bewegung beteiligt. In Paris war ich nur ein Beobachtender und Studierender gewesen. Ich hatte keinen Zweifel, daß, während ich auf der Präfektur gefangen saß, die Polizei meine Papiere in meiner Wohnung durchsuchen werde. Aber das konnte mich nicht beunruhigen, denn ich wußte, daß man dort nichts finden werde als historische Notizen, einige literarische Entwürfe und freundschaftliche Briefe harmloser Natur. Was ich an Papieren besaß, die irgendwie hätten verfänglich scheinen können, und auch die Pistolen, die ich bei der Befreiung Kinkels geführt, war ich vorsichtig genug gewesen, einem meiner Freunde in Verwahrung zu geben. Der Gedanke blieb übrig, daß ich auf Betreiben der preußischen Regierung verhaftet worden sei. Aber würde die französische Republik sich dazu herbeilassen, mich an Preußen auszuliefern? Das schien mir nicht möglich, und so beruhigte ich mich über mein Schicksal. Aber es überkam mich ein Gefühl der Erniedrigung darüber, daß man mir die Schmach hatte antun können, mich mit einem gemeinen Dieb zusammenzusperren. Es empörte mein innerstes Gefühl. Und das in einer Republik!
Meine Entrüstung stieg am folgenden Morgen, als man mich noch immer nicht von dem Grunde meiner Verhaftung unterrichtete. Der Dieb wurde früh aus der Zelle abgeholt, und ich blieb allein. Ich ließ mir Schreibzeug bringen und verfaßte in dem besten Französisch, das mir zu Gebote stand, einen Brief an den Präfekten, in dem ich im Namen der Gesetze des Landes verlangte, daß mir kundgetan werde, warum ich [241] meiner Freiheit beraubt worden sei. Der Schließer versprach, den Brief zu besorgen, aber der Tag verging ohne Antwort; und so noch einer und noch einer. Auch von meinen Freunden empfing ich kein Lebenszeichen, und ich scheute mich, an einen von ihnen zu schreiben, weil ich ihn dadurch hätte in Verlegenheit bringen können. In jenen Tagen, obgleich ihrer nur wenige waren, lernte ich etwas von den Stimmungen kennen, die das Gemüt des Gefangenen martern, – ein Gefühl bittern Zornes gegen die brutale Gewalt, die mich gefangen hielt; das Bewußtsein der Ohnmacht ihr gegenüber, das wie ein Hohn auf mich selbst in mir aufstieg; eine fieberhafte Phantasie, die mich mit einem endlosen Wechsel von häßlichen Bildern quälte; eine rastlose Ungeduld, die mich trieb, wie ein wildes Tier in seinem Käfig, stundenlang in meiner Zelle auf und ab zu rennen; dann eine öde Leere in Geist und Gemüt, die endlich in ein dumpfes Brüten ohne bestimmte Gedanken ausartete.
Am Morgen des vierten Tages richtete ich ein zweites Schreiben an den Präfekten, noch ungestümer und pathetischer als das erste, und wirklich kündigte mir der Schließer bald darauf an, daß ich nach dem Bureau des Präfekten geführt werden solle. In wenigen Minuten fand ich mich denn in einer behaglich eingerichteten Amtsstube einem stattlichen Herrn gegenüber, der mich freundlich zum Niedersitzen aufforderte. Er machte mir dann ein Kompliment über das in Anbetracht meiner deutschen Nationalität merkwürdig gute Französisch meiner Briefe und sprach in höflichen Redensarten sein Bedauern darüber aus, daß man mir durch meine Verhaftung Unbequemlichkeiten verursacht habe. Es liege eigentlich gar keine Anklage gegen mich vor. Nur wünsche die Regierung, daß ich mir einen Aufenthalt außerhalb der Grenzen Frankreichs wählen und zu diesem Ende Paris und das Land baldmöglichst verlassen möge. Vergebens suchte ich den Herrn zu einer Angabe der Gründe zu bewegen, die meine Entfernung aus Frankreich so wünschenswert erscheinen ließen. Mit immer steigender Höflichkeit versicherte er mich seines Bedauerns, daß es höheren Orts so beliebt werde. Endlich suchte ich seine Sorge um mein verletztes Gefühl durch die Bemerkung zu beschwichtigen, daß mich in Wirklichkeit das Belieben der Regierung nicht weiter genieren werde, da ich doch beabsichtigte, nach London überzusiedeln, und daß meine Verhaftung mich nur in meinen Vorbereitungen zur Abreise unterbrochen hätte. Der freundliche Herr war ganz entzückt über diese glückliche Übereinstimmung meiner Absichten mit den Wünschen der Regierung und bat mich schließlich, mich mit meinen Vorbereitungen zur Abreise nur nicht zu beeilen; er werde sich freuen, wenn ich mich von jetzt an unter seinem speziellen Schutz fühlen und mich noch zwei, drei, vier, ja sechs Wochen in Paris amüsieren wollte. Es werde mir dann ein Paß ins Ausland zur Verfügung stehen; aber nach meiner Abreise hoffe er, daß ich ihn nicht durch eine Rückkehr nach Paris ohne spezielle Erlaubnis in Verlegenheit setzen werde. Dann wünschte er mir Lebewohl mit einer an Wärme grenzenden Freundlichkeit, und ich verließ ihn mit dem Eindruck, daß ich hier mit dem höflichsten, angenehmsten Polizeityrannen der Welt Bekanntschaft gemacht habe.
[242] Ich eilte nach meiner Wohnung und fand die Familie Petit meinetwegen in großer Besorgnis. Madame und die beiden ältlichen Töchter erzählten mir in dreistimmigem Chor, wie vor einigen Tagen zwei Polizeiagenten mein Zimmer durchstöbert und meine Papiere gemustert, dann aber alles in bester Ordnung zurückgelassen hätten; auch hätten die Polizeiagenten sich bei der Familie Petit über meinen Lebenswandel erkundigt, und ich könne mir wohl vorstellen, ein wie glänzendes Zeugnis die Familie Petit mir ausgestellt habe; dann aber habe die Familie sich sehr um mein Schicksal beunruhigt und meine Freunde, die mich hätten besuchen wollen, von all diesen Vorgängen unterrichtet und sie gebeten, alle ihnen zugänglichen Einflüsse für mich in Bewegung zu setzen. Ich fand denn auch, daß verschiedene meiner Freunde sich sehr um mich bemüht hatten, und es ist wahrscheinlich, daß dadurch meine Freilassung beschleunigt worden war.
Die Ursache meiner Verhaftung wurde mir erst später klar. Louis Napoleon hatte schon längst die Vorbereitungen zu dem Staatsstreich begonnen, der die republikanische Regierungsform aus dem Wege räumen und ihn selbst in den Besitz monarchischer Gewalt bringen sollte. Während die Republikaner sich selbst über die heraufsteigende Gefahr täuschten, indem sie den Prätendenten als einen hirnlosen Affen seines großen Onkels lächerlich zu machen suchten, setzte dieser alle Mittel in Bewegung, um die Armee und die Massen des Volkes für sich und seine Pläne zu gewinnen. In allen Teilen des Landes wurde die napoleonische Propaganda in den mannigfaltigsten Formen organisiert, und diese Agitation fiel besonders bei der bäuerlichen Bevölkerung auf einen fruchtbaren Boden. Die Legende des Kaiserreichs mit seinen Kriegen und Siegen und seinem tragischen Ende war das Heldengedicht des Landvolkes, in dessen Glanz jede Bauernfamilie sich sonnte und sich groß fühlte, – denn jede von ihnen wußte von einem Vorfahren zu erzählen, der bei Rivoli, bei den Pyramiden, bei Marengo, bei Austerlitz, bei Jena, bei Wagram, bei Borodino, bei Waterloo unter den Augen des Gewaltigen gekämpft. Und in diesem Heldengedicht stand die Kolossalfigur des großen Kaisers, vom Mythus umwoben, wie die eines Halbgotts, unerreicht in seinen Taten, riesenhaft noch in seinem Untergange. Jede Hütte war mit seinem Bilde geschmückt, das, in einem höheren Wesen verkörpert, eine große Vergangenheit von Macht und Ruhm andeutete. Und nun trat ein Neffe des großen Kaisers dem Volke gegenüber, der den Namen des Halbgottes trug und mit diesem Namen jenen zauberhaften Glanz der Vergangenheit zu erneuern versprach. Und zahllose Agenten durchschwärmten das Land, zahllose Flugblätter gingen von Haus zu Haus und von Hand zu Hand, um die Botschaft zu verkünden von dem Neffen und Nachfolger des großen Kaisers, der die alte Herrlichkeit wieder heraufzuführen bereit stehe. Selbst die Drehorgel wurde in den Dienst der Agitation gezogen, indem sie Lieder vom Kaiser und seinem Neffen vor den Schenken der Dörfer und Marktflecken mit ihrer Musik begleitete.
Bei den intelligenteren Stadtbevölkerungen wurde freilich der napoleonischen Legende nicht eine so naive Verehrung bewahrt, aber sie war, schon lange ehe der Neffe des Onkels als Prätendent seine [243] Agitation begonnen, auch dort in einer kaum weniger wirksamen Weise gepflegt worden. Bérangers Lieder und Thiers’ Geschichte des Konsulats und Kaiserreichs hatten den Napoleonkultus lebendig erhalten, und selbst die Regierung Louis Philipps hatte dem Idol ihre Huldigung dargebracht, indem sie sich dazu verstand, Napoleons Überreste mit großem Pomp von St. Helena herüberführen und im Invalidendom beisetzen zu lassen. Das so vorbereitete Feld wurde nun, seitdem Louis Napoleon als Präsident an der Spitze der Exekutivgewalt stand, unablässig beackert. Wie auf dem Lande die Drehorgel, so wurde in der Stadt das Theater zu Hülfe genommen. Ich erinnere mich eines Spektakelstückes, das mit großer Pracht und ergreifender Realität in Paris auf einer der Vorstadtbühnen zur Aufführung kam. Es hieß „La Barrière de Clichy“ und stellte den Feldzug von 1814, die Verbannung Napoleons nach der Insel Elba und seine Rückkehr nach Frankreich im Jahre 1815 dar. Napoleon erschien darin in vortrefflicher Maske, zu Fuß und zu Pferde, auf dem historischen Schimmel, und alle Gefechte jenes Feldzuges, in denen er erfolgreich war, spielten sich vor den Augen der Zuschauer ab, – die Franzosen, Infanterie, Kavallerie und Artillerie, in den Uniformen des Kaiserreichs; die Feinde, Preußen und Russen, barbarisch aussehende Kerle, wüst und roh, und vor dem französischen Heldenmut stets davonlaufend. Auch Blücher trat in Person auf, ein polternder Barbar, der sich in den greulichsten Schimpfreden erging und dabei, aus einer kurzen Pfeife rauchend, riesige Dampfwolken ausblies und beständig um sich her spuckte. Die Feinde wurden so regelmäßig geschlagen, daß es dem unbefangenen Zuschauer schwer begreiflich war, warum Napoleon nach all diesen glänzenden Siegen doch unterlag und in die Verbannung ziehen mußte. Er kam nun auch bald unter dem jubelnden Zuruf des Volks zurück. Die Armee ging prompt zu ihm über, und das Stück schloß mit seinem Einzug in Grenoble. Das Publikum spendete rauschenden Beifall, und das gewünschte „Vive l’Empereur!“ ließ sich nicht allein auf der Bühne, sondern auch nicht selten auf den Galerien, im Parterre und in den Logen hören. So bearbeitete man die Stadtbevölkerung.
Die Armee suchte sich der „Prinzpräsident“ zu gewinnen, indem er bei Paraden und Manövern in Generalsuniform erschien, den Soldaten alle möglichen Begünstigungen zuwandte und die abenteuerlichen Geister unter den Offizieren durch allerlei Bevorzugungen an sich zog.
Im Frühling 1851 begann er nun auch ernstlich, das voraussichtliche Schlachtfeld des geplanten Staatsstreichs für die entscheidende Aktion vorzubereiten. In den Pariser Spießbürgern wurde die Besorgnis geweckt, daß die Hauptstadt von gefährlichen Elementen voll sei, von denen man jeden Augenblick den Versuch eines Umsturzes der ganzen gesellschaftlichen Ordnung zu befürchten habe; die Gesellschaft sei in Gefahr und müsse gerettet werden. Der Präsident sei zu dieser Rettung bereit, aber der parlamentarische Teil der Regierung suche ihm die Hände zu binden. Er tue jedoch, was er könne, und unternehme es vorerst, die Hauptstadt von gemeingefährlichen Elementen zu säubern. Eine der zu diesem Ende ergriffenen Maßregeln bestand in der Entfernung [244] von Fremden, die man im Verdacht haben mochte, daß sie sich an dem Widerstande gegen den beabsichtigten Staatsstreich tätig beteiligen würden. Zu dieser Kategorie wurde auch ich gerechnet.
Ein Polizeiagent, der in einem Pamphlet die drohenden Gefahren beschrieb, um den Bourgeois in den geeigneten Schrecken zu setzen, erwies mir sogar die Ehre, mich als einen besonders verwegenen Umstürzler zu bezeichnen, der sich schon in seinem Vaterlande die unerhörtesten Dinge habe zuschulden kommen lassen. Zur Begründung erzählte er die Befreiung Kinkels, eines ungewöhnlich verabscheuenswerten Staatsverbrechers, mit den fabelhaftesten Ausschmückungen. Diese Umstände waren es, denen ich, trotz meiner bescheidenen und zurückgezogenen Aufführung in Paris, meine Verhaftung und Ausweisung aus Frankreich zu verdanken hatte. So ganz Unrecht hatte man übrigens darin nicht. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß, wäre ich zur Zeit des Staatsstreiches in Paris gewesen, ich in dem Widerstande gegen die napoleonische Usurpation den Entscheidungskampf um die Freiheit Europas gesehen, eine Muskete ergriffen und auf den Dezemberbarrikaden mitgekämpft haben würde. So kann es sein, daß, wäre es sonst meine Absicht gewesen, in Paris zu bleiben, die polizeiliche Ausweisung mich von der Teilnahme an einem hoffnungslosen Unternehmen und vielleicht einem elenden Ende gerettet hat.
