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von Meysenbug in ihrem höchst anziehenden Buche, den „Memoiren einer Idealistin“, mit vieler Wärme erzählt worden. Der Leser wird auch dort ein Beispiel finden von dem Eindruck, den eine Persönlichkeit wie Barthélemy, was immer auch das kühle Urteil des Verstandes und der Gerechtigkeit sein mag, auf das Gemüt einer geistvollen Frau zu machen imstande ist. Die Hinrichtung Barthélemys empörte ihr Gefühl und rührte sie zu Tränen. Aber nichts könnte gewisser sein als daß, hätte damals eine Begnadigung ihn auf freien Fuß gesetzt, jener wahnsinnige Fanatismus, der ihn von einem Morde wie von einem Frühstück sprechen ließ, ihn zu neuen Bluttaten geführt und schließlich doch dem Henker in die Hände geliefert haben würde.

Mit Malvida von Meysenbug wurde ich auch im Brüningschen Hause auf angenehme Weise näher bekannt. Sie war eine Tochter des kurfürstlich hessischen Ministers Herrn von Meysenbug, der, wohl mit Unrecht, für einen starren Absolutisten und Aristokraten gehalten wurde. Nach langen inneren Kämpfen, in welchen eine tiefe Herzensneigung für einen geistvollen jungen Demokraten, den Bruder meines Universitätsfreundes Friedrich Althaus, keine geringe Rolle spielte, bekannte sie sich offen zu der politisch freisinnigen Richtung, fand ein längeres Zusammenleben mit ihrer Familie unhaltbar, ging im Jahre 1849 oder 50 nach Hamburg, um bei der Gründung einer von freisinnigen Frauen geplanten weiblichen Hochschule mitzuwirken, kam durch ihre Bekanntschaft und Korrespondenz mit demokratischen Führern in polizeiliche Ungelegenheiten und landete endlich, hauptsächlich von Kinkels angezogen, in London in unserm Kreise. Ihren Entwicklungsgang und ihre Schicksale hat sie in den „Memoiren einer Idealistin“ mit charakteristischer Offenheit und in sehr interessanter Weise beschrieben.

Als wir in London zusammentrafen, muß sie etwas über dreißig Jahre alt gewesen sein. Aber sie sah viel älter aus, als sie wirklich war. Im Äußerlichen hatte die Natur sie gar nicht begünstigt. Aber ihre Freunde gewöhnten sich bald daran, das Äußerliche bei ihr zu vergessen. Sie hatte viel gelesen und von dem Gelesenen manches in sich verarbeitet. Mit eifrigem Interesse verfolgte sie die Ereignisse der Zeit auf dem politischen Felde sowie die merkwürdigen Erscheinungen auf dem literarischen, artistischen und wissenschaftlichen. Ein fast ungestümer und wahrhaft beredsamer Enthusiasmus beseelte sie für alles, was ihr schön, gut und edel erschien. Sie fühlte den Trieb, wo es irgend möglich war, tätig mit einzugreifen, und ihren Bestrebungen ging sie nach mit einem Eifer, einem Ernst, der sie zuweilen zu einer strengen Richterin machte über alles, was ihr als leichtfertige Behandlung wichtiger Dinge oder als Frivolität vorkam. Und dabei war ihr Wesen so ehrlich, einfach und anspruchslos, ihre Herzensgüte so unerschöpflich, ihre Sympathie so warm und opferwillig, ihre Freundschaft so echt und treu, daß jeder, der sie näher kennen lernte, ihr gern den Zug von schwärmerischer Überschwenglichkeit nachsah, der sich zuweilen in ihren Ansichten und Begeisterungen kundgab, und der in der Tat der Erregbarkeit ihres Gemüts, der Güte ihres Herzens zuzuschreiben war. Ihre ganze Umgebung achtete sie auf das höchste, und nicht wenige davon wurden ihre warmen Freunde.

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s264.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2021)