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meiner Freiheit beraubt worden sei. Der Schließer versprach, den Brief zu besorgen, aber der Tag verging ohne Antwort; und so noch einer und noch einer. Auch von meinen Freunden empfing ich kein Lebenszeichen, und ich scheute mich, an einen von ihnen zu schreiben, weil ich ihn dadurch hätte in Verlegenheit bringen können. In jenen Tagen, obgleich ihrer nur wenige waren, lernte ich etwas von den Stimmungen kennen, die das Gemüt des Gefangenen martern, – ein Gefühl bittern Zornes gegen die brutale Gewalt, die mich gefangen hielt; das Bewußtsein der Ohnmacht ihr gegenüber, das wie ein Hohn auf mich selbst in mir aufstieg; eine fieberhafte Phantasie, die mich mit einem endlosen Wechsel von häßlichen Bildern quälte; eine rastlose Ungeduld, die mich trieb, wie ein wildes Tier in seinem Käfig, stundenlang in meiner Zelle auf und ab zu rennen; dann eine öde Leere in Geist und Gemüt, die endlich in ein dumpfes Brüten ohne bestimmte Gedanken ausartete.

Am Morgen des vierten Tages richtete ich ein zweites Schreiben an den Präfekten, noch ungestümer und pathetischer als das erste, und wirklich kündigte mir der Schließer bald darauf an, daß ich nach dem Bureau des Präfekten geführt werden solle. In wenigen Minuten fand ich mich denn in einer behaglich eingerichteten Amtsstube einem stattlichen Herrn gegenüber, der mich freundlich zum Niedersitzen aufforderte. Er machte mir dann ein Kompliment über das in Anbetracht meiner deutschen Nationalität merkwürdig gute Französisch meiner Briefe und sprach in höflichen Redensarten sein Bedauern darüber aus, daß man mir durch meine Verhaftung Unbequemlichkeiten verursacht habe. Es liege eigentlich gar keine Anklage gegen mich vor. Nur wünsche die Regierung, daß ich mir einen Aufenthalt außerhalb der Grenzen Frankreichs wählen und zu diesem Ende Paris und das Land baldmöglichst verlassen möge. Vergebens suchte ich den Herrn zu einer Angabe der Gründe zu bewegen, die meine Entfernung aus Frankreich so wünschenswert erscheinen ließen. Mit immer steigender Höflichkeit versicherte er mich seines Bedauerns, daß es höheren Orts so beliebt werde. Endlich suchte ich seine Sorge um mein verletztes Gefühl durch die Bemerkung zu beschwichtigen, daß mich in Wirklichkeit das Belieben der Regierung nicht weiter genieren werde, da ich doch beabsichtigte, nach London überzusiedeln, und daß meine Verhaftung mich nur in meinen Vorbereitungen zur Abreise unterbrochen hätte. Der freundliche Herr war ganz entzückt über diese glückliche Übereinstimmung meiner Absichten mit den Wünschen der Regierung und bat mich schließlich, mich mit meinen Vorbereitungen zur Abreise nur nicht zu beeilen; er werde sich freuen, wenn ich mich von jetzt an unter seinem speziellen Schutz fühlen und mich noch zwei, drei, vier, ja sechs Wochen in Paris amüsieren wollte. Es werde mir dann ein Paß ins Ausland zur Verfügung stehen; aber nach meiner Abreise hoffe er, daß ich ihn nicht durch eine Rückkehr nach Paris ohne spezielle Erlaubnis in Verlegenheit setzen werde. Dann wünschte er mir Lebewohl mit einer an Wärme grenzenden Freundlichkeit, und ich verließ ihn mit dem Eindruck, daß ich hier mit dem höflichsten, angenehmsten Polizeityrannen der Welt Bekanntschaft gemacht habe.

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s241.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2021)