Die letzten Wochen meines Aufenthalts in Paris nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis waren einem nochmaligen Besuch der Galerien, Museen und interessantesten Architekturen gewidmet und heiterem Zusammenleben mit meinen Freunden. Einem von diesen, einem jungen Franzosen aus der Provence, der in Paris Medizin studierte, schien der Abschied von mir besonders schwer zu werden. Ich hatte ihn als einen Hausgenossen unter dem Dache der Familie Petit kennen gelernt, und ich erwähne ihn besonders, weil er ein Beispiel der Wirkung deutscher Philosophie auf einen französischen Kopf lieferte, das ich nicht für möglich gehalten haben würde, hätte ich die Geschichte nicht selbst erlebt. Bald nachdem wir miteinander bekannt geworden, schloß er sich mit Wärme an mich und mehrere meiner deutschen Freunde an, und da er ein bescheidener, gemütvoller, wißbegieriger und fleißiger Mensch war, so erwiderten wir seine Neigung. Er liebte die Deutschen, wie er sagte, weil sie das Volk der Denker seien. Er hatte einige Erzeugnisse der deutschen Literatur in Übersetzungen kennen gelernt und versuchte, sich die Sprache anzueignen, hauptsächlich um die Werke deutscher Philosophen zu studieren; aber es wurde ihm schwer. So mußte er sich denn mit französischen Bearbeitungen der deutschen philosophischen Schriften behelfen und suchte oft bei uns Aufklärung über Stellen, die er nicht verstand. Diese Aufklärung konnten wir ihm zuweilen geben, aber manche der dunklen Sätze verstanden wir auch nicht. Plötzlich fiel es uns auf, daß unser junger Provenzale, dessen Lebenswandel sonst immer durchaus solid und geregelt gewesen war, deutsche Bierhäuser, deren es in Paris mehrere gab, zu frequentieren und stark zu trinken anfing. Das ging so weit, daß eines Tages Madame Petit und ihre Töchter mich baten, ihn in seinem Zimmer zu besuchen, da er in der vorhergehenden Nacht schwer betrunken nach Hause gekommen [245] sei und nun ernstlich erkrankt zu sein schien. Ich folgte dieser Aufforderung sofort und fand meinen Freund in dem Zustande, den man auf deutschen Universitäten einen tiefen Katzenjammer zu nennen pflegt. Der junge Mann gestand mir, daß er sich seines Betragens herzlich schäme; aber er meinte, wenn ich die Ursache davon wüßte, so würde ich nicht so übel von ihm denken. Dann erzählte er mir mit großem Ernste, er habe seit einiger Zeit den deutschen Philosophen Hegel studiert und in seinen Schriften manches gefunden, das ihm quälende Zweifel an seinem eigenen Verstande verursacht habe. So habe er denn versucht, sich zu zerstreuen, und da die Deutschen, von denen er glaubte, daß Hegels Schriften ihre Lieblingslektüre seien, gern Bier tränken, so habe auch er sich bemüht, zur Erleichterung seiner Hegelstudien sich ans Biertrinken zu gewöhnen. Der gute Junge sprach so ernsthaft und aufrichtig, daß ich mir das Lachen verbiß und ihm mit demselben Ernste versicherte, über dem Hegel seien auch schon manche Deutsche verrückt geworden, und das Bier helfe dabei durchaus nicht. Wenn nun der Hegel in deutscher Sprache eine solche Wirkung auf deutsche Köpfe hervorbringe, was könne man von der Wirkung der französischen Aufkochung des Hegel erwarten? Dies schien meinen braven Provenzalen sehr zu erleichtern. Ich ermahnte ihn nun, den Hegel sowohl wie das Biertrinken fahren zu lassen und sich wie der solide, fleißige Mensch, der er früher gewesen, wieder der Medizin zu ergeben. Er versprach zu tun, was ich ihm geraten, tat es auch wirklich, und am Tage meines Abschiedes von Paris sagten wir einander Lebewohl mit dem aufrichtigsten Bedauern. Da diese Geschichte dem Leser wie eine Übertreibung klingen mag, so muß ich noch die Versicherung hinzusetzen, daß sie buchstäblich wahr ist.
Zwölftes Kapitel.
In London.
Gegen Mitte Juni kam ich in London an. Kinkel hatte bereits in einem Hause auf St. Johns Wood Terrace, nahe bei seiner Wohnung, Zimmer für mich gefunden, die ich um ein Billiges mieten konnte, und er wies mir auch Unterrichtsstunden in der deutschen Sprache und in der Musik zu, deren Ertrag für meine bescheidenen Bedürfnisse mehr als hinreichte. Das bekannte Paradoxon, daß man in London mehr für einen Schilling und weniger für ein Pfund hat als anderswo, das heißt, daß man bei bescheidenen Ansprüchen sehr billig und verhältnismäßig gut leben kann, während das Leben in größerem Stil außerordentlich kostspielig ist, – war damals wohlbegründet und ist es unzweifelhaft auch jetzt noch.
Ich würde meine Unterrichtspraxis viel weiter haben ausdehnen können, wenn ich Englisch gesprochen hätte. Aber, sonderbar wie mir [246] das selbst später erschienen ist, mein musikalisches Ohr konnte damals meinen Widerwillen gegen den Klang der englischen Sprache noch nicht überwinden. Ihre eigentümliche Musik habe ich erst dann würdigen lernen, als ich die Sprache selbst verstand. In den gesellschaftlichen Kreisen, in denen ich mich bewegte, und von denen ich später berichten will, reichte das Deutsche und das Französische aus. Bei meinen Unterrichtsstunden kam mir die Methode, nach der ich in Paris bei der Princesse de Beaufort Französisch gelernt hatte, sehr zu statten.
Einige meiner Schülerinnen, die sich für deutsche Literatur besonders lebhaft interessierten, ersuchten mich, das Nibelungenlied mit ihnen zu lesen; und, wie das nicht selten geschieht, in der Rolle des Lehrers lernte ich mehr von dem Gegenstande des Unterrichts, als ich vorher gewußt hatte und als ich sonst geahnt haben würde. Ich lehrte und lernte mit wirklicher Begeisterung, denn – ich mag mir hier beiläufig die Bemerkung gestatten – das Nibelungenlied ist meiner Meinung nach, freilich nicht in Eleganz der Darstellung, wohl aber in seinem dramatischen Aufbau das großartigste, gewaltigste Heldengedicht, das irgend eine Literatur aufzuweisen hat.
In meinem gesellschaftlichen Verkehr nahm natürlich die Kinkelsche Familie die erste Stelle ein. Das Haus war sehr klein und äußerst bescheiden eingerichtet. Aber in diesem Hause wohnte das Glück. Kinkel hatte die ganze heitere Elastizität seines Wesens wiedergewonnen. Haar und Bart waren allerdings mit grau gestreift, aber die krankhafte Blässe, die sein Gesicht aus dem Gefängnis mitgebracht, war einer gesunden frischen Farbe gewichen. Mit fröhlichem Mut hatte er die Aufgabe angefaßt, seiner Familie im fremden Lande eine sorgenfreie Existenz zu gründen, und ermutigender Erfolg belohnte seine Anstrengungen. Zu den Privatstunden, die er gab, kamen nun auch Aufforderungen zu Vorlesungen und Beschäftigung an Lehrinstituten. In den ersten Monaten hatte er schon genug erworben, um seiner Frau einen Erardschen Flügel von vorzüglicher Qualität schenken zu können, und Frau Johanna gewann bald in ausgedehntem Kreise eine ausgezeichnete und fruchtbare Reputation als Musiklehrerin. Die vier Kinder schienen gut zu gedeihen. Nichts Anmutigeres und Lehrreicheres konnte es geben, als Frau Johanna mit der Erziehung der zwei Knaben und zwei Mädchen beschäftigt zu sehen. Nicht allein begannen diese das Klavierspiel, sobald sie physisch dazu imstande waren, sondern sie sangen auch mit vollkommener Reinheit und naivem Ausdruck reizende vierstimmige Lieder, von der Mutter eigens für die Kinder komponiert.
Die Freude, die ich empfand, wenn ich das neu aufblühende Leben dieser Familie betrachtete, kann ich nicht beschreiben. Ich lernte dabei eine große Wahrheit verstehen und lebhaft empfinden. Es gibt kein schöneres und vollständigeres Glück in dieser Welt als das Bewußtsein, zu dem Glücke derer, die man lieb hat, etwas beigetragen zu haben, ohne einen andern Lohn zu verlangen als dieses Bewußtsein.
Die Dankbarkeit Kinkels und seiner Frau war so aufrichtig und unermüdlich, daß sie mich oft in Verlegenheit setzte. Sie suchten beständig nach etwas, das sie mir zuliebe tun könnten. Schon ehe ich nach London übergesiedelt war, hatte es mich Mühe gekostet, sie zur [247] Annahme meiner Ablehnung zu bewegen, als sie den Wunsch ausgesprochen hatten, ich sollte in ihrem Hause leben und sonst tun, was ich wollte. Nun mußte ich wenigstens in ihren dringenden Vorschlag willigen, daß meine jüngste Schwester Antonie zu ihnen von Deutschland herüberkommen sollte, um in ihrem Hause wie ein Kind der Familie erzogen zu werden. Dies schlug glücklich aus, da Antonie nicht allein guter Gemütsart und lebhaften Geistes, sondern auch mit jenem heitern rheinischen Temperament gesegnet war, das Sonnenschein um sich verbreitet. Dann drang Frau Johanna in mich, mir von ihr weiteren Klavierunterricht geben zu lassen, und mit neuer Lust nahm ich meine musikalischen Studien wieder auf. Meine Lehrerin ließ mich Beethoven, Schubert und Schumann genießen und führte mich durch die Zaubergärten der Chopinschen Musik. Aber noch mehr als das. Sie lehrte mich den Generalbaß und eröffnete mir damit eine Kenntnis, die mir in der Folge zur Quelle köstlichen Genusses geworden ist. Dann stellte sie mir ihren Erardschen Flügel, der in der Familie wie ein Heiligtum verehrt wurde, zur Verfügung zum Üben und Improvisieren, obgleich zu solchen Zwecken ein minderwertiges Instrument im Hause war.
Natürlich führten mich die Kinkels auch in die gesellschaftlichen Kreise ein, die ihnen offen waren. Freilich stand mir dabei meine Unkenntnis der englischen Sprache sehr im Wege. Aber ich hatte doch das Glück, mit einigen englischen Familien, in denen man Deutsch oder Französisch sprach, in ein Verhältnis zu treten, das man hätte freundschaftlich nennen können. Ich habe da verstehen lernen, wieviel aufrichtige Wärme des Gefühls in dem scheinbar so steifen und förmlichen Engländer versteckt sein kann. Ich fühlte dort bald, daß jedes Wort freundlicher Sympathie, das ich hörte, jede Einladung zu intimem Verkehr – Redensarten, die bei einigen andern Völkern als bloße oberflächliche Höflichkeitsformen gelten – als ehrlich und vollgemeint angenommen werden konnte. Das war echte Gastlichkeit, ohne Prätension und ohne Reserve, in der man eine Atmosphäre vertrauensvoller Sicherheit atmete. Auch bin ich in solchem freundschaftlichen Verkehr nicht selten überrascht worden von dem Gedankenreichtum, dem Schatz von Kenntnissen, der Mannigfaltigkeit der Erfahrungen und den weitreichenden Welt- und Lebensanschauungen, die in vertraulichen Gesprächen sich oft aus anscheinend scheuer Reserve oder schwerfälliger Mitteilungsgabe entpuppte.
Zu jener Zeit war in England die deutsche Sprache sehr in der Mode, wahrscheinlich infolge des Umstandes, daß damals die Popularität des Prinzen Albert, des anerkannt verdienstvollen Patrons der großen Weltausstellung, ihren Höhepunkt erreicht hatte. Nun ließ man es in der Gesellschaft nicht bei dem Deutschsprechen bewenden; es mußte auch Deutsch gesungen werden, und die deutschen Volkslieder erfreuten sich einer besonderen Beliebtheit. Doch konnte es kein traurigeres Schauspiel geben als eine errötende Miß, wie sie bei einer evening-party feierlich zum Klavier geführt wurde, „to give us a sweet German folk song“, und wie sie dann mit einem Gesicht, das einen Todesfall in der Familie andeutete, und in langsamen Tempo und im Ton tiefster [248] Melancholie sang: „Wenn i komm, wenn i komm, wenn i wiedrum komm“ usw.
Oft habe ich in späteren Zeiten bedauert, daß ich damals am politischen Leben Englands nicht mehr Interesse nahm und keine Bekanntschaften in politischen Kreisen suchte. Aber auch ohnedies empfing ich von dem Lande und dem Volke großartige Eindrücke. Wie verschieden war das ruhelose Treiben in den Straßen von London in seinem gewaltigen Ernst und seiner massenhaften Triebkraft von dem heiteren, mehr oder minder künstlerisch eleganten, aber mehr als halb frivolen Strudel, der dem Beobachter in Paris begegnet, und von dem halb militärischen, halb spießbürgerlichen Anstrich, den das damals noch nicht zur Weltstadt gewordene Berlin trug! Wie berechtigt, wie natürlich erschien mir der nationale Britenstolz, wenn ich in den Hallen von Westminster die Statuen und Büsten und in der Abtei die Gräber großer Engländer betrachtete, die alle als Denkmäler großer Gedanken und Taten gelten konnten! Wie fest gegründet erschienen mir die freien Institutionen eines Volkes, dem die bürgerliche Freiheit nicht eine bloße Phrase oder eine vorübergehende Laune oder ein Spielzeug, sondern Lebensprinzip ist, dessen Betätigung es für seinen täglichen Handel und Wandel notwendig gebraucht, und das in den Gedanken und Aspirationen jedes Bürgers lebt wie etwas, das sich von selbst versteht. Ich sah genug vom Lande und vom Volke, um dies herauszufühlen, obgleich wir Flüchtlinge in London meist wie auf einer Insel im großen Menschenmeer ein abgesondertes Dasein führten.
