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Kanonen und Mörsern dienten als Briefbeschwerer. Einige Stühle und, wenn ich mich recht erinnere, ein kleines Sofa bildeten den Rest der Ausstattung. Das Ganze machte den Eindruck der Ärmlichkeit.

Mazzini saß am Schreibtisch, als ich eintrat, und er erhob sich, um mir die Hand zu reichen. Er erschien mir als ein schlanker Mann von mittlerer Statur, in einem schwarzen Tuchanzug gekleidet. Sein Rock war bis oben zugeknöpft. Den Hals umhüllte eine schwarze seidene Krawatte, aus der kein Hemdkragen hervorsah. Das Gesicht hatte klassischen Schnitt, der untere Teil war mit einem kurzgehaltenen schwarzen, mit Grau gemischten Vollbart bedeckt. Die dunklen Augen glühten in rastlosem Feuer. Darüber wölbte sich die Stirn auffallend hoch und breit. Dünnes, glattanliegendes Haar, schwarz, aber ergrauend, bedeckte das Haupt. Der sprechende Mund zeigte eine volle, aber etwas geschwärzte Reihe von Zähnen. Die ganze Erscheinung war die eines unzweifelhaft bedeutenden Mannes. Bald fühlte ich mich auch unter dem Zauber einer Persönlichkeit von seltener Anziehungskraft.

Unsere Unterhaltung wurde in französischer Sprache geführt, die Mazzini mit derselben Leichtigkeit wie seine Muttersprache handhabte, obgleich er von dem allen Italienern eigenen Akzent nicht frei war. Aber er entwickelte im Gespräch unter vier Augen, und dabei heftig Zigarren rauchend, eine Beredsamkeit, wie ich sie in meinem langen Leben nur selten wieder gehört habe – warm, einschmeichelnd, zuweilen ungestüm, schwungvoll, erhaben und dabei immer durchaus natürlich. Die drei größten Konversationalisten, mit denen ich in meinen Tagen in Berührung gekommen bin, waren Mazzini, der amerikanische Schriftsteller Dr. Oliver Wendell Holmes, und Bismarck. Von diesen war Dr. Holmes der geistreichste im Sinne des bel esprit, Bismarck der imposanteste und unterhaltendste zugleich durch Witz, Sarkasmus, Anekdoten und Erzählungen geschichtlichen Interesses mit hinreißender Lebendigkeit vorgetragen und blitzartigen Beleuchtungen von Menschen und Verhältnissen. Aber aus Mazzini sprach eine solche Tiefe und Wärme der Überzeugung, ein solcher Enthusiasmus des Glaubens an die Heiligkeit der von ihm gepredigten Grundsätze und der von ihm verfolgten Zwecke, daß besonders das jugendliche Gemüt dem Zauber dieser Persönlichkeit schwer widerstehen konnte. Als ich ihn sah und sprechen hörte, konnte ich es wohl begreifen, wie er die Schar seiner Getreuen zusammenzuhalten und zu vermehren, zuweilen in die gefährlichsten Unternehmungen zu führen und nach den schwersten Enttäuschungen doch wieder an sich zu fesseln vermochte.

Mazzini hatte unzweifelhaft seiner Angehörigkeit zur katholischen Kirche, wenn auch nicht formell, so doch tatsächlich, schon in früher Jugend entsagt. Aber es lag in ihm und sprach aus ihm ein tiefes religiöses Gefühl, ein Anbetungsbedürfnis, ein instinktives Vertrauen auf eine höhere Macht, an die er sich wenden könne, und die ihm beistehen werde zur Befreiung und Vereinigung seines Volkes. Dies war seine Form des Fatalismus, den man so oft mit großen Ambitionen verbunden findet. Er hatte einen Zug mystischen Prophetentums in sich, das der Tiefe seiner Überzeugungen und Gefühle entsprang und von aller Charlatanerie, aller affektierten Feierlichkeit frei war. Wenigstens

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s255.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)