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stärken und seine Kühnheit und Tatkraft anspornen. Natürlich würde nebenbei auch das Komitee, das den großen Revolutionsschatz verwaltete, die Führung der ganzen revolutionären Partei und die anfängliche Organisation der künftigen deutschen Republik in den Händen haben.

Es ist wohl in späteren Jahren Kinkel selbst bei ruhigem Bedenken komisch genug vorgekommen, daß er an den Erfolg eines solchen Planes jemals hatte glauben können. Jedenfalls lieferte dieses Projekt von der Selbsttäuschungsfähigkeit des politischen Flüchtlings ein sprechendes Beispiel. Übrigens sind wohl die gegen Kinkel gerichteten Vorwürfe, daß er sich zu viel der Sorge um seine bürgerliche Existenz widme, und das Gefühl, daß er durch eine große Bemühung für die Sache der Revolution seinen politischen Freunden eine Schuld abzuzahlen habe, für ihn ein Hauptbeweggrund gewesen, ohne langes Zögern auf diesen Plan einzugehen. Wenige Tage nachdem im vertrauten Kreise die Sache beschlossen war, brach Kinkel seine Lehrtätigkeit in London ab – ein großes Opfer, denn er setzte damit die Existenz seiner Familie von neuem aufs Spiel – und schiffte sich nach Amerika ein.

Ich war damals noch jung, unerfahren und sanguinisch genug, den Erfolg eines solchen Unternehmens für möglich zu halten, und ging mit Feuereifer darauf ein. Da man mir diplomatisches Talent zutraute, so wurde mir der Auftrag, in die Schweiz zu reisen, die dort weilenden Häupter der deutschen Flüchtlingschaft für den Plan zu gewinnen und so die Grundlage zu einer allgemeinen Organisation zu legen. Diesen Auftrag übernahm ich mit Vergnügen, machte unterwegs einen Besuch in Paris, von dem ich jedoch den höflichen Polizeipräfekten nicht in Kenntnis setzte, und traf bald bei meinen alten Freunden in Zürich ein. Für diese war ich seit meiner Abreise im vorhergehenden Jahre durch die Reputation, die mir die Befreiung Kinkels gebracht, eine ganz neue Person geworden. Sie trauten mir viel mehr Einsicht zu, als ich besaß, und meine diplomatische Sendung fand daher nur geringe Schwierigkeit zu überwinden, d. h. in der Erwartung, daß die Nationalanleihe, hauptsächlich durch Kinkels Agitation in Amerika, ein bedeutendes Resultat liefern werde, erklärten die Flüchtlinge durchweg ihre Bereitschaft, sich der vorgeschlagenen allgemeinen Organisation anzuschließen.

Der hartnäckigste Zweifler und zugleich der bedeutendste Mann, den ich dort fand, war Löwe von Calbe. Als letzter Präsident des deutschen Nationalparlaments war er im Frühling 1849 von Frankfurt nach Stuttgart gezogen und hatte, Arm in Arm mit dem alten Dichter Uhland, den Zug seiner Kollegen geführt, bis dieser von einer Abteilung württembergischer Kavallerie auseinandergesprengt wurde. Dann suchte Löwe Zuflucht in der Schweiz. Er war Arzt von Beruf, hatte sich aber durch weitgreifende Studien einen Schatz vielseitiger Kenntnisse erworben. Er machte den Eindruck eines ruhigen, methodischen Denkers, dem es auch an dem entschlossenen Mut kühnen Handelns nicht fehlte. Es lag ein gewisses Behagen in seinem Wesen, und wenn der stämmige, wohlbeleibte Mann sich hinsetzte, den Zuhörer mit seinen überaus klugen Augen anblickte und dann in wohlgebildeten, klaren, mit langsamem

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s250.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)