In London war seit dem Jahre 1848 eine große Zahl von politischen Flüchtlingen aus fast allen Ländern des europäischen Kontinents zusammengeströmt; doch beschränkte sich der Verkehr zwischen den verschiedenen nationalen Gruppen – Deutschen, Franzosen, Italienern, Ungarn, Polen, Russen – mehr oder minder auf die hervorragenderen Persönlichkeiten. Alle hatten jedoch die zuversichtliche Hoffnung auf einen baldigen revolutionären Umschwung auf dem Kontinent gemein. Unter den Deutschen gab es nur wenige, die diese Hoffnung nur in geringem Maße teilten. Von diesen war Lothar Bucher vielleicht der bedeutendste, ein stiller, in sich gekehrter Mann von großen Fähigkeiten, der sich mit ernsten politischen Studien beschäftigte, und dem ich im späteren Leben noch einmal unter sehr veränderten Verhältnissen begegnen sollte. Wie in der Schweiz, so wurde auch in London die Frage, wem in der kommenden Revolution die Führerschaft zufallen sollte, unter den Flüchtlingen eifrig besprochen. Natürlich gab diese illusionsselige Auffassung der Dinge zu allerlei Eifersüchteleien Veranlassung, wie das zu allen Zeiten unter ähnlich situierten Leuten der Fall gewesen ist, und die Flüchtlingschaft spaltete sich in Parteien, die einander zuweilen mit Bitterkeit bekämpften.
Als Kinkel in London ankam, fiel ihm natürlich unter den Flüchtlingen eine hervorragende Stellung zu, und er wurde sozusagen von selbst das Haupt einer ansehnlichen Gefolgschaft. Er hatte jedoch auch seine Widersacher, die in ihm keinen „praktischen Revolutionär“, sondern nur einen Dichter und Gelehrten, einen politischen Träumer sehen wollten, der zum eigentlichen Führer in einem großen Kampfe nicht [249] das Zeug besitze. Manche von diesen gruppierten sich merkwürdigerweise um Arnold Ruge, einen geistvollen Philosophen und Schriftsteller, auf den jedoch der Name eines bloßen Gelehrten und politischen Träumers ebensogut und vielleicht weit besser gepaßt hätte. Dann gab es noch Gruppen von sozialistischen Arbeitern, die sich teils an Karl Marx, teils an August Willich anschlossen; und endlich Neutrale, die sich um diese Parteiungen nicht kümmerten und individuell ihre eigenen Wege gingen.
Kinkel war gewiß nicht ohne Ehrgeiz und auch nicht frei von illusorischen Hoffnungen auf einen baldigen Umschwung im Vaterlande. Es war ihm jedoch vorerst darum zu tun, seiner Familie in London eine anständige Existenz zu schaffen. Dies nahm seine Tätigkeit so sehr in Anspruch, daß er sich dem gewöhnlichen Treiben der großenteils unbeschäftigten Flüchtlinge nicht anschließen konnte. Auch war es ihm nicht möglich, für seine politischen Glaubensgenossen offenes Haus zu halten und ihnen seine Arbeitsstunden herzugeben und so die Wohnung seiner Familie zum Versammlungsplatz eines in der Wiederholung oft gesagter Dinge unerschöpflichen Debattierklubs zu machen.
Es wurde daher Kinkel der Vorwurf gemacht, daß er sich um die Sache der Revolution zu wenig und um seine Familieninteressen zu viel kümmere, und dies sei besonders zu tadeln, da er doch seine Befreiung in hohem Grade der Hülfswilligkeit seiner demokratischen Parteigenossen zu verdanken habe. Wie ungerecht auch dieser Vorwurf war, so nahm ihn Kinkel sich doch sehr zu Herzen. Er war in dieser Stimmung, als ihm ein Plan vorgelegt wurde, dessen erfolgreiche Ausführbarkeit nur die fieberhafte Phantasie des politischen Flüchtlings sich einbilden konnte. Der Plan war, eine „deutsche Nationalanleihe“ von, ich weiß nicht mehr, wie viel Millionen Talern zu erheben, rückzahlbar in einer gewissen Zeit nach der Etablierung der deutschen Republik. Das im Wege der Nationalanleihe zusammengebrachte Geld sollte dann einem Zentralkomitee zur Verfügung gestellt und zu revolutionären Zwecken in Deutschland verwendet werden. Um die Erhebung der Anleihe zu beschleunigen, sollte Kinkel ohne Verzug nach Amerika reisen und durch eine öffentliche Agitation, bei der seine persönliche Popularität und seine eminente Rednergabe besonders wirksam sein würden, die dort ansässigen Deutschen und auch Amerikaner, wenn es ginge, zu möglichst liberalen Beiträgen veranlassen. Unterdessen sollten einige von seinen Freunden durch persönliche Bemühungen andere hervorragende Flüchtlinge für diesen Plan zu gewinnen und womöglich die ganze Flüchtlingschaft unter einen Hut zu bringen suchen; aber Kinkel sollte sofort nach Amerika abreisen, ohne das Projekt weiteren Konsultationen zu unterwerfen, damit den Flüchtlingen, die sonst daran gezweifelt und gemäkelt haben würden, die Sache als ein Fait accompli dargestellt werden könnte.
Das Resultat, das man sich von den Ausführungen dieses Planes versprach, war folgendes: Die Verfügung über bedeutende Geldmittel würde die Flüchtlingschaft zu einer wirklichen Macht erheben. Die Existenz einer solchen Macht würde dem revolutionären Element in Deutschland frischen Mut verleihen, es durch die Zuziehung neuer Rekruten [250] stärken und seine Kühnheit und Tatkraft anspornen. Natürlich würde nebenbei auch das Komitee, das den großen Revolutionsschatz verwaltete, die Führung der ganzen revolutionären Partei und die anfängliche Organisation der künftigen deutschen Republik in den Händen haben.
Es ist wohl in späteren Jahren Kinkel selbst bei ruhigem Bedenken komisch genug vorgekommen, daß er an den Erfolg eines solchen Planes jemals hatte glauben können. Jedenfalls lieferte dieses Projekt von der Selbsttäuschungsfähigkeit des politischen Flüchtlings ein sprechendes Beispiel. Übrigens sind wohl die gegen Kinkel gerichteten Vorwürfe, daß er sich zu viel der Sorge um seine bürgerliche Existenz widme, und das Gefühl, daß er durch eine große Bemühung für die Sache der Revolution seinen politischen Freunden eine Schuld abzuzahlen habe, für ihn ein Hauptbeweggrund gewesen, ohne langes Zögern auf diesen Plan einzugehen. Wenige Tage nachdem im vertrauten Kreise die Sache beschlossen war, brach Kinkel seine Lehrtätigkeit in London ab – ein großes Opfer, denn er setzte damit die Existenz seiner Familie von neuem aufs Spiel – und schiffte sich nach Amerika ein.
Ich war damals noch jung, unerfahren und sanguinisch genug, den Erfolg eines solchen Unternehmens für möglich zu halten, und ging mit Feuereifer darauf ein. Da man mir diplomatisches Talent zutraute, so wurde mir der Auftrag, in die Schweiz zu reisen, die dort weilenden Häupter der deutschen Flüchtlingschaft für den Plan zu gewinnen und so die Grundlage zu einer allgemeinen Organisation zu legen. Diesen Auftrag übernahm ich mit Vergnügen, machte unterwegs einen Besuch in Paris, von dem ich jedoch den höflichen Polizeipräfekten nicht in Kenntnis setzte, und traf bald bei meinen alten Freunden in Zürich ein. Für diese war ich seit meiner Abreise im vorhergehenden Jahre durch die Reputation, die mir die Befreiung Kinkels gebracht, eine ganz neue Person geworden. Sie trauten mir viel mehr Einsicht zu, als ich besaß, und meine diplomatische Sendung fand daher nur geringe Schwierigkeit zu überwinden, d. h. in der Erwartung, daß die Nationalanleihe, hauptsächlich durch Kinkels Agitation in Amerika, ein bedeutendes Resultat liefern werde, erklärten die Flüchtlinge durchweg ihre Bereitschaft, sich der vorgeschlagenen allgemeinen Organisation anzuschließen.
Der hartnäckigste Zweifler und zugleich der bedeutendste Mann, den ich dort fand, war Löwe von Calbe. Als letzter Präsident des deutschen Nationalparlaments war er im Frühling 1849 von Frankfurt nach Stuttgart gezogen und hatte, Arm in Arm mit dem alten Dichter Uhland, den Zug seiner Kollegen geführt, bis dieser von einer Abteilung württembergischer Kavallerie auseinandergesprengt wurde. Dann suchte Löwe Zuflucht in der Schweiz. Er war Arzt von Beruf, hatte sich aber durch weitgreifende Studien einen Schatz vielseitiger Kenntnisse erworben. Er machte den Eindruck eines ruhigen, methodischen Denkers, dem es auch an dem entschlossenen Mut kühnen Handelns nicht fehlte. Es lag ein gewisses Behagen in seinem Wesen, und wenn der stämmige, wohlbeleibte Mann sich hinsetzte, den Zuhörer mit seinen überaus klugen Augen anblickte und dann in wohlgebildeten, klaren, mit langsamem [251] Tonfall gesprochenen Sätzen seine Meinung darlegte, so fühlte man sich einer Autorität gegenüber, die oft überzeugte, schon ehe das Argument bis zum letzten Schluß gediehen war. Löwe war in bezug auf die Möglichkeit eines baldigen Umschwungs in Deutschland nicht so sanguinisch wie die meisten von uns, obgleich ihn die Illusionssucht des Flüchtlingslebens nicht ganz unberührt gelassen hatte. Über die Chancen der projektierten „deutschen Nationalanleihe“ äußerte er seine Zweifel; aber da er den Plan keineswegs abwies, und es mir sehr darum zu tun war, durch weitere Besprechung der Sache ihn dafür zu gewinnen, begleitete ich ihn auf einer Fußreise durch das Berner Oberland, die er eben mit einigen Besuchern aus Deutschland anzutreten im Begriff stand.
Bis dahin hatte ich die weißen Häupter der Alpen nur aus der Ferne gesehen. Nun kam ich ihnen zum erstenmal nahe und setzte mich sozusagen zu ihren Füßen. Wir gingen von Bern nach Interlaken, dann über Lauterbrunnen nach der Wengern Alp und nach Grindelwald, bestiegen das Faulhorn und wandten uns dann über die Scheideck nach den Seen. An den schönsten Punkten hielten wir uns auf und sahen so das Beste, was das Berner Oberland bietet. Was mir von all dem Herrlichen, Gewaltigen und Wunderbaren den tiefsten Eindruck machte, waren nicht die großartigen Rundsichten, wie von der Spitze des Faulhorns, wo man ganze Alpengruppen und -ketten ins Auge faßt, sondern es war das Bild der einzelnen Bergspitze, die über eine Wolkenlage hinaus in den blauen sonnigen Äther hinaufragte und so als etwas durch die Wolken von der untern Welt Abgeschiedenes, für sich selbst Dastehendes sichtbar wurde. Es war das Bild des Ewigfesten, Unveränderlichen, Zuverlässigen, im klaren heitern Sonnenlicht thronend über dem Ewigunbeständigen, Wechselnden, Zerfließenden. Besonders eindrucksvoll wurde dieses Bild, wenn sich hinter dem Wolkenschleier das dumpfe geheimnisvolle Donnern der stürzenden Lawinen hören ließ. Da wir von dem schönsten Wetter begünstigt waren, so genoß ich dieses Schauspiel oft, und jedesmal stand ich davor mit einem Gefühl, das ich nicht anders als fromm und andächtig nennen kann.
Ich war so tief ergriffen von all dem Schönen, welches ich um mich her sah, daß ich jeden Bauern beneidete, der in solcher Umgebung sein ganzes Leben zubringen konnte. Aber in dieser Beziehung machte ich eine interessante Erfahrung. Auf der Dorfstraße in Grindelwald sah ich eines Tages einen Mann von intelligentem Gesichtsausdruck, den die umherspielenden Kinder besonders angelegentlich grüßten. Aus seiner äußeren Erscheinung schloß ich, daß er der Schulmeister des Dorfes sein müsse, und ich irrte mich nicht. Ich redete ihn an, indem ich mich über örtliche Verhältnisse erkundigte, und fand ihn sehr mitteilsam. Er erzählte mir, daß es in dem kaum eine deutsche Quadratmeile großen Bergtal von Grindelwald alte Leute gäbe, die nie über die Grenzen des Tals hinausgekommen seien. Die von ihnen gesehene Welt war also vom Schreckhorn, Mönch, Eiger und Faulhorn eingeschlossen. In meinem Enthusiasmus bemerkte ich, daß die beständige Anschauung einer Umgebung von so großartiger Schönheit dem Menschen wohl genügen könne. Der Schulmeister lächelte und sagte, diese großartige Schönheit komme dem Geist der gewöhnlichen Bauern wohl am wenigsten [252] zum Bewußtsein. Er sehe in den Naturerscheinungen, die er beobachte, mehr das, was ihm vorteilhaft oder unvorteilhaft, ermutigend oder beschwerlich oder gar drohend sei. Die Wolkenbildungen, die uns in alle möglichen Stimmungen und Gemütsbewegungen versetzten, bedeuteten ihm je nach ihrer Lage und Gestaltung nur gutes oder schlechtes Wetter. Der dumpfe Donner der Lawinen erinnere ihn nur daran, daß unter gewissen Umständen die Schneestürze viel Unheil anrichten könnten. Er sehe in dem Wüten des Gebirgssturmes nicht etwa ein großartiges Schauspiel, wohl aber Hagelschlag und die Gefahr des Austretens der Bäche, und so weiter. Ich fragte den Schulmeister, ob es denn nicht wahr sei, was wir von dem berühmten Schweizer Heimweh hörten, daß, wer in diesen Bergen geboren sei und seine Jugend zugebracht habe, nirgendwo anders glücklich und zufrieden sein könne, sondern wenn anderswo zu leben gezwungen, sich in krankhafter Sehnsucht nach der Bergheimat verzehren müsse. Der Schulmeister lächelte wieder und meinte, solche Fälle von Heimweh seien wohl bei Schweizern vorgekommen, aber wahrscheinlich nicht in größerer Zahl und in schlimmerer Form, als bei Bewohnern anderer Gegenden. Überall gäbe es wohl Leute, die der Heimat und ihren Anschauungen und Gewohnheiten mit großer, fast krankhafter Gemütswärme anhingen. Er wisse von Schweizern in ansehnlicher Zahl, die im Auslande, ja auf den flachen Prärien Amerikas sich niedergelassen hätten und sich dort äußerst behaglich fühlten.
