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Weise beschrieb, vorlieb nehmen müssen. Ich ließ mir ein bescheidenes Mahl geben und dachte dabei mit melancholischer Sehnsucht an meine braven Citoyens in der Rue St. Germain l’Auxerrois.

Spät abends, als ich mich schon zum Schlafen niedergelegt hatte, wurde noch ein zweiter Gefangener in meine Zelle gebracht, dem der Schließer das andere Bett anwies. In dem matten Lichte der Laterne des Schließers sah ich in dem neuen Ankömmling einen noch jungen Mann in ziemlich schäbigen Kleidern, mit glatt rasiertem Gesicht und dunklen rastlosen Augen. Er begann sofort ein Gespräch mit mir und teilte mir mit, man klage ihn an, er habe gestohlen, und deshalb sei er eingesteckt worden; die Anklage sei durchaus unbegründet, aber da man ihn früher auf ähnlichen Verdacht hin verhaftet habe, so glaube die Obrigkeit nicht an seine Unschuld. Ich hatte also einen gemeinen Dieb zum Gesellschafter und Schlafkameraden. Er schien in mir einen Handwerksgenossen zu vermuten, denn er fragte mich in vertraulichem Ton, auf was ich mich denn habe ertappen lassen. Meine kurze der Wahrheit gemäße Antwort schien ihm offenbar ungenügend, wenn nicht gar unfreundlich, denn er sagte kein Wort mehr, warf sich auf sein Bett und lag bald in tiefatmendem Schlaf.

Während der stillen Nacht überdachte ich mir meine Lage. Hatte ich in Paris irgend etwas getan, das mich in irgendeiner Weise hätte strafbar machen können? Ich durchforschte alle Winkel meiner Erinnerung und fand nichts. Natürlich konnte die Verfolgung, der ich ausgesetzt war, nur eine politische sein. Aber wie sehr auch meine Gesinnungen der Regierung des Präsidenten Louis Napoleon mißfallen mochten, so hatte ich mich in Frankreich doch an keiner politischen Bewegung beteiligt. In Paris war ich nur ein Beobachtender und Studierender gewesen. Ich hatte keinen Zweifel, daß, während ich auf der Präfektur gefangen saß, die Polizei meine Papiere in meiner Wohnung durchsuchen werde. Aber das konnte mich nicht beunruhigen, denn ich wußte, daß man dort nichts finden werde als historische Notizen, einige literarische Entwürfe und freundschaftliche Briefe harmloser Natur. Was ich an Papieren besaß, die irgendwie hätten verfänglich scheinen können, und auch die Pistolen, die ich bei der Befreiung Kinkels geführt, war ich vorsichtig genug gewesen, einem meiner Freunde in Verwahrung zu geben. Der Gedanke blieb übrig, daß ich auf Betreiben der preußischen Regierung verhaftet worden sei. Aber würde die französische Republik sich dazu herbeilassen, mich an Preußen auszuliefern? Das schien mir nicht möglich, und so beruhigte ich mich über mein Schicksal. Aber es überkam mich ein Gefühl der Erniedrigung darüber, daß man mir die Schmach hatte antun können, mich mit einem gemeinen Dieb zusammenzusperren. Es empörte mein innerstes Gefühl. Und das in einer Republik!

Meine Entrüstung stieg am folgenden Morgen, als man mich noch immer nicht von dem Grunde meiner Verhaftung unterrichtete. Der Dieb wurde früh aus der Zelle abgeholt, und ich blieb allein. Ich ließ mir Schreibzeug bringen und verfaßte in dem besten Französisch, das mir zu Gebote stand, einen Brief an den Präfekten, in dem ich im Namen der Gesetze des Landes verlangte, daß mir kundgetan werde, warum ich

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s240.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)