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Melancholie sang: „Wenn i komm, wenn i komm, wenn i wiedrum komm“ usw.

Oft habe ich in späteren Zeiten bedauert, daß ich damals am politischen Leben Englands nicht mehr Interesse nahm und keine Bekanntschaften in politischen Kreisen suchte. Aber auch ohnedies empfing ich von dem Lande und dem Volke großartige Eindrücke. Wie verschieden war das ruhelose Treiben in den Straßen von London in seinem gewaltigen Ernst und seiner massenhaften Triebkraft von dem heiteren, mehr oder minder künstlerisch eleganten, aber mehr als halb frivolen Strudel, der dem Beobachter in Paris begegnet, und von dem halb militärischen, halb spießbürgerlichen Anstrich, den das damals noch nicht zur Weltstadt gewordene Berlin trug! Wie berechtigt, wie natürlich erschien mir der nationale Britenstolz, wenn ich in den Hallen von Westminster die Statuen und Büsten und in der Abtei die Gräber großer Engländer betrachtete, die alle als Denkmäler großer Gedanken und Taten gelten konnten! Wie fest gegründet erschienen mir die freien Institutionen eines Volkes, dem die bürgerliche Freiheit nicht eine bloße Phrase oder eine vorübergehende Laune oder ein Spielzeug, sondern Lebensprinzip ist, dessen Betätigung es für seinen täglichen Handel und Wandel notwendig gebraucht, und das in den Gedanken und Aspirationen jedes Bürgers lebt wie etwas, das sich von selbst versteht. Ich sah genug vom Lande und vom Volke, um dies herauszufühlen, obgleich wir Flüchtlinge in London meist wie auf einer Insel im großen Menschenmeer ein abgesondertes Dasein führten.

In London war seit dem Jahre 1848 eine große Zahl von politischen Flüchtlingen aus fast allen Ländern des europäischen Kontinents zusammengeströmt; doch beschränkte sich der Verkehr zwischen den verschiedenen nationalen Gruppen – Deutschen, Franzosen, Italienern, Ungarn, Polen, Russen – mehr oder minder auf die hervorragenderen Persönlichkeiten. Alle hatten jedoch die zuversichtliche Hoffnung auf einen baldigen revolutionären Umschwung auf dem Kontinent gemein. Unter den Deutschen gab es nur wenige, die diese Hoffnung nur in geringem Maße teilten. Von diesen war Lothar Bucher vielleicht der bedeutendste, ein stiller, in sich gekehrter Mann von großen Fähigkeiten, der sich mit ernsten politischen Studien beschäftigte, und dem ich im späteren Leben noch einmal unter sehr veränderten Verhältnissen begegnen sollte. Wie in der Schweiz, so wurde auch in London die Frage, wem in der kommenden Revolution die Führerschaft zufallen sollte, unter den Flüchtlingen eifrig besprochen. Natürlich gab diese illusionsselige Auffassung der Dinge zu allerlei Eifersüchteleien Veranlassung, wie das zu allen Zeiten unter ähnlich situierten Leuten der Fall gewesen ist, und die Flüchtlingschaft spaltete sich in Parteien, die einander zuweilen mit Bitterkeit bekämpften.

Als Kinkel in London ankam, fiel ihm natürlich unter den Flüchtlingen eine hervorragende Stellung zu, und er wurde sozusagen von selbst das Haupt einer ansehnlichen Gefolgschaft. Er hatte jedoch auch seine Widersacher, die in ihm keinen „praktischen Revolutionär“, sondern nur einen Dichter und Gelehrten, einen politischen Träumer sehen wollten, der zum eigentlichen Führer in einem großen Kampfe nicht

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s248.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)