„Wollen Sie mir denn sagen,“ fragte ich, „daß der Schweizer selbst die Schönheit seines Landes nicht zu würdigen weiß?“
„Nein das gerade nicht,“ antwortete der Schulmeister. „Die gebildeten Leute wissen ja wohl überall das Schöne seiner Schönheit wegen zu würdigen. Aber der arbeitende Mann, der immer mit der Natur zu kämpfen hat, muß sich erst sagen lassen, daß die Dinge, die ihm so oft beschwerlich und unangenehm werden, nebenbei auch großartig und schön sind. Wenn er einmal auf den Gedanken gebracht worden ist, dann sieht er die Sache mehr und mehr so an. – Und die Schweizer,“ setzte der Schulmeister mit schlauem Lächeln hinzu, „auch die ungebildeten, wissen jetzt die Schönheit des Landes ziemlich zu schätzen.“
Dies klang mir zuerst wie eine recht prosaische Philosophie; aber längeres Nachdenken überzeugte mich, daß der Mann recht hatte. Die Empfindung der Naturschönheit ist eine anerzogene, angebildete, anzivilisierte Empfindung. Naive Völker haben sie nicht oder drücken sie wenigstens nicht aus. Die Naturerscheinung – Berg, Tal, Wald, Wüste, Strom, Meer, Sonnenschein, Regen, Windstille, Sturm usw. – ist ihnen entweder wohltuend, fördernd, oder unangenehm, störend, furchtbar. Es ist eine bezeichnende Tatsache, daß es im Homer bei all dem Reichtum seiner Schilderungen keine Beschreibungen einer landschaftlichen Szene oder eines Naturereignisses vom Standpunkte des Schönen gibt. Dieselbe Erfahrung setzt sich bis in unsere Zeiten fort. In demselben Geiste äußerte sich der Farmer aus einem der Präriestaaten Amerikas, der einmal auf einem Dampfboot den herrlichen Hudson hinauffuhr, und als er einen enthusiastischen Mitreisenden ausrufen hörte: „Wie schön ist doch dieses Land!“ ruhig antwortete: „Es mag wohl ein ziemlich gutes Land sein, nur viel zu hügelig.“
[253] Meine diplomatische Mission in der Schweiz war bald vollendet. Ich hatte die Zustimmung der meisten hervorragenden Flüchtlinge zu dem Anleiheplan gewonnen und glaubte der Sache der Freiheit einen bedeutenden Dienst geleistet zu haben. Dann kehrte ich nach London zurück. Frau Kinkel bat mich, bis zur Rückkehr ihres Mannes in ihrem Hause zu wohnen, da sie sonst dort keinen männlichen Schutz habe, und natürlich mußte ich ihr willfahren. Aber das Leben dort blieb keineswegs so heiter, wie es während der Anwesenheit Kinkels gewesen war. Da empfand ich erst, ein wie großes Opfer Kinkel durch die Übernahme einer solchen Mission gebracht hatte. Frau Johanna hatte ihren Mann mit Betrübnis und Sorge scheiden sehen. Ihre Wiedervereinigung war noch kein Jahr alt, und als nun plötzlich das glückliche Familienleben von neuem auf viele Monate hinaus zerrissen wurde, und das zu einer Zeit, als die Gründung einer bürgerlichen Existenz in der Fremde die gemeinsame Anstrengung aller Kräfte erforderte, so schien ihr die Bürde, welche die Parteigenossen ihr auferlegten, allzu schwer. Sie ergab sich allerdings in ihr Schicksal, aber nicht ohne Mißmut. Ihre Gesundheit fing an zu leiden; nervöse Störungen stellten sich ein, und es ist wahrscheinlich, daß damals die Anfänge der Herzkrankheit sich bemerklich machten, die sie einige Jahre später in ein frühes Grab brachte. Die Nachrichten, die wir von Kinkel aus Amerika empfingen, waren allerdings, was ihn selbst betraf, befriedigend; aber sie vermochten doch nicht das verdüsterte Gemüt der einsamen Frau zu erheitern, wie sehr diese auch sich an patriotischen Hoffnungen aufrecht zu erhalten versuchte.
Kinkel hatte vieles zu erzählen von der Herzlichkeit, mit der die Deutschen in Amerika ihn begrüßten. Wo er erschien, da strömten die Landsleute zusammen, um dem Zauber seiner Beredsamkeit zu lauschen. Wie er von Stadt zu Stadt zog, so reihte sich ein festlicher Empfang an den andern. Der Enthusiasmus der Versammlungen ließ nichts zu wünschen übrig. Obgleich Kinkel damals das Englische nur noch mangelhaft sprach, so mußte er sich zuweilen doch in englischen Gelegenheitsreden versuchen, wenn, was nicht selten vorkam, geborene Amerikaner an den ihm gewidmeten Feierlichkeiten teilnahmen. So besuchte er alle bedeutenderen Plätze im Norden und Süden, Osten und Westen der Vereinigten Staaten. Auch dem Präsidenten Fillmore machte er seine Aufwartung und wurde mit großer Freundlichkeit empfangen. Diese Erlebnisse beschrieb er in seinen Briefen mit sprudelndem Humor; all seine Berichte atmeten frische Lebenslust und zeugten von dem lebhaftesten Interesse an dem neuen Lande. Kurz, seine Reise ging in allen Beziehungen nach Wunsch – nur im Punkte der deutschen Nationalanleihe nicht. Es wurden allerdings allenthalben Ausschüsse organisiert und zur Einsammlung von Geld und zur Ausgabe von Anleihscheinen ermächtigt, aber die Beiträge beliefen sich schließlich nur auf wenige tausend Dollars – eine geringfügige Summe, mit der sich nichts anfangen ließ. Kossuth, der wenige Monate später mit viel bedeutenderem Prestige und größerem Pomp zu einem ähnlichen Zweck nach Amerika zog, machte dieselbe Erfahrung. Und es war ein Glück, daß die „Anleihen“ mißlangen. Man hätte auch mit größeren Summen nur hoffnungslose [254] Konspirationen organisieren und Menschen in persönliches Unglück führen können, ohne der Sache der Völkerfreiheit zu nützen.
Aber während diese Dinge vor sich gingen, dachten wir Flüchtlinge anders. Es wurden Emissäre nach Deutschland geschickt, um die Lage der Dinge auszukundschaften und die revolutionäre Organisation zu vervollständigen, d. h. Leute aufzusuchen, die in denselben Illusionen lebten wie wir, und diese „zur Vorbereitung gemeinsamen Handelns“ miteinander und mit dem Londoner Komitee in Korrespondenz zu setzen. Einige dieser Emissäre, die in Deutschland unter Anklage standen, setzten sich großen Gefahren aus, indem sie von Ort zu Ort reisten, und die meisten davon kamen mit der Kunde zurück, daß die Unzufriedenheit in Deutschland allgemein sei, und daß es bald „losgehen“ könne. Daß es in Deutschland viel Unzufriedene gab, war richtig. Aber von „Losschlagen“ träumten in Wahrheit nur wenige. Das revolutionäre Feuer war ausgebrannt. Der Flüchtling aber konnte sich zur Annahme dieser Wahrheit so wenig verstehen, daß er eher geneigt war, den, der sie aussprach, als „verdächtig“ zu bezeichnen. Es wurde also rüstig weiter „gearbeitet“.
Mir wurde eine große Auszeichnung zuteil. Ich erhielt eines Tages einen eigenhändigen Brief von Mazzini mit einer Einladung, ihn zu besuchen. Er gab mir die Adresse eines seiner Vertrauten, der mich zu ihm bringen würde. Seine eigene Adresse hielt Mazzini, wie es hieß, geheim, da er sich der Spionage der monarchischen Regierungen entziehen wollte. Daß der große italienische Patriot mich, den jungen unbedeutenden Menschen, zu sich einlud und sozusagen in sein Vertrauen zog, empfand ich als eine große Ehre. Mazzini galt in revolutionären Kreisen, besonders bei uns jungen Leuten, als das Haupt von zahllosen Geheimbünden, als eine mysteriöse Macht, die sich nicht allein in Italien, sondern in allen europäischen Ländern fühlbar machen konnte. Man erzählte sich wunderbare Geschichten von seinen kühnen Reisen in den Ländern, in denen ein Preis auf seinen Kopf stand, von seinem plötzlichen, fast zauberhaften Erscheinen unter seinen Getreuen hier und dort und von seinem ebenso zauberhaften Verschwinden, als ob die Erde ihn verschlungen hätte, und von der unübertrefflichen Geschicklichkeit, mit der er sich in den Besitz der Geheimnisse der Regierungen zu setzen wisse, und mit der er seine eigenen Pläne und Handlungen zu verbergen verstehe. So erschien er uns jungen Leuten denn als das verkörperte Genie des revolutionären Strebens, und wir blickten zu seiner geheimnisvollen Größe mit einer Art von ehrfurchtsvoller Scheu auf. Es war mir daher, als ich zu ihm berufen wurde, als ob ich in die Werkstätte des Meisterzauberers treten werde.
Der von Mazzini bezeichnete Freund führte mich nach der Wohnung des großen Führers, die in einer durchaus unfashionablen Straße lag. In der Nähe dieser Wohnung begegneten wir einigen schwarzäugigen, bärtigen jungen Männern, offenbar Italienern, welche die Gegend abzupatrouillieren schienen. Ich fand Mazzini in einem äußerst bescheidenen, kleinen Gemach, das zugleich als Salon und Arbeitsstube diente. In der Mitte des Zimmers stand ein Schreibtisch, der mit anscheinend verworrenen Haufen von Papieren bedeckt war. Kleine Modelle von [255] Kanonen und Mörsern dienten als Briefbeschwerer. Einige Stühle und, wenn ich mich recht erinnere, ein kleines Sofa bildeten den Rest der Ausstattung. Das Ganze machte den Eindruck der Ärmlichkeit.
Mazzini saß am Schreibtisch, als ich eintrat, und er erhob sich, um mir die Hand zu reichen. Er erschien mir als ein schlanker Mann von mittlerer Statur, in einem schwarzen Tuchanzug gekleidet. Sein Rock war bis oben zugeknöpft. Den Hals umhüllte eine schwarze seidene Krawatte, aus der kein Hemdkragen hervorsah. Das Gesicht hatte klassischen Schnitt, der untere Teil war mit einem kurzgehaltenen schwarzen, mit Grau gemischten Vollbart bedeckt. Die dunklen Augen glühten in rastlosem Feuer. Darüber wölbte sich die Stirn auffallend hoch und breit. Dünnes, glattanliegendes Haar, schwarz, aber ergrauend, bedeckte das Haupt. Der sprechende Mund zeigte eine volle, aber etwas geschwärzte Reihe von Zähnen. Die ganze Erscheinung war die eines unzweifelhaft bedeutenden Mannes. Bald fühlte ich mich auch unter dem Zauber einer Persönlichkeit von seltener Anziehungskraft.
Unsere Unterhaltung wurde in französischer Sprache geführt, die Mazzini mit derselben Leichtigkeit wie seine Muttersprache handhabte, obgleich er von dem allen Italienern eigenen Akzent nicht frei war. Aber er entwickelte im Gespräch unter vier Augen, und dabei heftig Zigarren rauchend, eine Beredsamkeit, wie ich sie in meinem langen Leben nur selten wieder gehört habe – warm, einschmeichelnd, zuweilen ungestüm, schwungvoll, erhaben und dabei immer durchaus natürlich. Die drei größten Konversationalisten, mit denen ich in meinen Tagen in Berührung gekommen bin, waren Mazzini, der amerikanische Schriftsteller Dr. Oliver Wendell Holmes, und Bismarck. Von diesen war Dr. Holmes der geistreichste im Sinne des bel esprit, Bismarck der imposanteste und unterhaltendste zugleich durch Witz, Sarkasmus, Anekdoten und Erzählungen geschichtlichen Interesses mit hinreißender Lebendigkeit vorgetragen und blitzartigen Beleuchtungen von Menschen und Verhältnissen. Aber aus Mazzini sprach eine solche Tiefe und Wärme der Überzeugung, ein solcher Enthusiasmus des Glaubens an die Heiligkeit der von ihm gepredigten Grundsätze und der von ihm verfolgten Zwecke, daß besonders das jugendliche Gemüt dem Zauber dieser Persönlichkeit schwer widerstehen konnte. Als ich ihn sah und sprechen hörte, konnte ich es wohl begreifen, wie er die Schar seiner Getreuen zusammenzuhalten und zu vermehren, zuweilen in die gefährlichsten Unternehmungen zu führen und nach den schwersten Enttäuschungen doch wieder an sich zu fesseln vermochte.
