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sei und nun ernstlich erkrankt zu sein schien. Ich folgte dieser Aufforderung sofort und fand meinen Freund in dem Zustande, den man auf deutschen Universitäten einen tiefen Katzenjammer zu nennen pflegt. Der junge Mann gestand mir, daß er sich seines Betragens herzlich schäme; aber er meinte, wenn ich die Ursache davon wüßte, so würde ich nicht so übel von ihm denken. Dann erzählte er mir mit großem Ernste, er habe seit einiger Zeit den deutschen Philosophen Hegel studiert und in seinen Schriften manches gefunden, das ihm quälende Zweifel an seinem eigenen Verstande verursacht habe. So habe er denn versucht, sich zu zerstreuen, und da die Deutschen, von denen er glaubte, daß Hegels Schriften ihre Lieblingslektüre seien, gern Bier tränken, so habe auch er sich bemüht, zur Erleichterung seiner Hegelstudien sich ans Biertrinken zu gewöhnen. Der gute Junge sprach so ernsthaft und aufrichtig, daß ich mir das Lachen verbiß und ihm mit demselben Ernste versicherte, über dem Hegel seien auch schon manche Deutsche verrückt geworden, und das Bier helfe dabei durchaus nicht. Wenn nun der Hegel in deutscher Sprache eine solche Wirkung auf deutsche Köpfe hervorbringe, was könne man von der Wirkung der französischen Aufkochung des Hegel erwarten? Dies schien meinen braven Provenzalen sehr zu erleichtern. Ich ermahnte ihn nun, den Hegel sowohl wie das Biertrinken fahren zu lassen und sich wie der solide, fleißige Mensch, der er früher gewesen, wieder der Medizin zu ergeben. Er versprach zu tun, was ich ihm geraten, tat es auch wirklich, und am Tage meines Abschiedes von Paris sagten wir einander Lebewohl mit dem aufrichtigsten Bedauern. Da diese Geschichte dem Leser wie eine Übertreibung klingen mag, so muß ich noch die Versicherung hinzusetzen, daß sie buchstäblich wahr ist.




Zwölftes Kapitel.

In London.

Gegen Mitte Juni kam ich in London an. Kinkel hatte bereits in einem Hause auf St. Johns Wood Terrace, nahe bei seiner Wohnung, Zimmer für mich gefunden, die ich um ein Billiges mieten konnte, und er wies mir auch Unterrichtsstunden in der deutschen Sprache und in der Musik zu, deren Ertrag für meine bescheidenen Bedürfnisse mehr als hinreichte. Das bekannte Paradoxon, daß man in London mehr für einen Schilling und weniger für ein Pfund hat als anderswo, das heißt, daß man bei bescheidenen Ansprüchen sehr billig und verhältnismäßig gut leben kann, während das Leben in größerem Stil außerordentlich kostspielig ist, – war damals wohlbegründet und ist es unzweifelhaft auch jetzt noch.

Ich würde meine Unterrichtspraxis viel weiter haben ausdehnen können, wenn ich Englisch gesprochen hätte. Aber, sonderbar wie mir

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s245.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)