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Der Gemütszustand, in den durch diese Berichte die Flüchtlingschaft versetzt wurde, läßt sich nicht beschreiben. Wir Deutschen liefen nach den Versammlungslokalen der französischen Klubs, weil wir dort die schnellste und zuverlässigste Kunde, vielleicht auch aus Quellen, die dem allgemeinen Publikum verschlossen wären, zu erhaschen hofften. Dort fanden wir eine an Fieberwahnsinn grenzende Erregung. Man schrie, man gestikulierte, man beschimpfte Louis Napoleon, man verwünschte seine Helfershelfer, man weinte, man umarmte sich. Alle waren eines Volkssieges gewiß. Die glorreichsten Bulletins über den Fortgang des Straßenkampfs gingen von Mund zu Mund. Einige davon wurden von wildblickenden Revolutionären, die auf Tische gesprungen waren, proklamiert und mit frenetischem Beifallsgeschrei begrüßt. So ging es eine Nacht hindurch, einen Tag und wieder eine Nacht. Zu schlafen war unmöglich. Man nahm sich kaum zum Essen Zeit. Auf die Siegesberichte folgten andere, die ungünstiger klangen. Man konnte und wollte sie nicht glauben. Es waren die Depeschen des Usurpators und seiner Sklaven. Sie logen; sie konnten nicht anders als lügen. Aber immer düsterer klang die Botschaft. Die Barrikaden, die das Volk in der Nacht auf den 3. Dezember errichtet hatte, waren von der Armee ohne Mühe genommen worden. Am 4. hatte sich auf den Straßen St. Denis und St. Martin ein ernsterer Kampf entsponnen, aber auch da waren die Truppen Meister geblieben. Dann stürzte sich die Soldateska in die Häuser und mordete ohne Unterschied und Mitleid. Schließlich die Ruhe des Kirchhofs in Paris. Der Volksaufstand war unbedeutend und ohnmächtig gewesen. Der Usurpator, den man noch vor kurzem als einen schwachsinnigen Abenteurer, einen lächerlichen Affen dargestellt, hatte Paris unterjocht. Die Departments rührten sich nicht. Es war kein Zweifel mehr. Mit der Republik war’s zu Ende, und also auch mit der neuen Revolution, die sich auf den von Frankreich kommenden Anstoß über den ganzen Kontinent verbreiten sollte.

Wir schlichen still nach Hause, von den Schreckensnachrichten betäubt, geistig und körperlich erschöpft. Nachdem ich mich durch einen langen Schlaf von der furchtbaren Aufregung erholt, suchte ich mir über die veränderte Lage der Dinge klar zu werden. Es war ein nebliger Tag, und ich ging hinaus, da es mir unbehaglich war, still in den vier Wänden zu sitzen. In meine Gedanken vertieft, wanderte ich fort ohne eigentlichen Zielpunkt und fand mich endlich im Hydepark, wo ich mich trotz der kühlen Witterung auf eine Bank setzte. Von welcher Seite ich auch die neuesten Ereignisse und ihre natürlichen Folgen betrachten mochte, eines schien mir gewiß: alle revolutionären Bestrebungen, die sich an die Erhebung von 1848 knüpften, waren nun hoffnungslos; eine Periode entschiedener und allgemeiner Reaktion stand uns bevor, und was es auch von weitern Entwicklungen im freiheitlichen Sinne in der Zukunft geben mochte, das mußte einen neuen Ausgangspunkt haben.

Meine eigene Lage wurde mir ebenso klar. Mich der illusorischen Hoffnung einer baldigen Rückkehr ins Vaterland noch weiter hinzugeben, wäre kindisch gewesen. Weiter zu konspirieren und dadurch noch mehr

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s266.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)