Mazzini hatte unzweifelhaft seiner Angehörigkeit zur katholischen Kirche, wenn auch nicht formell, so doch tatsächlich, schon in früher Jugend entsagt. Aber es lag in ihm und sprach aus ihm ein tiefes religiöses Gefühl, ein Anbetungsbedürfnis, ein instinktives Vertrauen auf eine höhere Macht, an die er sich wenden könne, und die ihm beistehen werde zur Befreiung und Vereinigung seines Volkes. Dies war seine Form des Fatalismus, den man so oft mit großen Ambitionen verbunden findet. Er hatte einen Zug mystischen Prophetentums in sich, das der Tiefe seiner Überzeugungen und Gefühle entsprang und von aller Charlatanerie, aller affektierten Feierlichkeit frei war. Wenigstens [256] machte er auf mich diesen Eindruck. Ich habe nie bei ihm einen Anflug von dem Zynismus in der Beurteilung von Verhältnissen und Menschen bemerkt, in dem sich manche der hervorragenden Revolutionäre gefielen. Die kleinlichen und gewöhnlich lächerlichen Rangstreitigkeiten unter den Führern der Flüchtlingschaften berührten ihn nicht. Veruneinigungen und Meinungszwiste unter denen, die hätten zusammenstehen und wirken sollen, reizten ihn nicht zu scharfen Ausfällen, sondern erfüllten ihn nur mit aufrichtig schmerzlichem Bedauern. Die Revolution, die er sich als Ziel vorstellte, war nicht eine bloße Erkämpfung gewisser Volksrechte, nicht eine bloße Veränderung in der Staatsform, nicht die bloße Befreiung seines Landes von der Fremdherrschaft, nicht die bloße Vereinigung aller Italiener in einem nationalen Verbande; sie bedeutete ihm vielmehr die Erhebung der befreiten Völker zu höheren sittlichen Lebenszwecken. Es klang ein wahrhafter und edler Ton durch seine Auffassung der Menschen und Dinge, durch die anspruchslose, entsagende Einfachheit seines Wesens und Lebens, durch die unbegrenzte Opferwilligkeit und Selbstverleugnung, die er sich selbst auferlegte und von anderen verlangte. Seit 1839 hatte er, als Verbannter von seinem Vaterlande, einen großen Teil seines Lebens in London zugebracht und war im Laufe der Zeit mit englischen Familien in intime Freundschaftsbeziehungen getreten. Es war wohl der Echtheit seiner Gesinnungen, der edlen Einfachheit seines Wesens und der wahrhaften und selbstlosen Hingebung an seine nationale Sache nicht weniger, als seinen brillanten persönlichen Eigenschaften zu verdanken, daß in einigen dieser Familien sich ein eigentlicher Mazzinikultus ausbildete, der sich nicht selten sehr großer Opfer fähig zeigte.
Die Tradition seines Volkes sowohl wie der Umstand, daß er zur Befreiung seines Vaterlandes eine Fremdherrschaft zu bekämpfen hatte, machten ihn zum professionellen Verschwörer. Schon als Jüngling gehörte er den Karbonari an, und dann folgte auf seine Anregung und unter seiner Leitung eine Konspiration auf die andere, deren Aufstandsversuche alle fehlschlugen. Aber diese Fehlschläge entmutigten ihn nicht, sondern feuerten ihn nur zu immer neuen Anstrengungen an. Er gab mir im Lauf unseres Gesprächs zu verstehen, daß er Vorbereitungen zu einem neuen Unternehmen in Oberitalien im Gange habe; und da er in mir wahrscheinlich ein Mitglied des inneren Zirkels in demjenigen Teile der deutschen Flüchtlingschaft vermutete, der über den Ertrag der „Nationalanleihe“ verfügen werde, so wünschte er zu wissen, ob wir mit unsern Mitteln sein Unternehmen zu unterstützen geneigt sein würden. Jedenfalls war ihm darum zu tun, uns für ein solches Zusammenwirken günstig zu stimmen. Er hielt mich unzweifelhaft für eine einflußreichere Person als ich war. Ich konnte ihm nur versprechen, die Sache den mit Kinkel verbundenen Führern nach dessen Rückkehr zur Überlegung zu unterbreiten, verhehlte Mazzini aber nicht, daß ich bezweifelte, ob die verantwortlichen Männer sich für berechtigt halten würden, Gelder, die zur Verwendung in Deutschland gesammelt worden, für revolutionäre Zwecke in Italien herzugeben. Diese Bemerkung gab Mazzini Anlaß zu einer mit feuriger Beredsamkeit geführten Auseinandersetzung über die Solidarität der Völker im Kampfe für Freiheit und nationale Existenz. [257] Übrigens wußten wir damals noch nicht, wie wenig der Ertrag der deutschen „Nationalanleihe“ zu bedeuten haben werde.
Eine andere Begegnung wurde mir zuteil, die mir kaum minder denkwürdig geblieben ist. Im Oktober 1851 kam Ludwig Kossuth nach England. Nach dem Zusammenbruch der ungarischen Revolution war er über die türkische Grenze geflohen. Sein Verbleiben in der Türkei wurde von Österreich für unstatthaft und von Kossuths Freunden für unsicher gehalten. Freilich verweigerte der Sultan seine Auslieferung. Als aber die Republik der Vereinigten Staaten von Amerika in großmütiger Sympathie mit dem unglücklichen Freiheitskämpfer diesem auf einem amerikanischen Kriegsschiff die Überfahrt nach den Vereinigten Staaten anbot, wurde das Anerbieten ohne Zaudern angenommen. Aber Kossuth hatte keineswegs im Sinne, nach Amerika zu wandern, um dort seinen Wohnsitz aufzuschlagen. Er war weit entfernt davon, seine Sendung für beendigt und die Niederlage seiner Sache für unwiderruflich zu halten. Die sanguinische Hoffnungsseligkeit der Verbannten träumte von der Möglichkeit, den liberalen Teil der alten und gar die neue Welt gegen die Unterdrücker seines Vaterlandes zu den Waffen zu rufen, oder wenigstens zu diplomatischer Einmischung zu bewegen. Und in der Tat, hätte sich dies durch einen bloßen Appell an das Gefühl und die Einbildungskraft erreichen lassen, so würde Kossuth der Mann gewesen sein, es zu vollbringen. Von allen Ereignissen der Jahre 1848 und 49 hatte der heldenmütige Kampf der Ungarn für ihre nationale Unabhängigkeit im Auslande vielleicht das lebhafteste Mitgefühl erweckt. Die tapferen Generale, die eine Zeitlang von Sieg zu Sieg flogen, um dann nach der russischen Intervention der Übermacht zu erliegen, erschienen wie die Recken einer Heldensage, und über ihnen stand die Figur Kossuths gleich der eines Propheten, dessen Wort in dem Herzen des Volks die Flamme des Patriotismus entzündet hatte und lodernd erhielt. Alles war da, Heldenmut und tragisches Unglück, um das Epos großartig und rührend zu machen, und die ganze Romantik der revolutionären Zeit fand in Kossuths Person die anziehendste Verkörperung. Seine wunderbare Beredsamkeit war während des Kampfes in vollen Tönen über die Grenze Ungarns hinausgeklungen. Nicht wenige seiner schwungvollen Perioden, poetischen Vergleiche und herzergreifenden Ausrufe gingen unter uns jungen Leuten auf der Universität von Mund zu Mund; und sein Bild mit der gedankenschweren Stirn, den träumerischen Augen und dem schönen bartumrahmten Kinn wurde ein Gegenstand bewundernder Verehrung.
Als er nun, seine Reise nach Amerika unterbrechend, in London ankam, schien der Enthusiasmus des englischen Volks keine Grenzen zu kennen. Sein Einzug glich dem eines von siegreichem Feldzug zurückkehrenden Nationalhelden. Das Menschengedränge auf den Straßen war unermeßlich, und ein betäubendes Jubelgeschrei grüßte Kossuth, wie er in seiner malerischen ungarischen Tracht im Wagen aufrecht stehend mit dem Säbel an der Seite erschien, von einem ebenso pittoresken Gefolge begleitet. Aber als er endlich zu reden begann und seine volltönende und doch so weiche Stimme ihren Wohllaut über die Köpfe der Menge ausströmte in klassischem Englisch, das durch einen Anflug [258] fremdländischen Akzents einen besonders pikanten Reiz empfing, da spottete der Enthusiasmus der Zuhörer aller Beschreibung.
Kossuth wurde in dem Hause eines Londoner Privatmanns, der an dem Schicksale Ungarns ein besonderes Interesse nahm, gastfreundlich aufgenommen und empfing dort während seines Aufenthaltes in der englischen Hauptstadt seine Bewunderer und Freunde. Eine Art von Hofhaltung umgab ihn. Seine Begleiter, stets in ungarischer Nationaltracht, hielten seine Prätension, noch immer der rechtmäßige Gouverneur von Ungarn zu sein, in zeremoniöser Weise aufrecht. Er gab Audienzen wie ein Fürst, und wenn er ins Zimmer trat, so wurde er von einem Adjutanten als der „Gouverneur“ angekündigt, alle Anwesenden standen von ihren Sitzen auf, und Kossuth begrüßte sie mit einer gewissen ernsten Feierlichkeit. Unter den Flüchtlingen anderer Nationen gab diese undemokratische Förmlichkeit viel Anstoß, aber doch wohl mit Unrecht. Es war Kossuths Absicht, auf die öffentliche Meinung gewisse Wirkungen hervorzubringen, nicht seiner selbst, sondern seines Volkes wegen. Und da es sich darum handelte, der Phantasie der Engländer das Bild Ungarns einzuprägen und ihnen auch den festen Glauben der Ungarn an die Rechtmäßigkeit ihrer Sache zu versinnlichen, so war es nicht unangemessen, daß Kossuth solche pittoreske Schaustellungen als Mittel zu seinem Zweck benutzte.
Auch unsere deutsche Flüchtlingsorganisation schickte eine Deputation ab, um Kossuth unsern Respekt zu bezeugen, und zu dieser Deputation gehörte auch ich. Wir wurden in der üblichen Weise in den Empfangssaal geführt und dort von goldbetreßten, gestiefelten und gespornten Adjutanten begrüßt, hübschen schnurrbärtigen Gesellen mit herrlichen weißen Zähnen. Endlich erschien Kossuth. Es war das erstemal, daß ich ihm nahe kam. Der Sprecher unserer Deputation nannte ihm unsere Namen, und als der meinige genannt wurde, trat Kossuth vor, reichte mir seine Hand und sagte auf deutsch mit einem Anflug des österreichischen Dialekts: „Ich kenne Sie. Sie haben eine edle Tat getan. Ich freue mich, Ihnen die Hand drücken zu können.“ Ich war so verlegen, daß ich nichts antworten konnte. Ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen schoß. Aber es war doch ein stolzer Moment. Es entspann sich eine kurze Unterhaltung, an welcher ich nur geringen Anteil nahm. Ein Mitglied unserer Deputation sprach von der sozialistischen Tendenz der neueren revolutionären Agitation. Ich erinnere mich der Antwort, die Kossuth gab. Er sagte ungefähr folgendes: „Ich weiß nichts von Sozialismus. Ich habe mich nie damit beschäftigt. Mein Zweck ist, dem ungarischen Volk nationale Unabhängigkeit und freisinnige Staatseinrichtungen zu erkämpfen. Wenn das geschehen ist, so wird meine Aufgabe erfüllt sein.“ In dieser Beziehung stand er auf gleichem Standpunkt mit Mazzini, der ebenfalls tätige Teilnahme an sozialistischen Bestrebungen von sich abwies.
Bei den öffentlichen Gelegenheiten, die ihm geboten wurden, strengte Kossuth seine ganze Beredsamkeit an, um die Begeisterung für die ungarische Sache unter den Engländern in Flammen zu halten; aber, obgleich ihm seine Zuhörer stets den wärmsten Beifall zollten, so konnten doch seine Bemühungen, England zu einem entschiedenen Auftreten [259] gegen Rußland und Österreich zugunsten Ungarns zu bewegen, einer ernüchternden Kritik nicht entgehen, und besonders mißlangen seine Versuche, in offiziellen Kreisen Fuß zu fassen und sich mit dem Ministerium Palmerston in vertrauliche Berührung zu bringen. In der Tat stand ihm in den Vereinigten Staaten dieselbe Erfahrung bevor: großer Enthusiasmus für seine Person und für die heldenmütigen Kämpfe seines Volks, aber dann nüchternes Erwägen der traditionellen Politik der Vereinigten Staaten und Abweisung des Versuchs, durch Einmischung in die Angelegenheiten der alten Welt in die Räder des Schicksals einzugreifen.
Ehe Kossuth seine agitatorische Tätigkeit in Amerika begann, kehrte Kinkel von dort zurück. Er hatte von der neuen Welt viel Gutes und Schönes zu erzählen, obgleich er sich gestehen mußte, daß der Erfolg seiner Mission ein sehr geringer war. Mit rüstigem Fleiß nahm er seine unterbrochene Lehrtätigkeit wieder auf, und mit ihm war auch der alte Sonnenschein in sein Haus zurückgekehrt.
Dreizehntes Kapitel.
Der Abschied von der alten Welt.
