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besaß. Übrigens sprachen die Eheleute voneinander mit der größten, durchaus unaffektierten Achtung und Wärme, und der Baron ließ sich mit großer Sorge und umsichtiger Tätigkeit die Erziehung der Kinder angelegen sein.

Die Baronin ging nun ganz in ihrem Verkehr mit der Flüchtlingschaft auf. Sie war keineswegs eine Frau von großen Geistesgaben. Ihr Wissen war oberflächlich, und ihr Denken nicht tief. Sie besaß eben nur die „Bildung der guten Gesellschaft“, aber dabei wahre Herzensgüte in der liebenswürdigsten Form. Wie das häufig bei Frauen der Fall ist, deren Ansichten und Meinungen viel mehr aus den Erregungen des Gemüts, als aus klarer Beobachtung der Dinge und dem Räsonnement des Verstandes entstanden sind, so wandte sich ihre Begeisterung und Sympathie mehr den Personen als den Grundsätzen, Bestrebungen und Zielen zu. Man wirft Frauen ihres Schlages gern Gefallsucht vor, und es mag auch wirklich der Baronin geschmeichelt haben, der Mittelpunkt eines Kreises zu sein, in dem sich manche geistreiche Männer befanden. Aber ihre enthusiastische Natur war so echt, ihre Sorge, in ihrem Hause dem Verbannten eine Heimat zu bereiten, so unermüdlich, ihr Mitgefühl mit jedem Leiden und jeder Entbehrung so opferwillig, und ihr Charakter bei aller Freiheit des persönlichen Verkehrs so vollkommen fleckenlos und unantastbar, daß man ihr viel größere Eitelkeiten gern verziehen hätte. Für manchen der Flüchtlinge war sie wirklich die gute Fee. Diesem ließ sie auf ihre Kosten aus Deutschland die lang verlobte Braut kommen. Jenem besorgte sie eine anständige Wohnung und machte einen heimlichen Kontrakt mit dem Hausherrn, nach welchem sie einen Teil der Miete bezahlte. Für einen dritten lief sie umher, um ihm Unterrichtsstunden zu verschaffen. Einem vierten, der ein Künstler war, besorgte sie Aufträge. Einem fünften war sie „barmherzige Schwester“ in seiner Krankheit. Mit wachsamer Fürsorge pflegte sie den einen auszuforschen über das, was der andere etwa entbehren möge, und womit sie ihm helfen könne, denn es war ihr immer darum zu tun, daß womöglich die hülfreiche Hand nicht gesehen werde. Ihre opferwillige Freigebigkeit ging so weit, daß sie sich selbst Entbehrungen auferlegte, um mit dem Ersparten andern dienlich zu sein. So hatte sie nur ein Kleid, das nur nach den bescheidensten Begriffen für salonfähig gelten konnte. Es war von violettem Atlas und hatte in früheren Zeiten unzweifelhaft recht stattlich ausgesehen. Aber da sie es beständig trug, so wurden nach und nach sogar Flickstücke darauf sichtbar. Einige Damen in unserem Kreise machten ihr Vorstellungen darüber, und sie antwortete: „Ach ja, es ist wahr. Ich muß wirklich ein neues Kleid haben. Ich war auch schon mehrmals auf dem Wege zu einer Kleidermacherin, aber jedesmal fiel mir etwas Nötigeres ein, und ich bin wieder umgekehrt.“ Und so mußte das alte Kleid den ganzen Winter hindurch Dienst tun. Es konnte nichts Liebenswürdigeres geben als den Eifer, mit dem sie in ihrem Salon den Niedergeschlagenen aufzurichten und den Traurigen Trost und Mut zu geben suchte, und ich sehe sie noch, wie sie mit ihren leuchtenden blauen Augen unter uns saß und von dem großen Umschwung und der guten Zeit sprach, die nun unfehlbar bald kommen und uns triumphierend

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s261.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)