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in die Heimat zurückführen werde. Und dabei war die Gute von einer Herzkrankheit geplagt, die ihr zuweilen schwere Leidenszustände und die Ahnung eines baldigen Todes brachte. Eines Tages, als ich mit ihr spazieren ging, stand sie plötzlich still und hielt sich an mir fest. Der Atem schien ihr zu stocken. Ich blickte sie erschrocken an. Sie hatte die Augen geschlossen, und ein Schmerzensausdruck lag auf ihren Zügen. Endlich schlug sie die Augen wieder auf und sagte: „Haben Sie mein Herz klopfen hören? Ich werde bald sterben. Es kann kein Jahr mehr dauern. Aber sagen Sie es niemand. Es ist mir jetzt nur so herausgefahren.“ Ich suchte ihr diese Befürchtung auszureden, aber umsonst. „Nein,“ sagte sie, „ich weiß es. Es tut ja auch nichts. Sprechen wir nun lieber von etwas anderm.“ Ihr Vorgefühl sollte sich nur zu schnell bewahrheiten.

Der Kreis im Brüningschen Hause zählte einige interessante und tüchtige Menschen, die sich schon früher bewährt hatten oder im spätern Leben sich zu bewähren bestimmt waren. Da war unter andern Löwe, der, kurz nachdem ich ihn in der Schweiz gesehen, den Kontinent verlassen und den sicherern Boden Englands aufgesucht hatte. Da war Malvida von Meysenbug. Da war der schlesische Graf Oskar von Reichenbach, ein Mann von großem Wissen und eine durchaus edle Natur. Leider sahen wir ihn nicht oft. Da war Oppenheim, ein Schriftsteller von viel Geist und umfassenden Kenntnissen. Da war Willich, der Arbeiterführer, und Schimmelpfennig, zwei künftige amerikanische Generale. Da war der gute Strodtmann, der uns nach London gefolgt war.

Zuweilen sahen wir auch Zugvögel von anderer Art. So wurde eines Tages, ich weiß nicht mehr von wem, ein Franzose aus Marseille namens Barthélemy im Brüningschen Salon eingeführt und als eine besondere Merkwürdigkeit bezeichnet. Seine Vergangenheit war in der Tat seltsam genug gewesen. Er hatte schon vor der Revolution von 1848 zu einer geheimen Verschwörungsgesellschaft, der „Marianne“, gehört, hatte, durch das Los bestimmt, einen Polizeiagenten getötet und war dafür zu den Galeeren verurteilt worden. Infolge der Revolution von 1848 wurde er in Freiheit gesetzt, kämpfte dann in dem Pariser Sozialistenaufstande im Juni 1848, der blutigen „Junischlacht“, auf den Barrikaden, worauf es ihm gelang, nach England zu entkommen. Man sagte ihm nach, daß er verschiedene Menschen getötet habe, teils im Zweikampf, teils ohne diese Förmlichkeit. Nun galt er als „Arbeiter“; seine Hauptbeschäftigung war die des handwerksmäßigen Verschwörers. Sein Bild steht mir noch vor Augen, wie er in den Brüningschen Salon eintrat und am Kamin Platz nahm; ein Mann von etlichen dreißig Jahren, untersetzt von Gestalt, das Gesicht von dunkler Blässe mit schwarzem Schnurr- und Knebelbart, die Augen finster glühend von stechendem Feuer. Er sprach mit tiefer, volltönender Stimme, langsam und gemessen mit der dogmatischen Bestimmtheit, die entgegengesetzte Meinungen mit einer Art von mitleidiger Geringschätzung zurückweist. So setzte er uns mit größter Kaltblütigkeit seine Theorie der Revolution auseinander, die einfach darin bestand, daß alle Andersdenkenden ohne viel Federlesens abgeschlachtet werden müßten.

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s262.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)