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das selbst später erschienen ist, mein musikalisches Ohr konnte damals meinen Widerwillen gegen den Klang der englischen Sprache noch nicht überwinden. Ihre eigentümliche Musik habe ich erst dann würdigen lernen, als ich die Sprache selbst verstand. In den gesellschaftlichen Kreisen, in denen ich mich bewegte, und von denen ich später berichten will, reichte das Deutsche und das Französische aus. Bei meinen Unterrichtsstunden kam mir die Methode, nach der ich in Paris bei der Princesse de Beaufort Französisch gelernt hatte, sehr zu statten.

Einige meiner Schülerinnen, die sich für deutsche Literatur besonders lebhaft interessierten, ersuchten mich, das Nibelungenlied mit ihnen zu lesen; und, wie das nicht selten geschieht, in der Rolle des Lehrers lernte ich mehr von dem Gegenstande des Unterrichts, als ich vorher gewußt hatte und als ich sonst geahnt haben würde. Ich lehrte und lernte mit wirklicher Begeisterung, denn – ich mag mir hier beiläufig die Bemerkung gestatten – das Nibelungenlied ist meiner Meinung nach, freilich nicht in Eleganz der Darstellung, wohl aber in seinem dramatischen Aufbau das großartigste, gewaltigste Heldengedicht, das irgend eine Literatur aufzuweisen hat.

In meinem gesellschaftlichen Verkehr nahm natürlich die Kinkelsche Familie die erste Stelle ein. Das Haus war sehr klein und äußerst bescheiden eingerichtet. Aber in diesem Hause wohnte das Glück. Kinkel hatte die ganze heitere Elastizität seines Wesens wiedergewonnen. Haar und Bart waren allerdings mit grau gestreift, aber die krankhafte Blässe, die sein Gesicht aus dem Gefängnis mitgebracht, war einer gesunden frischen Farbe gewichen. Mit fröhlichem Mut hatte er die Aufgabe angefaßt, seiner Familie im fremden Lande eine sorgenfreie Existenz zu gründen, und ermutigender Erfolg belohnte seine Anstrengungen. Zu den Privatstunden, die er gab, kamen nun auch Aufforderungen zu Vorlesungen und Beschäftigung an Lehrinstituten. In den ersten Monaten hatte er schon genug erworben, um seiner Frau einen Erardschen Flügel von vorzüglicher Qualität schenken zu können, und Frau Johanna gewann bald in ausgedehntem Kreise eine ausgezeichnete und fruchtbare Reputation als Musiklehrerin. Die vier Kinder schienen gut zu gedeihen. Nichts Anmutigeres und Lehrreicheres konnte es geben, als Frau Johanna mit der Erziehung der zwei Knaben und zwei Mädchen beschäftigt zu sehen. Nicht allein begannen diese das Klavierspiel, sobald sie physisch dazu imstande waren, sondern sie sangen auch mit vollkommener Reinheit und naivem Ausdruck reizende vierstimmige Lieder, von der Mutter eigens für die Kinder komponiert.

Die Freude, die ich empfand, wenn ich das neu aufblühende Leben dieser Familie betrachtete, kann ich nicht beschreiben. Ich lernte dabei eine große Wahrheit verstehen und lebhaft empfinden. Es gibt kein schöneres und vollständigeres Glück in dieser Welt als das Bewußtsein, zu dem Glücke derer, die man lieb hat, etwas beigetragen zu haben, ohne einen andern Lohn zu verlangen als dieses Bewußtsein.

Die Dankbarkeit Kinkels und seiner Frau war so aufrichtig und unermüdlich, daß sie mich oft in Verlegenheit setzte. Sie suchten beständig nach etwas, das sie mir zuliebe tun könnten. Schon ehe ich nach London übergesiedelt war, hatte es mich Mühe gekostet, sie zur

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s246.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)