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Annahme meiner Ablehnung zu bewegen, als sie den Wunsch ausgesprochen hatten, ich sollte in ihrem Hause leben und sonst tun, was ich wollte. Nun mußte ich wenigstens in ihren dringenden Vorschlag willigen, daß meine jüngste Schwester Antonie zu ihnen von Deutschland herüberkommen sollte, um in ihrem Hause wie ein Kind der Familie erzogen zu werden. Dies schlug glücklich aus, da Antonie nicht allein guter Gemütsart und lebhaften Geistes, sondern auch mit jenem heitern rheinischen Temperament gesegnet war, das Sonnenschein um sich verbreitet. Dann drang Frau Johanna in mich, mir von ihr weiteren Klavierunterricht geben zu lassen, und mit neuer Lust nahm ich meine musikalischen Studien wieder auf. Meine Lehrerin ließ mich Beethoven, Schubert und Schumann genießen und führte mich durch die Zaubergärten der Chopinschen Musik. Aber noch mehr als das. Sie lehrte mich den Generalbaß und eröffnete mir damit eine Kenntnis, die mir in der Folge zur Quelle köstlichen Genusses geworden ist. Dann stellte sie mir ihren Erardschen Flügel, der in der Familie wie ein Heiligtum verehrt wurde, zur Verfügung zum Üben und Improvisieren, obgleich zu solchen Zwecken ein minderwertiges Instrument im Hause war.

Natürlich führten mich die Kinkels auch in die gesellschaftlichen Kreise ein, die ihnen offen waren. Freilich stand mir dabei meine Unkenntnis der englischen Sprache sehr im Wege. Aber ich hatte doch das Glück, mit einigen englischen Familien, in denen man Deutsch oder Französisch sprach, in ein Verhältnis zu treten, das man hätte freundschaftlich nennen können. Ich habe da verstehen lernen, wieviel aufrichtige Wärme des Gefühls in dem scheinbar so steifen und förmlichen Engländer versteckt sein kann. Ich fühlte dort bald, daß jedes Wort freundlicher Sympathie, das ich hörte, jede Einladung zu intimem Verkehr – Redensarten, die bei einigen andern Völkern als bloße oberflächliche Höflichkeitsformen gelten – als ehrlich und vollgemeint angenommen werden konnte. Das war echte Gastlichkeit, ohne Prätension und ohne Reserve, in der man eine Atmosphäre vertrauensvoller Sicherheit atmete. Auch bin ich in solchem freundschaftlichen Verkehr nicht selten überrascht worden von dem Gedankenreichtum, dem Schatz von Kenntnissen, der Mannigfaltigkeit der Erfahrungen und den weitreichenden Welt- und Lebensanschauungen, die in vertraulichen Gesprächen sich oft aus anscheinend scheuer Reserve oder schwerfälliger Mitteilungsgabe entpuppte.

Zu jener Zeit war in England die deutsche Sprache sehr in der Mode, wahrscheinlich infolge des Umstandes, daß damals die Popularität des Prinzen Albert, des anerkannt verdienstvollen Patrons der großen Weltausstellung, ihren Höhepunkt erreicht hatte. Nun ließ man es in der Gesellschaft nicht bei dem Deutschsprechen bewenden; es mußte auch Deutsch gesungen werden, und die deutschen Volkslieder erfreuten sich einer besonderen Beliebtheit. Doch konnte es kein traurigeres Schauspiel geben als eine errötende Miß, wie sie bei einer evening-party feierlich zum Klavier geführt wurde, „to give us a sweet German folk song“, und wie sie dann mit einem Gesicht, das einen Todesfall in der Familie andeutete, und in langsamen Tempo und im Ton tiefster

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s247.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)