Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s265.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Der Ton, der im Brüningschen Salon vorherrschte, gefiel ihr nicht immer. Wenn sie mit einem Mitgliede des Kreises ein tiefgehendes Gespräch über bedeutende Dinge führte, so wurde es gar zu oft von der leichtfertigen Fröhlichkeit der anderen übertönt. Die Baronin selbst konnte ihr wenig folgen in der ernsten Behandlung, die Malvida allen Fragen zuteil werden ließ. Aber ihre persönlichen Sympathien hielten sie doch fest, und sie wurde an den gesellschaftlichen Abenden oft und immer sehr gern gesehen.

Die Bücher, die Malvida von Meysenbug nach der Zeit, von der ich spreche, geschrieben, sind alle von ihren edlen Welt- und Lebensanschauungen inspiriert, und eines davon, die „Memoiren einer Idealistin“, hat die seltene Auszeichnung erfahren, nach langen Jahren des Verschwindens vom literarischen Markt ohne besondere äußere Veranlassung eine Wiedergeburt zu erleben. Malvida erreichte ein hohes Alter, dessen letzte Jahrzehnte sie in Rom zubrachte, in beständigem gesellschaftlichem oder brieflichem Verkehr mit einem zahlreichen Kreise von Freunden, worunter Männer und Frauen von großer Distinktion, die ihrer bedeutenden und sympathischen Persönlichkeit die höchste Achtung und liebevolle Anhänglichkeit bewahrten. Unsere in London geschlossene Freundschaft blieb warm bis zu ihrem Tode.

Nun trat ein Ereignis ein, welches die Stimmung der Flüchtlingschaft furchtbar verdüsterte und auch meinem Schicksal eine entsprechende Wendung gab. Die Berichte, die wir von unseren Freunden in Paris empfangen hatten, liefen darauf hinaus, daß Louis Napoleon, der Präsident der französischen Republik, der allgemeinen Verachtung verfallen sei; daß er mit seiner offenbaren Ambition, das Kaisertum in Frankreich wieder herzustellen und sich auf den Thron zu schwingen, eine äußerst lächerliche Figur spiele, und daß jeder gewaltsame Versuch in dieser Richtung unfehlbar seinen Sturz und die Einsetzung einer stark republikanischen Regierung zur Folge haben müsse. Der Ton der republikanischen Oppositionsblätter in Paris ließ diese Ansicht von der Lage der Dinge als nicht unbegründet erscheinen.

Plötzlich, am 2. Dezember 1851, kam die Nachricht, daß Louis Napoleon tatsächlich den vorausgeahnten Staatsstreich ins Werk gesetzt habe. Er hatte sich der Armee versichert, die Halle der Nationalversammlung mit Truppen besetzt, die Führer der Opposition und den General Changarnier, der von der Nationalversammlung mit ihrem Schutze betraut war, und mehrere andere Generale verhaften lassen, ein Dekret veröffentlicht, durch welches er das von der Nationalversammlung beschränkte allgemeine Stimmrecht wieder herstellte, und eine Proklamation an das Volk erlassen, in der er die parlamentarischen Parteien der Selbstsucht anklagte und die Wiedereinführung des zehnjährigen Konsulats verlangte. Schlag auf Schlag kamen aufregende Depeschen. Mitglieder der Nationalversammlung in ansehnlicher Zahl fanden sich zusammen und versuchten Widerstand zu organisieren, wurden aber von der bewaffneten Macht auseinandergetrieben. Endlich hieß es auch, das Volk beginne „in die Straßen herniederzusteigen“ und Barrikaden zu bauen. Nun sollte die entscheidende Schlacht geschlagen werden.

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s265.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2021)