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aufgenommen und schickte sich an, in dem Kinkelschen Hause in ihrer Weise die gesellschaftlichen Honneurs zu machen. Es stellte sich bald heraus, daß dies nicht gehen wollte. Die reiche, in bequemem Wohlleben erzogene Frau konnte nicht verstehen, daß eine auf angestrengte Tätigkeit für ihren Broterwerb angewiesene Familie ihre Zeit sowohl wie ihre Mittel mit strengster Ökonomie zu Rate halten mußte und sich den Luxus eines, wenn auch noch so angenehmen geselligen Verkehrs nur in beschränktem Maße gestatten durfte. Die pflichttreue Arbeitsamkeit des Kinkelschen Ehepaares war daher mit den wohlmeinenden, aber etwas extravaganten Absichten der Frau von Brüning nicht in Einklang zu bringen, und es trat eine leichte Abkühlung des freundschaftlichen Verhältnisses ein. Da nun Frau von Brüning ein ziemlich geräumiges Haus auf St. Johns Wood Terrace mietete und ihren Salon mit großer Gastfreiheit ihren Freunden öffnete, so fand sich dort fast allabendlich ein ansehnlicher Kreis von Flüchtlingen zusammen.

Die Baronin hatte ihren Mann und ihre Kinder bei sich, und die Geselligkeit bewegte sich auf dem Boden eines angenehmen Familienlebens. Der Baron Brüning schien sich allerdings unter den Freunden, die sich in dem Salon sammelten, nicht ganz heimisch zu fühlen. Er war ein vornehm aussehender, ruhiger Mann von feiner Lebensart, der, wenn er auch mit den politischen Grundsätzen, die um ihn her gepredigt wurden, nicht harmonierte, sich das den Gästen des Hauses gegenüber nur sehr wenig merken ließ. Wenn die in seiner Umgebung ausgesprochenen Ansichten gar zu extrem waren, so spielte wohl zuweilen um seine Lippen ein stilles, ironisches Lächeln; und der zuversichtlichen Prophezeiung, daß nun in ganz kurzem alle Throne auf dem europäischen Kontinent umgestürzt und eine Familie von Republiken an die Stelle gesetzt werden würde, begegnete er wohl mit der ruhigen Frage: „Glauben Sie wirklich, daß es so kommen wird?“ Aber immer war er freundlich und gefällig, fehlte im geselligen Kreise nie und hieß jeden willkommen, der seiner Frau willkommen war. Die Besonnenern unter den Gästen und diejenigen, die auch außerhalb der revolutionären Politik geistige Interessen hatten, erkannten es als eine Pflicht des Anstandes, die Freundlichkeit des Barons mit jeder möglichen Aufmerksamkeit zu erwidern, und sie fanden in ihm einen wohlmeinenden, gut unterrichteten Mann, der viel gelesen und sich über manche Dinge klare Meinungen gebildet hatte. So entstanden zwischen ihm und einigen seiner Gäste, zu denen auch ich gehörte, Beziehungen von einer gewissen Vertraulichkeit; und wenn er über seine häuslichen Verhältnisse sprach, so empfing man den Eindruck, daß er den demokratischen Enthusiasmus seiner Frau mit all seinen Folgen als ein Schicksal ansah, dem man sich eben unterwerfen müsse. Die Ursache der Fügsamkeit des Barons in die Exzentrizitäten seiner Frau wurde von einigen unter uns in dem vermuteten Umstande gesucht, daß das Vermögen der Familie von ihrer Seite gekommen sei; aber es ist eben so wahrscheinlich, daß es die gewöhnliche Hülflosigkeit des schwächern Willens dem stärkern gegenüber war, und daß der Baron sich von seiner Frau von Ort zu Ort und in unerwünschten Gesellschaftskreisen umherwirbeln ließ, weil er eben unter seinen sonst vortrefflichen Eigenschaften nicht Widerstandskraft genug

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s260.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)