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Der Mann drückte sich mit großer Klarheit aus wie einer, der über seinen Gegenstand viel und ruhig nachgedacht und auf logischem Wege seine Schlußfolgerungen erreicht hatte. Wir sahen also da einen jener Fanatiker vor uns, wie revolutionäre Kämpfe sie nicht selten hervorbringen; einen Menschen von nicht unbedeutendem Geist, dem das beständige Hinstarren auf einen Punkt jegliches Verständnis der sittlichen Weltordnung verwirrt hat, dem jeder gewöhnliche Begriff des Rechts abhanden gekommen ist, dem jedes Verbrechen als Mittel zu seinem Zweck statthaft, ja als eine tugendhafte Handlung erscheint, der jeden ihm im Wege Stehenden als vogelfrei ansieht, der also jeden totzuschlagen bereit und auch das eigene Leben für seinen nebelhaften Zweck einzusetzen stets willig ist. Solche Fanatiker sind fähig, wie Bestien zu handeln und zuweilen auch selbst wie Helden zu sterben.

Daß es denjenigen, die Barthélemy im Brüningschen Salon zuhörten, dabei unheimlich zumute wurde, war natürlich genug. Barthélemy wurde auch nach diesem ersten Besuch dort nicht mehr gesehen. Wenige Jahre nachher, im Jahre 1855, nahm er ein charakteristisches Ende. Er wohnte beständig in London, zog sich aber mehr und mehr von seinen Freunden zurück, – man sagte, weil er mit einer Frau lebte, der er leidenschaftlich zugetan sei. Weiter hieß es, er sei mit einem vermögenden Engländer bekannt geworden, den er oft besuchte. Eines Tages sprach er mit jener Frau bei diesem Engländer vor. Er trug einen Reisesack in der Hand, wie einer, der nach einem Bahnhofe gehen will. Plötzlich hörte man einen Knall in dem Hause des Engländers, und Barthélemy rannte mit seiner Geliebten, verfolgt von dem Geschrei eines weiblichen Dienstboten, die ihren Herrn in seinem Zimmer tot in seinem Blute gefunden hatte, davon. Ein Polizeidiener, der Barthélemy auf der Straße aufhalten wollte, fiel ebenfalls von Barthélemys Pistole tödlich getroffen zu Boden. Ein zusammengelaufener Volkshaufe versperrte dem Mörder den Weg, entwaffnete ihn und überlieferte ihn den Behörden. Die Frau entkam in der Verwirrung und wurde nie wieder gesehen. Alle Versuche, Barthélemy zu einer Aussage über sein Verhältnis zu dem erschossenen Engländer zu bringen, waren vergeblich. Er hüllte sich in das tiefste Schweigen, und soviel ich weiß, ist diese geheimnisvolle Geschichte nie aufgeklärt worden. Es verbreitete sich nur ein Gerücht, daß Barthélemy habe nach Paris gehen wollen, um den Kaiser Louis Napoleon zu ermorden; daß jener Engländer ihm das dazu nötige Geld versprochen, es aber im entscheidenden Augenblick verweigert habe; daß dann bei der letzten Zusammenkunft Barthélemy ihn erschossen habe, entweder um sich so in den Besitz des Geldes zu setzen, oder im Zorn über die Weigerung. Ein weiteres Gerücht sagte, die „Geliebte“ sei eine Spionin der französischen Regierung gewesen, mit dem Auftrage nach London geschickt, Barthélemy zu überwachen und schließlich ans Messer zu liefern. Barthélemy wurde als Mörder prozessiert, zur Todesstrafe verurteilt und gehängt. Er ging dem Tode mit großer Kaltblütigkeit entgegen, rief im Angesicht des Galgens aus: „In wenigen Augenblicken werde ich also das große Geheimnis kennen!“ und starb mit ruhiger Würde.

Die Geschichte ist von meiner guten Freundin Fräulein Malvida

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s263.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)