Im Herbst 1851 fand die Flüchtlingschaft, besonders die deutsche, einen gesellschaftlichen Sammelplatz im Salon einer geborenen Aristokratin, der Baronin Brüning, geborenen Prinzessin Lieven aus Deutschrußland. Sie war damals wenig über dreißig Jahre alt; nicht gerade schön, aber von offenem, angenehmem, gewinnendem Gesichtsausdruck und anmutigem Wesen, feinen Manieren und anregender Unterhaltungsgabe. Wie sie dazu gekommen war, trotz ihrer hochadligen Herkunft und gesellschaftlichen Stellung in die demokratische Strömung zu geraten, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hatten die Nachrichten von den Freiheitskämpfen im westlichen Europa, die über die russische Grenze drangen, ihre Einbildungskraft entflammt, und ihre lebhafte Natur war in unvorsichtigen Äußerungen gegen das despotische Regiment des Kaisers Nikolaus ausgebrochen. Kurz, sie hatte es in Rußland nicht mehr aushalten können, oder war gar genötigt gewesen, ihr Vaterland zu verlassen. Eine Zeitlang hatte sie dann in Deutschland und in der Schweiz gelebt und war mit verschiedenen demokratischen Führern bekannt geworden. Auch mit Frau Kinkel hatte sie korrespondiert und einen Beitrag zu dem Fonds geliefert, welcher bei Kinkels Befreiung zur Verwendung kam. Aber auf dem Kontinent glaubte sie sich überall von russischem Einfluß verfolgt, und wirklich machte die Polizei, in Deutschland wenigstens, sich ihr unbequem. So suchte sie denn zuletzt auf englischem Boden Zuflucht, und, um verwandten Geistern nahe zu bleiben, siedelte sie sich mitten in der deutschen Flüchtlingskolonie in der Vorstadt St. Johns Wood an. Von der Familie Kinkel wurde sie mit großer Herzlichkeit [260] aufgenommen und schickte sich an, in dem Kinkelschen Hause in ihrer Weise die gesellschaftlichen Honneurs zu machen. Es stellte sich bald heraus, daß dies nicht gehen wollte. Die reiche, in bequemem Wohlleben erzogene Frau konnte nicht verstehen, daß eine auf angestrengte Tätigkeit für ihren Broterwerb angewiesene Familie ihre Zeit sowohl wie ihre Mittel mit strengster Ökonomie zu Rate halten mußte und sich den Luxus eines, wenn auch noch so angenehmen geselligen Verkehrs nur in beschränktem Maße gestatten durfte. Die pflichttreue Arbeitsamkeit des Kinkelschen Ehepaares war daher mit den wohlmeinenden, aber etwas extravaganten Absichten der Frau von Brüning nicht in Einklang zu bringen, und es trat eine leichte Abkühlung des freundschaftlichen Verhältnisses ein. Da nun Frau von Brüning ein ziemlich geräumiges Haus auf St. Johns Wood Terrace mietete und ihren Salon mit großer Gastfreiheit ihren Freunden öffnete, so fand sich dort fast allabendlich ein ansehnlicher Kreis von Flüchtlingen zusammen.
Die Baronin hatte ihren Mann und ihre Kinder bei sich, und die Geselligkeit bewegte sich auf dem Boden eines angenehmen Familienlebens. Der Baron Brüning schien sich allerdings unter den Freunden, die sich in dem Salon sammelten, nicht ganz heimisch zu fühlen. Er war ein vornehm aussehender, ruhiger Mann von feiner Lebensart, der, wenn er auch mit den politischen Grundsätzen, die um ihn her gepredigt wurden, nicht harmonierte, sich das den Gästen des Hauses gegenüber nur sehr wenig merken ließ. Wenn die in seiner Umgebung ausgesprochenen Ansichten gar zu extrem waren, so spielte wohl zuweilen um seine Lippen ein stilles, ironisches Lächeln; und der zuversichtlichen Prophezeiung, daß nun in ganz kurzem alle Throne auf dem europäischen Kontinent umgestürzt und eine Familie von Republiken an die Stelle gesetzt werden würde, begegnete er wohl mit der ruhigen Frage: „Glauben Sie wirklich, daß es so kommen wird?“ Aber immer war er freundlich und gefällig, fehlte im geselligen Kreise nie und hieß jeden willkommen, der seiner Frau willkommen war. Die Besonnenern unter den Gästen und diejenigen, die auch außerhalb der revolutionären Politik geistige Interessen hatten, erkannten es als eine Pflicht des Anstandes, die Freundlichkeit des Barons mit jeder möglichen Aufmerksamkeit zu erwidern, und sie fanden in ihm einen wohlmeinenden, gut unterrichteten Mann, der viel gelesen und sich über manche Dinge klare Meinungen gebildet hatte. So entstanden zwischen ihm und einigen seiner Gäste, zu denen auch ich gehörte, Beziehungen von einer gewissen Vertraulichkeit; und wenn er über seine häuslichen Verhältnisse sprach, so empfing man den Eindruck, daß er den demokratischen Enthusiasmus seiner Frau mit all seinen Folgen als ein Schicksal ansah, dem man sich eben unterwerfen müsse. Die Ursache der Fügsamkeit des Barons in die Exzentrizitäten seiner Frau wurde von einigen unter uns in dem vermuteten Umstande gesucht, daß das Vermögen der Familie von ihrer Seite gekommen sei; aber es ist eben so wahrscheinlich, daß es die gewöhnliche Hülflosigkeit des schwächern Willens dem stärkern gegenüber war, und daß der Baron sich von seiner Frau von Ort zu Ort und in unerwünschten Gesellschaftskreisen umherwirbeln ließ, weil er eben unter seinen sonst vortrefflichen Eigenschaften nicht Widerstandskraft genug [261] besaß. Übrigens sprachen die Eheleute voneinander mit der größten, durchaus unaffektierten Achtung und Wärme, und der Baron ließ sich mit großer Sorge und umsichtiger Tätigkeit die Erziehung der Kinder angelegen sein.
Die Baronin ging nun ganz in ihrem Verkehr mit der Flüchtlingschaft auf. Sie war keineswegs eine Frau von großen Geistesgaben. Ihr Wissen war oberflächlich, und ihr Denken nicht tief. Sie besaß eben nur die „Bildung der guten Gesellschaft“, aber dabei wahre Herzensgüte in der liebenswürdigsten Form. Wie das häufig bei Frauen der Fall ist, deren Ansichten und Meinungen viel mehr aus den Erregungen des Gemüts, als aus klarer Beobachtung der Dinge und dem Räsonnement des Verstandes entstanden sind, so wandte sich ihre Begeisterung und Sympathie mehr den Personen als den Grundsätzen, Bestrebungen und Zielen zu. Man wirft Frauen ihres Schlages gern Gefallsucht vor, und es mag auch wirklich der Baronin geschmeichelt haben, der Mittelpunkt eines Kreises zu sein, in dem sich manche geistreiche Männer befanden. Aber ihre enthusiastische Natur war so echt, ihre Sorge, in ihrem Hause dem Verbannten eine Heimat zu bereiten, so unermüdlich, ihr Mitgefühl mit jedem Leiden und jeder Entbehrung so opferwillig, und ihr Charakter bei aller Freiheit des persönlichen Verkehrs so vollkommen fleckenlos und unantastbar, daß man ihr viel größere Eitelkeiten gern verziehen hätte. Für manchen der Flüchtlinge war sie wirklich die gute Fee. Diesem ließ sie auf ihre Kosten aus Deutschland die lang verlobte Braut kommen. Jenem besorgte sie eine anständige Wohnung und machte einen heimlichen Kontrakt mit dem Hausherrn, nach welchem sie einen Teil der Miete bezahlte. Für einen dritten lief sie umher, um ihm Unterrichtsstunden zu verschaffen. Einem vierten, der ein Künstler war, besorgte sie Aufträge. Einem fünften war sie „barmherzige Schwester“ in seiner Krankheit. Mit wachsamer Fürsorge pflegte sie den einen auszuforschen über das, was der andere etwa entbehren möge, und womit sie ihm helfen könne, denn es war ihr immer darum zu tun, daß womöglich die hülfreiche Hand nicht gesehen werde. Ihre opferwillige Freigebigkeit ging so weit, daß sie sich selbst Entbehrungen auferlegte, um mit dem Ersparten andern dienlich zu sein. So hatte sie nur ein Kleid, das nur nach den bescheidensten Begriffen für salonfähig gelten konnte. Es war von violettem Atlas und hatte in früheren Zeiten unzweifelhaft recht stattlich ausgesehen. Aber da sie es beständig trug, so wurden nach und nach sogar Flickstücke darauf sichtbar. Einige Damen in unserem Kreise machten ihr Vorstellungen darüber, und sie antwortete: „Ach ja, es ist wahr. Ich muß wirklich ein neues Kleid haben. Ich war auch schon mehrmals auf dem Wege zu einer Kleidermacherin, aber jedesmal fiel mir etwas Nötigeres ein, und ich bin wieder umgekehrt.“ Und so mußte das alte Kleid den ganzen Winter hindurch Dienst tun. Es konnte nichts Liebenswürdigeres geben als den Eifer, mit dem sie in ihrem Salon den Niedergeschlagenen aufzurichten und den Traurigen Trost und Mut zu geben suchte, und ich sehe sie noch, wie sie mit ihren leuchtenden blauen Augen unter uns saß und von dem großen Umschwung und der guten Zeit sprach, die nun unfehlbar bald kommen und uns triumphierend [262] in die Heimat zurückführen werde. Und dabei war die Gute von einer Herzkrankheit geplagt, die ihr zuweilen schwere Leidenszustände und die Ahnung eines baldigen Todes brachte. Eines Tages, als ich mit ihr spazieren ging, stand sie plötzlich still und hielt sich an mir fest. Der Atem schien ihr zu stocken. Ich blickte sie erschrocken an. Sie hatte die Augen geschlossen, und ein Schmerzensausdruck lag auf ihren Zügen. Endlich schlug sie die Augen wieder auf und sagte: „Haben Sie mein Herz klopfen hören? Ich werde bald sterben. Es kann kein Jahr mehr dauern. Aber sagen Sie es niemand. Es ist mir jetzt nur so herausgefahren.“ Ich suchte ihr diese Befürchtung auszureden, aber umsonst. „Nein,“ sagte sie, „ich weiß es. Es tut ja auch nichts. Sprechen wir nun lieber von etwas anderm.“ Ihr Vorgefühl sollte sich nur zu schnell bewahrheiten.
Der Kreis im Brüningschen Hause zählte einige interessante und tüchtige Menschen, die sich schon früher bewährt hatten oder im spätern Leben sich zu bewähren bestimmt waren. Da war unter andern Löwe, der, kurz nachdem ich ihn in der Schweiz gesehen, den Kontinent verlassen und den sicherern Boden Englands aufgesucht hatte. Da war Malvida von Meysenbug. Da war der schlesische Graf Oskar von Reichenbach, ein Mann von großem Wissen und eine durchaus edle Natur. Leider sahen wir ihn nicht oft. Da war Oppenheim, ein Schriftsteller von viel Geist und umfassenden Kenntnissen. Da war Willich, der Arbeiterführer, und Schimmelpfennig, zwei künftige amerikanische Generale. Da war der gute Strodtmann, der uns nach London gefolgt war.
Zuweilen sahen wir auch Zugvögel von anderer Art. So wurde eines Tages, ich weiß nicht mehr von wem, ein Franzose aus Marseille namens Barthélemy im Brüningschen Salon eingeführt und als eine besondere Merkwürdigkeit bezeichnet. Seine Vergangenheit war in der Tat seltsam genug gewesen. Er hatte schon vor der Revolution von 1848 zu einer geheimen Verschwörungsgesellschaft, der „Marianne“, gehört, hatte, durch das Los bestimmt, einen Polizeiagenten getötet und war dafür zu den Galeeren verurteilt worden. Infolge der Revolution von 1848 wurde er in Freiheit gesetzt, kämpfte dann in dem Pariser Sozialistenaufstande im Juni 1848, der blutigen „Junischlacht“, auf den Barrikaden, worauf es ihm gelang, nach England zu entkommen. Man sagte ihm nach, daß er verschiedene Menschen getötet habe, teils im Zweikampf, teils ohne diese Förmlichkeit. Nun galt er als „Arbeiter“; seine Hauptbeschäftigung war die des handwerksmäßigen Verschwörers. Sein Bild steht mir noch vor Augen, wie er in den Brüningschen Salon eintrat und am Kamin Platz nahm; ein Mann von etlichen dreißig Jahren, untersetzt von Gestalt, das Gesicht von dunkler Blässe mit schwarzem Schnurr- und Knebelbart, die Augen finster glühend von stechendem Feuer. Er sprach mit tiefer, volltönender Stimme, langsam und gemessen mit der dogmatischen Bestimmtheit, die entgegengesetzte Meinungen mit einer Art von mitleidiger Geringschätzung zurückweist. So setzte er uns mit größter Kaltblütigkeit seine Theorie der Revolution auseinander, die einfach darin bestand, daß alle Andersdenkenden ohne viel Federlesens abgeschlachtet werden müßten. [263] Der Mann drückte sich mit großer Klarheit aus wie einer, der über seinen Gegenstand viel und ruhig nachgedacht und auf logischem Wege seine Schlußfolgerungen erreicht hatte. Wir sahen also da einen jener Fanatiker vor uns, wie revolutionäre Kämpfe sie nicht selten hervorbringen; einen Menschen von nicht unbedeutendem Geist, dem das beständige Hinstarren auf einen Punkt jegliches Verständnis der sittlichen Weltordnung verwirrt hat, dem jeder gewöhnliche Begriff des Rechts abhanden gekommen ist, dem jedes Verbrechen als Mittel zu seinem Zweck statthaft, ja als eine tugendhafte Handlung erscheint, der jeden ihm im Wege Stehenden als vogelfrei ansieht, der also jeden totzuschlagen bereit und auch das eigene Leben für seinen nebelhaften Zweck einzusetzen stets willig ist. Solche Fanatiker sind fähig, wie Bestien zu handeln und zuweilen auch selbst wie Helden zu sterben.
