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Ich eilte nach meiner Wohnung und fand die Familie Petit meinetwegen in großer Besorgnis. Madame und die beiden ältlichen Töchter erzählten mir in dreistimmigem Chor, wie vor einigen Tagen zwei Polizeiagenten mein Zimmer durchstöbert und meine Papiere gemustert, dann aber alles in bester Ordnung zurückgelassen hätten; auch hätten die Polizeiagenten sich bei der Familie Petit über meinen Lebenswandel erkundigt, und ich könne mir wohl vorstellen, ein wie glänzendes Zeugnis die Familie Petit mir ausgestellt habe; dann aber habe die Familie sich sehr um mein Schicksal beunruhigt und meine Freunde, die mich hätten besuchen wollen, von all diesen Vorgängen unterrichtet und sie gebeten, alle ihnen zugänglichen Einflüsse für mich in Bewegung zu setzen. Ich fand denn auch, daß verschiedene meiner Freunde sich sehr um mich bemüht hatten, und es ist wahrscheinlich, daß dadurch meine Freilassung beschleunigt worden war.

Die Ursache meiner Verhaftung wurde mir erst später klar. Louis Napoleon hatte schon längst die Vorbereitungen zu dem Staatsstreich begonnen, der die republikanische Regierungsform aus dem Wege räumen und ihn selbst in den Besitz monarchischer Gewalt bringen sollte. Während die Republikaner sich selbst über die heraufsteigende Gefahr täuschten, indem sie den Prätendenten als einen hirnlosen Affen seines großen Onkels lächerlich zu machen suchten, setzte dieser alle Mittel in Bewegung, um die Armee und die Massen des Volkes für sich und seine Pläne zu gewinnen. In allen Teilen des Landes wurde die napoleonische Propaganda in den mannigfaltigsten Formen organisiert, und diese Agitation fiel besonders bei der bäuerlichen Bevölkerung auf einen fruchtbaren Boden. Die Legende des Kaiserreichs mit seinen Kriegen und Siegen und seinem tragischen Ende war das Heldengedicht des Landvolkes, in dessen Glanz jede Bauernfamilie sich sonnte und sich groß fühlte, – denn jede von ihnen wußte von einem Vorfahren zu erzählen, der bei Rivoli, bei den Pyramiden, bei Marengo, bei Austerlitz, bei Jena, bei Wagram, bei Borodino, bei Waterloo unter den Augen des Gewaltigen gekämpft. Und in diesem Heldengedicht stand die Kolossalfigur des großen Kaisers, vom Mythus umwoben, wie die eines Halbgotts, unerreicht in seinen Taten, riesenhaft noch in seinem Untergange. Jede Hütte war mit seinem Bilde geschmückt, das, in einem höheren Wesen verkörpert, eine große Vergangenheit von Macht und Ruhm andeutete. Und nun trat ein Neffe des großen Kaisers dem Volke gegenüber, der den Namen des Halbgottes trug und mit diesem Namen jenen zauberhaften Glanz der Vergangenheit zu erneuern versprach. Und zahllose Agenten durchschwärmten das Land, zahllose Flugblätter gingen von Haus zu Haus und von Hand zu Hand, um die Botschaft zu verkünden von dem Neffen und Nachfolger des großen Kaisers, der die alte Herrlichkeit wieder heraufzuführen bereit stehe. Selbst die Drehorgel wurde in den Dienst der Agitation gezogen, indem sie Lieder vom Kaiser und seinem Neffen vor den Schenken der Dörfer und Marktflecken mit ihrer Musik begleitete.

Bei den intelligenteren Stadtbevölkerungen wurde freilich der napoleonischen Legende nicht eine so naive Verehrung bewahrt, aber sie war, schon lange ehe der Neffe des Onkels als Prätendent seine

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s242.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)