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machte er auf mich diesen Eindruck. Ich habe nie bei ihm einen Anflug von dem Zynismus in der Beurteilung von Verhältnissen und Menschen bemerkt, in dem sich manche der hervorragenden Revolutionäre gefielen. Die kleinlichen und gewöhnlich lächerlichen Rangstreitigkeiten unter den Führern der Flüchtlingschaften berührten ihn nicht. Veruneinigungen und Meinungszwiste unter denen, die hätten zusammenstehen und wirken sollen, reizten ihn nicht zu scharfen Ausfällen, sondern erfüllten ihn nur mit aufrichtig schmerzlichem Bedauern. Die Revolution, die er sich als Ziel vorstellte, war nicht eine bloße Erkämpfung gewisser Volksrechte, nicht eine bloße Veränderung in der Staatsform, nicht die bloße Befreiung seines Landes von der Fremdherrschaft, nicht die bloße Vereinigung aller Italiener in einem nationalen Verbande; sie bedeutete ihm vielmehr die Erhebung der befreiten Völker zu höheren sittlichen Lebenszwecken. Es klang ein wahrhafter und edler Ton durch seine Auffassung der Menschen und Dinge, durch die anspruchslose, entsagende Einfachheit seines Wesens und Lebens, durch die unbegrenzte Opferwilligkeit und Selbstverleugnung, die er sich selbst auferlegte und von anderen verlangte. Seit 1839 hatte er, als Verbannter von seinem Vaterlande, einen großen Teil seines Lebens in London zugebracht und war im Laufe der Zeit mit englischen Familien in intime Freundschaftsbeziehungen getreten. Es war wohl der Echtheit seiner Gesinnungen, der edlen Einfachheit seines Wesens und der wahrhaften und selbstlosen Hingebung an seine nationale Sache nicht weniger, als seinen brillanten persönlichen Eigenschaften zu verdanken, daß in einigen dieser Familien sich ein eigentlicher Mazzinikultus ausbildete, der sich nicht selten sehr großer Opfer fähig zeigte.

Die Tradition seines Volkes sowohl wie der Umstand, daß er zur Befreiung seines Vaterlandes eine Fremdherrschaft zu bekämpfen hatte, machten ihn zum professionellen Verschwörer. Schon als Jüngling gehörte er den Karbonari an, und dann folgte auf seine Anregung und unter seiner Leitung eine Konspiration auf die andere, deren Aufstandsversuche alle fehlschlugen. Aber diese Fehlschläge entmutigten ihn nicht, sondern feuerten ihn nur zu immer neuen Anstrengungen an. Er gab mir im Lauf unseres Gesprächs zu verstehen, daß er Vorbereitungen zu einem neuen Unternehmen in Oberitalien im Gange habe; und da er in mir wahrscheinlich ein Mitglied des inneren Zirkels in demjenigen Teile der deutschen Flüchtlingschaft vermutete, der über den Ertrag der „Nationalanleihe“ verfügen werde, so wünschte er zu wissen, ob wir mit unsern Mitteln sein Unternehmen zu unterstützen geneigt sein würden. Jedenfalls war ihm darum zu tun, uns für ein solches Zusammenwirken günstig zu stimmen. Er hielt mich unzweifelhaft für eine einflußreichere Person als ich war. Ich konnte ihm nur versprechen, die Sache den mit Kinkel verbundenen Führern nach dessen Rückkehr zur Überlegung zu unterbreiten, verhehlte Mazzini aber nicht, daß ich bezweifelte, ob die verantwortlichen Männer sich für berechtigt halten würden, Gelder, die zur Verwendung in Deutschland gesammelt worden, für revolutionäre Zwecke in Italien herzugeben. Diese Bemerkung gab Mazzini Anlaß zu einer mit feuriger Beredsamkeit geführten Auseinandersetzung über die Solidarität der Völker im Kampfe für Freiheit und nationale Existenz.

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s256.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)