Daß es denjenigen, die Barthélemy im Brüningschen Salon zuhörten, dabei unheimlich zumute wurde, war natürlich genug. Barthélemy wurde auch nach diesem ersten Besuch dort nicht mehr gesehen. Wenige Jahre nachher, im Jahre 1855, nahm er ein charakteristisches Ende. Er wohnte beständig in London, zog sich aber mehr und mehr von seinen Freunden zurück, – man sagte, weil er mit einer Frau lebte, der er leidenschaftlich zugetan sei. Weiter hieß es, er sei mit einem vermögenden Engländer bekannt geworden, den er oft besuchte. Eines Tages sprach er mit jener Frau bei diesem Engländer vor. Er trug einen Reisesack in der Hand, wie einer, der nach einem Bahnhofe gehen will. Plötzlich hörte man einen Knall in dem Hause des Engländers, und Barthélemy rannte mit seiner Geliebten, verfolgt von dem Geschrei eines weiblichen Dienstboten, die ihren Herrn in seinem Zimmer tot in seinem Blute gefunden hatte, davon. Ein Polizeidiener, der Barthélemy auf der Straße aufhalten wollte, fiel ebenfalls von Barthélemys Pistole tödlich getroffen zu Boden. Ein zusammengelaufener Volkshaufe versperrte dem Mörder den Weg, entwaffnete ihn und überlieferte ihn den Behörden. Die Frau entkam in der Verwirrung und wurde nie wieder gesehen. Alle Versuche, Barthélemy zu einer Aussage über sein Verhältnis zu dem erschossenen Engländer zu bringen, waren vergeblich. Er hüllte sich in das tiefste Schweigen, und soviel ich weiß, ist diese geheimnisvolle Geschichte nie aufgeklärt worden. Es verbreitete sich nur ein Gerücht, daß Barthélemy habe nach Paris gehen wollen, um den Kaiser Louis Napoleon zu ermorden; daß jener Engländer ihm das dazu nötige Geld versprochen, es aber im entscheidenden Augenblick verweigert habe; daß dann bei der letzten Zusammenkunft Barthélemy ihn erschossen habe, entweder um sich so in den Besitz des Geldes zu setzen, oder im Zorn über die Weigerung. Ein weiteres Gerücht sagte, die „Geliebte“ sei eine Spionin der französischen Regierung gewesen, mit dem Auftrage nach London geschickt, Barthélemy zu überwachen und schließlich ans Messer zu liefern. Barthélemy wurde als Mörder prozessiert, zur Todesstrafe verurteilt und gehängt. Er ging dem Tode mit großer Kaltblütigkeit entgegen, rief im Angesicht des Galgens aus: „In wenigen Augenblicken werde ich also das große Geheimnis kennen!“ und starb mit ruhiger Würde.
Die Geschichte ist von meiner guten Freundin Fräulein Malvida [264] von Meysenbug in ihrem höchst anziehenden Buche, den „Memoiren einer Idealistin“, mit vieler Wärme erzählt worden. Der Leser wird auch dort ein Beispiel finden von dem Eindruck, den eine Persönlichkeit wie Barthélemy, was immer auch das kühle Urteil des Verstandes und der Gerechtigkeit sein mag, auf das Gemüt einer geistvollen Frau zu machen imstande ist. Die Hinrichtung Barthélemys empörte ihr Gefühl und rührte sie zu Tränen. Aber nichts könnte gewisser sein als daß, hätte damals eine Begnadigung ihn auf freien Fuß gesetzt, jener wahnsinnige Fanatismus, der ihn von einem Morde wie von einem Frühstück sprechen ließ, ihn zu neuen Bluttaten geführt und schließlich doch dem Henker in die Hände geliefert haben würde.
Mit Malvida von Meysenbug wurde ich auch im Brüningschen Hause auf angenehme Weise näher bekannt. Sie war eine Tochter des kurfürstlich hessischen Ministers Herrn von Meysenbug, der, wohl mit Unrecht, für einen starren Absolutisten und Aristokraten gehalten wurde. Nach langen inneren Kämpfen, in welchen eine tiefe Herzensneigung für einen geistvollen jungen Demokraten, den Bruder meines Universitätsfreundes Friedrich Althaus, keine geringe Rolle spielte, bekannte sie sich offen zu der politisch freisinnigen Richtung, fand ein längeres Zusammenleben mit ihrer Familie unhaltbar, ging im Jahre 1849 oder 50 nach Hamburg, um bei der Gründung einer von freisinnigen Frauen geplanten weiblichen Hochschule mitzuwirken, kam durch ihre Bekanntschaft und Korrespondenz mit demokratischen Führern in polizeiliche Ungelegenheiten und landete endlich, hauptsächlich von Kinkels angezogen, in London in unserm Kreise. Ihren Entwicklungsgang und ihre Schicksale hat sie in den „Memoiren einer Idealistin“ mit charakteristischer Offenheit und in sehr interessanter Weise beschrieben.
Als wir in London zusammentrafen, muß sie etwas über dreißig Jahre alt gewesen sein. Aber sie sah viel älter aus, als sie wirklich war. Im Äußerlichen hatte die Natur sie gar nicht begünstigt. Aber ihre Freunde gewöhnten sich bald daran, das Äußerliche bei ihr zu vergessen. Sie hatte viel gelesen und von dem Gelesenen manches in sich verarbeitet. Mit eifrigem Interesse verfolgte sie die Ereignisse der Zeit auf dem politischen Felde sowie die merkwürdigen Erscheinungen auf dem literarischen, artistischen und wissenschaftlichen. Ein fast ungestümer und wahrhaft beredsamer Enthusiasmus beseelte sie für alles, was ihr schön, gut und edel erschien. Sie fühlte den Trieb, wo es irgend möglich war, tätig mit einzugreifen, und ihren Bestrebungen ging sie nach mit einem Eifer, einem Ernst, der sie zuweilen zu einer strengen Richterin machte über alles, was ihr als leichtfertige Behandlung wichtiger Dinge oder als Frivolität vorkam. Und dabei war ihr Wesen so ehrlich, einfach und anspruchslos, ihre Herzensgüte so unerschöpflich, ihre Sympathie so warm und opferwillig, ihre Freundschaft so echt und treu, daß jeder, der sie näher kennen lernte, ihr gern den Zug von schwärmerischer Überschwenglichkeit nachsah, der sich zuweilen in ihren Ansichten und Begeisterungen kundgab, und der in der Tat der Erregbarkeit ihres Gemüts, der Güte ihres Herzens zuzuschreiben war. Ihre ganze Umgebung achtete sie auf das höchste, und nicht wenige davon wurden ihre warmen Freunde.
[265] Der Ton, der im Brüningschen Salon vorherrschte, gefiel ihr nicht immer. Wenn sie mit einem Mitgliede des Kreises ein tiefgehendes Gespräch über bedeutende Dinge führte, so wurde es gar zu oft von der leichtfertigen Fröhlichkeit der anderen übertönt. Die Baronin selbst konnte ihr wenig folgen in der ernsten Behandlung, die Malvida allen Fragen zuteil werden ließ. Aber ihre persönlichen Sympathien hielten sie doch fest, und sie wurde an den gesellschaftlichen Abenden oft und immer sehr gern gesehen.
Die Bücher, die Malvida von Meysenbug nach der Zeit, von der ich spreche, geschrieben, sind alle von ihren edlen Welt- und Lebensanschauungen inspiriert, und eines davon, die „Memoiren einer Idealistin“, hat die seltene Auszeichnung erfahren, nach langen Jahren des Verschwindens vom literarischen Markt ohne besondere äußere Veranlassung eine Wiedergeburt zu erleben. Malvida erreichte ein hohes Alter, dessen letzte Jahrzehnte sie in Rom zubrachte, in beständigem gesellschaftlichem oder brieflichem Verkehr mit einem zahlreichen Kreise von Freunden, worunter Männer und Frauen von großer Distinktion, die ihrer bedeutenden und sympathischen Persönlichkeit die höchste Achtung und liebevolle Anhänglichkeit bewahrten. Unsere in London geschlossene Freundschaft blieb warm bis zu ihrem Tode.
Nun trat ein Ereignis ein, welches die Stimmung der Flüchtlingschaft furchtbar verdüsterte und auch meinem Schicksal eine entsprechende Wendung gab. Die Berichte, die wir von unseren Freunden in Paris empfangen hatten, liefen darauf hinaus, daß Louis Napoleon, der Präsident der französischen Republik, der allgemeinen Verachtung verfallen sei; daß er mit seiner offenbaren Ambition, das Kaisertum in Frankreich wieder herzustellen und sich auf den Thron zu schwingen, eine äußerst lächerliche Figur spiele, und daß jeder gewaltsame Versuch in dieser Richtung unfehlbar seinen Sturz und die Einsetzung einer stark republikanischen Regierung zur Folge haben müsse. Der Ton der republikanischen Oppositionsblätter in Paris ließ diese Ansicht von der Lage der Dinge als nicht unbegründet erscheinen.
Plötzlich, am 2. Dezember 1851, kam die Nachricht, daß Louis Napoleon tatsächlich den vorausgeahnten Staatsstreich ins Werk gesetzt habe. Er hatte sich der Armee versichert, die Halle der Nationalversammlung mit Truppen besetzt, die Führer der Opposition und den General Changarnier, der von der Nationalversammlung mit ihrem Schutze betraut war, und mehrere andere Generale verhaften lassen, ein Dekret veröffentlicht, durch welches er das von der Nationalversammlung beschränkte allgemeine Stimmrecht wieder herstellte, und eine Proklamation an das Volk erlassen, in der er die parlamentarischen Parteien der Selbstsucht anklagte und die Wiedereinführung des zehnjährigen Konsulats verlangte. Schlag auf Schlag kamen aufregende Depeschen. Mitglieder der Nationalversammlung in ansehnlicher Zahl fanden sich zusammen und versuchten Widerstand zu organisieren, wurden aber von der bewaffneten Macht auseinandergetrieben. Endlich hieß es auch, das Volk beginne „in die Straßen herniederzusteigen“ und Barrikaden zu bauen. Nun sollte die entscheidende Schlacht geschlagen werden.
[266] Der Gemütszustand, in den durch diese Berichte die Flüchtlingschaft versetzt wurde, läßt sich nicht beschreiben. Wir Deutschen liefen nach den Versammlungslokalen der französischen Klubs, weil wir dort die schnellste und zuverlässigste Kunde, vielleicht auch aus Quellen, die dem allgemeinen Publikum verschlossen wären, zu erhaschen hofften. Dort fanden wir eine an Fieberwahnsinn grenzende Erregung. Man schrie, man gestikulierte, man beschimpfte Louis Napoleon, man verwünschte seine Helfershelfer, man weinte, man umarmte sich. Alle waren eines Volkssieges gewiß. Die glorreichsten Bulletins über den Fortgang des Straßenkampfs gingen von Mund zu Mund. Einige davon wurden von wildblickenden Revolutionären, die auf Tische gesprungen waren, proklamiert und mit frenetischem Beifallsgeschrei begrüßt. So ging es eine Nacht hindurch, einen Tag und wieder eine Nacht. Zu schlafen war unmöglich. Man nahm sich kaum zum Essen Zeit. Auf die Siegesberichte folgten andere, die ungünstiger klangen. Man konnte und wollte sie nicht glauben. Es waren die Depeschen des Usurpators und seiner Sklaven. Sie logen; sie konnten nicht anders als lügen. Aber immer düsterer klang die Botschaft. Die Barrikaden, die das Volk in der Nacht auf den 3. Dezember errichtet hatte, waren von der Armee ohne Mühe genommen worden. Am 4. hatte sich auf den Straßen St. Denis und St. Martin ein ernsterer Kampf entsponnen, aber auch da waren die Truppen Meister geblieben. Dann stürzte sich die Soldateska in die Häuser und mordete ohne Unterschied und Mitleid. Schließlich die Ruhe des Kirchhofs in Paris. Der Volksaufstand war unbedeutend und ohnmächtig gewesen. Der Usurpator, den man noch vor kurzem als einen schwachsinnigen Abenteurer, einen lächerlichen Affen dargestellt, hatte Paris unterjocht. Die Departments rührten sich nicht. Es war kein Zweifel mehr. Mit der Republik war’s zu Ende, und also auch mit der neuen Revolution, die sich auf den von Frankreich kommenden Anstoß über den ganzen Kontinent verbreiten sollte.
Wir schlichen still nach Hause, von den Schreckensnachrichten betäubt, geistig und körperlich erschöpft. Nachdem ich mich durch einen langen Schlaf von der furchtbaren Aufregung erholt, suchte ich mir über die veränderte Lage der Dinge klar zu werden. Es war ein nebliger Tag, und ich ging hinaus, da es mir unbehaglich war, still in den vier Wänden zu sitzen. In meine Gedanken vertieft, wanderte ich fort ohne eigentlichen Zielpunkt und fand mich endlich im Hydepark, wo ich mich trotz der kühlen Witterung auf eine Bank setzte. Von welcher Seite ich auch die neuesten Ereignisse und ihre natürlichen Folgen betrachten mochte, eines schien mir gewiß: alle revolutionären Bestrebungen, die sich an die Erhebung von 1848 knüpften, waren nun hoffnungslos; eine Periode entschiedener und allgemeiner Reaktion stand uns bevor, und was es auch von weitern Entwicklungen im freiheitlichen Sinne in der Zukunft geben mochte, das mußte einen neuen Ausgangspunkt haben.
