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zum Bewußtsein. Er sehe in den Naturerscheinungen, die er beobachte, mehr das, was ihm vorteilhaft oder unvorteilhaft, ermutigend oder beschwerlich oder gar drohend sei. Die Wolkenbildungen, die uns in alle möglichen Stimmungen und Gemütsbewegungen versetzten, bedeuteten ihm je nach ihrer Lage und Gestaltung nur gutes oder schlechtes Wetter. Der dumpfe Donner der Lawinen erinnere ihn nur daran, daß unter gewissen Umständen die Schneestürze viel Unheil anrichten könnten. Er sehe in dem Wüten des Gebirgssturmes nicht etwa ein großartiges Schauspiel, wohl aber Hagelschlag und die Gefahr des Austretens der Bäche, und so weiter. Ich fragte den Schulmeister, ob es denn nicht wahr sei, was wir von dem berühmten Schweizer Heimweh hörten, daß, wer in diesen Bergen geboren sei und seine Jugend zugebracht habe, nirgendwo anders glücklich und zufrieden sein könne, sondern wenn anderswo zu leben gezwungen, sich in krankhafter Sehnsucht nach der Bergheimat verzehren müsse. Der Schulmeister lächelte wieder und meinte, solche Fälle von Heimweh seien wohl bei Schweizern vorgekommen, aber wahrscheinlich nicht in größerer Zahl und in schlimmerer Form, als bei Bewohnern anderer Gegenden. Überall gäbe es wohl Leute, die der Heimat und ihren Anschauungen und Gewohnheiten mit großer, fast krankhafter Gemütswärme anhingen. Er wisse von Schweizern in ansehnlicher Zahl, die im Auslande, ja auf den flachen Prärien Amerikas sich niedergelassen hätten und sich dort äußerst behaglich fühlten.

„Wollen Sie mir denn sagen,“ fragte ich, „daß der Schweizer selbst die Schönheit seines Landes nicht zu würdigen weiß?“

„Nein das gerade nicht,“ antwortete der Schulmeister. „Die gebildeten Leute wissen ja wohl überall das Schöne seiner Schönheit wegen zu würdigen. Aber der arbeitende Mann, der immer mit der Natur zu kämpfen hat, muß sich erst sagen lassen, daß die Dinge, die ihm so oft beschwerlich und unangenehm werden, nebenbei auch großartig und schön sind. Wenn er einmal auf den Gedanken gebracht worden ist, dann sieht er die Sache mehr und mehr so an. – Und die Schweizer,“ setzte der Schulmeister mit schlauem Lächeln hinzu, „auch die ungebildeten, wissen jetzt die Schönheit des Landes ziemlich zu schätzen.“

Dies klang mir zuerst wie eine recht prosaische Philosophie; aber längeres Nachdenken überzeugte mich, daß der Mann recht hatte. Die Empfindung der Naturschönheit ist eine anerzogene, angebildete, anzivilisierte Empfindung. Naive Völker haben sie nicht oder drücken sie wenigstens nicht aus. Die Naturerscheinung – Berg, Tal, Wald, Wüste, Strom, Meer, Sonnenschein, Regen, Windstille, Sturm usw. – ist ihnen entweder wohltuend, fördernd, oder unangenehm, störend, furchtbar. Es ist eine bezeichnende Tatsache, daß es im Homer bei all dem Reichtum seiner Schilderungen keine Beschreibungen einer landschaftlichen Szene oder eines Naturereignisses vom Standpunkte des Schönen gibt. Dieselbe Erfahrung setzt sich bis in unsere Zeiten fort. In demselben Geiste äußerte sich der Farmer aus einem der Präriestaaten Amerikas, der einmal auf einem Dampfboot den herrlichen Hudson hinauffuhr, und als er einen enthusiastischen Mitreisenden ausrufen hörte: „Wie schön ist doch dieses Land!“ ruhig antwortete: „Es mag wohl ein ziemlich gutes Land sein, nur viel zu hügelig.“

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s252.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2021)