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Unheil auf andre zu bringen, schien mir ein frevelhaftes Spiel. Das Flüchtlingsleben hatte ich als öde und entnervend erkannt. Ich fühlte einen ungestümen Drang in mir, nicht nur mir eine geregelte Lebenstätigkeit zu schaffen, sondern für das Wohl der Menschheit etwas Wirkliches, wahrhaft Wertvolles zu leisten. Aber wo? Das Vaterland war mir verschlossen. England war mir eine Fremde und würde es immer bleiben. Wohin dann? „Nach Amerika!“ sagte ich zu mir selbst. Die Ideale, von denen ich geträumt und für die ich gekämpft, fände ich dort, wenn auch nicht voll verwirklicht, doch hoffnungsvoll nach ganzer Verwirklichung strebend. In diesem Streben werde ich tätig mithelfen können. Es ist eine neue Welt, eine freie Welt, eine Welt großer Ideen und Zwecke. In dieser Welt gibt’s wohl für mich eine neue Heimat. „Ubi libertas, ibi patria.“ Auf der Stelle faßte ich den Entschluß. Nur noch so lange wollte ich in England bleiben, bis ich mir durch meine Unterrichtsstunden meine Barschaft ein wenig vermehrt haben würde, und dann nach Amerika!

Ich hatte schon eine gute Weile auf jener Bank im Hydepark, in diese Gedanken vertieft, gesessen, als ich bemerkte, daß auch am andern Ende der Bank ein Mensch saß, der ebenso gedankenvoll vor sich auf den Boden zu stieren schien. Er war ein kleiner Mann, und als ich genauer hinblickte, glaubte ich ihn zu erkennen. Es war Louis Blanc, der französische Sozialistenführer, ehemaliges Mitglied der provisorischen Regierung von Frankreich. Ich war vor kurzem in einer Gesellschaft mit ihm bekannt geworden, und er hatte sich auf sehr liebenswürdige und geistvolle Weise mit mir unterhalten. Da ich mit meiner Überlegung fertig war, so stand ich auf, um zu gehen, ohne ihn stören zu wollen. Aber er richtete den Kopf empor, sah mich mit übernächtigten Augen aus einem verstörten Gesicht an und sagte: „Ah, c’est vous, mon jeune ami! C’est fini, n’est ce pas? C’est fini!“ Wir drückten einander die Hände, er ließ seinen Kopf wieder sinken, und ich ging meines Weges nach Hause, um meinen Eltern den auf der Bank im Hydepark gefaßten Entschluß sofort brieflich mitzuteilen. Mehrere meiner Mitverbannten suchten ihn mir auszureden, indem sie noch allerlei wunderbare Dinge prophezeiten, die sich auf dem Kontinent sehr bald zutragen würden, und in die wir Flüchtlinge eingreifen müßten, aber ich hatte das Wesenlose dieser Phantasien zu gut erkannt und ließ mich nicht wankend machen.

Und nun geschah etwas, das über meine anscheinend trübe und gedrückte Lage einen heitern und warmen Sonnenschein ergoß und meinem Leben einen ungeahnten Inhalt verlieh.

Ein paar Wochen vor dem Staatsstreich Louis Napoleons hatte ich ein Geschäft bei einem Mitverbannten auszurichten und machte diesem in seiner Wohnung in Hampstead einen Besuch. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft, wie ich den Weg, der stellenweise zwischen Hecken und Baumreihen lief – jetzt wohl eine ununterbrochene Häusermasse –, in der Abenddämmerung zu Fuß zurücklegte, nicht ahnend, daß ich eine viel wichtigere Begegnung vor mir hatte, als die mit irgendeinem politischen Gesinnungsgenossen. Mein Geschäft war bald abgemacht, und ich erhob mich schon, um zu gehen, als er in ein anstoßendes

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s267.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)