Meine eigene Lage wurde mir ebenso klar. Mich der illusorischen Hoffnung einer baldigen Rückkehr ins Vaterland noch weiter hinzugeben, wäre kindisch gewesen. Weiter zu konspirieren und dadurch noch mehr [267] Unheil auf andre zu bringen, schien mir ein frevelhaftes Spiel. Das Flüchtlingsleben hatte ich als öde und entnervend erkannt. Ich fühlte einen ungestümen Drang in mir, nicht nur mir eine geregelte Lebenstätigkeit zu schaffen, sondern für das Wohl der Menschheit etwas Wirkliches, wahrhaft Wertvolles zu leisten. Aber wo? Das Vaterland war mir verschlossen. England war mir eine Fremde und würde es immer bleiben. Wohin dann? „Nach Amerika!“ sagte ich zu mir selbst. Die Ideale, von denen ich geträumt und für die ich gekämpft, fände ich dort, wenn auch nicht voll verwirklicht, doch hoffnungsvoll nach ganzer Verwirklichung strebend. In diesem Streben werde ich tätig mithelfen können. Es ist eine neue Welt, eine freie Welt, eine Welt großer Ideen und Zwecke. In dieser Welt gibt’s wohl für mich eine neue Heimat. „Ubi libertas, ibi patria.“ Auf der Stelle faßte ich den Entschluß. Nur noch so lange wollte ich in England bleiben, bis ich mir durch meine Unterrichtsstunden meine Barschaft ein wenig vermehrt haben würde, und dann nach Amerika!
Ich hatte schon eine gute Weile auf jener Bank im Hydepark, in diese Gedanken vertieft, gesessen, als ich bemerkte, daß auch am andern Ende der Bank ein Mensch saß, der ebenso gedankenvoll vor sich auf den Boden zu stieren schien. Er war ein kleiner Mann, und als ich genauer hinblickte, glaubte ich ihn zu erkennen. Es war Louis Blanc, der französische Sozialistenführer, ehemaliges Mitglied der provisorischen Regierung von Frankreich. Ich war vor kurzem in einer Gesellschaft mit ihm bekannt geworden, und er hatte sich auf sehr liebenswürdige und geistvolle Weise mit mir unterhalten. Da ich mit meiner Überlegung fertig war, so stand ich auf, um zu gehen, ohne ihn stören zu wollen. Aber er richtete den Kopf empor, sah mich mit übernächtigten Augen aus einem verstörten Gesicht an und sagte: „Ah, c’est vous, mon jeune ami! C’est fini, n’est ce pas? C’est fini!“ Wir drückten einander die Hände, er ließ seinen Kopf wieder sinken, und ich ging meines Weges nach Hause, um meinen Eltern den auf der Bank im Hydepark gefaßten Entschluß sofort brieflich mitzuteilen. Mehrere meiner Mitverbannten suchten ihn mir auszureden, indem sie noch allerlei wunderbare Dinge prophezeiten, die sich auf dem Kontinent sehr bald zutragen würden, und in die wir Flüchtlinge eingreifen müßten, aber ich hatte das Wesenlose dieser Phantasien zu gut erkannt und ließ mich nicht wankend machen.
Und nun geschah etwas, das über meine anscheinend trübe und gedrückte Lage einen heitern und warmen Sonnenschein ergoß und meinem Leben einen ungeahnten Inhalt verlieh.
Ein paar Wochen vor dem Staatsstreich Louis Napoleons hatte ich ein Geschäft bei einem Mitverbannten auszurichten und machte diesem in seiner Wohnung in Hampstead einen Besuch. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft, wie ich den Weg, der stellenweise zwischen Hecken und Baumreihen lief – jetzt wohl eine ununterbrochene Häusermasse –, in der Abenddämmerung zu Fuß zurücklegte, nicht ahnend, daß ich eine viel wichtigere Begegnung vor mir hatte, als die mit irgendeinem politischen Gesinnungsgenossen. Mein Geschäft war bald abgemacht, und ich erhob mich schon, um zu gehen, als er in ein anstoßendes [268] Zimmer hineinrief: „Margarete, komm doch einmal herein. Hier ist ein Herr, den du kennen lernen solltest.“ – „Es ist meine Schwägerin,“ setzte er zu mir gewendet hinzu. „Sie ist von Hamburg hierher zu Besuch gekommen.“
Ein Mädchen von etwa 18 Jahren trat herein, von stattlichem Wuchs mit schwarzem Lockenkopf, kindlich schönen Zügen und großen dunklen wahrhaftigen Augen.
Wir wurden in der Tat miteinander sehr gut bekannt – freilich nicht an jenem Tage – aber bald nachher; und am 6. Juli 1852 wurden wir in der Pfarrkirche von Marylebone in London fürs Leben vereinigt. Ich habe ausführlich aufgeschrieben, wie das alles sich zutrug. Aber dieser Teil meiner Geschichte gehört natürlich nur meinen Kindern und dem intimsten Freundeskreise.
Mitte August waren wir zur Abreise fertig. Kurz vor dem Tage des Abschiedes lud mich Mazzini noch einmal zu sich ein.
Als ich zum letztenmal bei ihm in seinem Zimmer saß, machte er noch einen Versuch, mich in Europa zurückzuhalten. Er vertraute mir das Geheimnis einer revolutionären Unternehmung an, die er im Werke habe, und die, wie er mir sagte, große Resultate versprechend, zur Ausführung gekommen sein müsse, ehe ich Amerika erreicht haben würde. Es handelte sich um eine Schilderhebung in der Lombardei. Mit seiner glühenden Beredsamkeit schilderte er mir, wie die italienischen Freiheitskämpfer die Österreicher in die Alpen zurückdrängen und wie dann ähnliche Bewegungen in andern Ländern des Kontinents sich an diesen siegreichen Aufstand anschließen würden. Dann seien es just solche junge Männer, wie ich, die zur Stelle sein müßten, um das so begonnene Werk fortführen zu helfen. „Wenn Sie gehen,“ sagte er, „wie werden Sie dann wünschen, nicht gegangen zu sein! Sie werden das nächste Schiff nehmen, um nach Europa zurückzueilen. Sparen Sie doch die unnötige Spazierfahrt!“ Ich mußte ihm gestehen, daß meine Hoffnungen nicht so sanguinisch seien wie die seinigen; daß ich in der Lage der Dinge auf dem Kontinent keine Aussicht auf baldige Veränderung finden könne, die mich zu einer ersprießlichen Tätigkeit in mein Vaterland zurückführen werde; daß wenn in entfernter Zukunft solche Veränderungen kämen, sie sich anders gestalten würden, als wir sie uns jetzt vorstellen möchten, und dann würde es andere Leute geben, um sie durchzuführen. So schieden wir voneinander, und ich habe ihn nicht wieder gesehen.
Einige Zeit nach meiner Ankunft in Amerika hörte ich denn auch von dem Ausbruch der von Mazzini angekündigten revolutionären Unternehmung. Sie bestand in einem Insurrektionsversuch in Mailand, den die Österreicher ohne große Mühe unterdrückten, und führte nur zur Einkerkerung einer ansehnlichen Zahl italienischer Patrioten. Und Mazzinis Sache, die Einigung Italiens unter einer freien Regierung, erschien hoffnungsloser als je.
Kossuth kehrte von Amerika zurück als ein schmerzlich enttäuschter Mann. Er war von dem amerikanischen Volk mit grenzenloser Begeisterung begrüßt worden. Zahllose Menschenmassen hatten seiner bezaubernden Beredsamkeit gelauscht und ihn mit Zeichen der Bewunderung und der Sympathie überhäuft. Der Präsident der Vereinigten [269] Staaten hatte ihm verehrungsvoll die Hand gedrückt, und der Kongreß hatte ihn mit außerordentlichen Ehrenbezeugungen empfangen. Da gab es pomphafte öffentliche Aufzüge und Paraden und Festessen ohne Ende. Aber die Regierung der Vereinigten Staaten, in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung des Landes, hielt fest an der altherkömmlichen Politik der Nichteinmischung in europäische Angelegenheiten. Kossuths Appell um „substantielle Hülfe“ für sein unterdrücktes Vaterland war vergeblich. Als er nach England zurückkam, fand er, daß auch da der Volksenthusiasmus, der ihn vor nur wenigen Monaten umbraust hatte, ausgebrannt war. Er versuchte noch einmal, durch öffentliche Vorträge in verschiedenen Städten Englands das Interesse an Ungarns Schicksal wachzuhalten, und man hörte ihm mit hochachtungsvoller und sympathischer Aufmerksamkeit zu, wie man eben einem großen Redner lauscht, über was er auch immer sprechen mag. Wenn er auf den Straßen erschien, sammelte sich die Menge nicht mehr mit donnernden Hochrufen um ihn. Leute, die ihn erkannten, nahmen wohl den Hut ab und flüsterten einander zu: „Da geht Kossuth, der große ungarische Patriot.“ Die Sache der Unabhängigkeit seines Landes, seine Sache, schien tot und begraben zu sein.
Mazzini und Kossuth – wie sonderbar hat das Schicksal mit diesen beiden Männern gespielt! Mazzini hatte sein ganzes Leben hindurch konspiriert, gekämpft und gelitten für die Vereinigung seines Landes unter einer freien Nationalregierung. Wenige Jahre nach der Zeitperiode, von der ich spreche, kam diese nationale Einigung, zuerst teilweise befördert von dem Manne, den Mazzini am bittersten haßte, dem französischen Kaiser Louis Napoleon; und dann weiter geführt durch den wunderbaren Feldzug Garibaldis, den Mazzini selbst ursprünglich geplant haben soll, und dessen Geschichte klingt wie die eines romantischen Abenteuers zur Zeit der Kreuzzüge. Aber die nationale Einigung vollzog sich unter der Ägide der Dynastie von Savoyen; und der Republikaner Mazzini starb endlich unter einem falschen Namen in einem Versteck auf italienischem Boden wie ein Verbannter in seinem eigenen Lande, das seither dem Toten Denkmäler setzt.
Kossuth hatte mit seiner glühenden Beredsamkeit jahrelang agitiert und dann einen brillanten, aber unglücklichen Krieg geleitet für die nationale Unabhängigkeit Ungarns. Als ein geschlagener Mann ging er ins Exil. Im Laufe der Zeit wurde ein hoher Grad von politischer Autonomie, von Selbstregierung, ein Zustand, der das ungarische Volk zurzeit zu befriedigen schien, auf friedlichem Wege erreicht. Aber er wurde erreicht mit einem Habsburg auf dem Thron, und Kossuth, der sein Haupt nicht vor einem Habsburg neigen wollte, wies unbeugsam jede Einladung ab, die ihn in sein, ihn noch immer als Nationalhelden verehrendes Vaterland zurückrief; und so starb er in freiwilliger Verbannung in Turin, ein einsamer Greis.
Ein großes Maß dessen, für das diese beiden Männer gekämpft hatten, ging also endlich in Erfüllung; aber es war in einer Gestalt, in der sie es nicht als ihr eigenes Werk erkannten.
Die deutschen Revolutionäre von 1848 verfielen einem ähnlichen Schicksal. Sie kämpften für ein einiges Deutschland und freie [270] Regierungsinstitutionen und wurden geschlagen, hauptsächlich durch preußische Waffen. Dann kamen Jahre stupider Reaktion und nationaler Erniedrigung, in denen die Ziele der Revolution von 1848 hoffnungslos untergegangen schienen. Dann, unerwartete, eine neue Ära: Friedrich Wilhelm IV., der mehr als irgendein anderer Mann seiner Zeit den mystischen Glauben an die göttliche Erleuchtung der Könige gehegt hatte, – Friedrich Wilhelm IV. wurde irrsinnig, und die Zügel der Regierung entfielen seiner Hand. Der Prinz von Preußen, derselbe Prinz von Preußen, den die Revolutionsmänner von 1848 als den bittersten und unversöhnlichsten Feind ihrer Sache angesehen, folgte ihm, zuerst als Regent, dann als König, und vom Schicksal bestimmt, der erste Kaiser des neuen Deutschen Reiches zu werden. Er rief Bismarck als Premierminister an seine Seite, denselben Bismarck, der der lauteste Wortführer des Absolutismus und der feurigste Widersacher der Revolution gewesen war. Und dann wurde die deutsche Einheit mit einem Nationalparlament gewonnen, nicht durch eine revolutionäre Volkserhebung, sondern durch monarchische Aktion und eine kriegerische Politik, die anfangs von einem großen Teildes Volkes mißbilligt, schließlich aber von einem mächtig auflodernden Nationalgefühl getragen und zum Siege geführt wurde. Es hat seitdem als eine wohlberechtigte Frage gegolten, ob dieses Auflodern des Nationalgefühls möglich geworden wäre ohne den Vorgang des großen Erweckungsjahres 1848. „Das große Erweckungsjahr“ – dies ist der Name, den es in der Geschichte des deutschen Volkes tragen sollte.
So ist denn, wenn auch nicht alles, doch ein großer und wichtiger Teil von dem, wofür die Revolutionäre von 1848 gekämpft, in Erfüllung gegangen, – freilich viel später und weniger friedlich und weniger vollständig, als sie gewünscht, und durch Personen und Gewalten, die ihnen ursprünglich feindlich gewesen; aber weitere Entwicklungen versprechend, die den Idealen von 1848 viel näher kommen werden, als die jetzigen politischen Institutionen es tun.
Im Sommer 1852 jedoch lag die Zukunft Europas in düsteren Wolken vor uns. In Frankreich schien Louis Napoleon fest und sicher auf dem Nacken eines unterwürfigen Volkes zu sitzen. Die britische Regierung unter Lord Palmerston schüttelte ihm freundschaftlich die Hand. Auf dem ganzen europäischen Kontinent feierte die Reaktion gegen die liberalen Bestrebungen der letzten vier Jahre Orgien des Triumphes. Wie lange diese Reaktion unwiderstehlich sein würde, konnte niemand wissen. Daß einige ihrer Vorkämpfer in Deutschland selbst die Führer des nationalen Geistes werden könnten, würde selbst der hoffnungsseligste Sanguiniker nicht vorauszusagen gewagt haben.
Meine junge Frau und ich schifften uns im August in Portsmouth ein und landeten an einem sonnigen Septembermorgen im Hafen von New York. Mit dem heiteren Mut jugendlicher Herzen begrüßten wir die neue Welt.
Anmerkungen (Wikisource)
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