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Paris, sondern in einer nicht sehr weit entfernten Stadt, wohin er gereist sei, um eine ihm sehr liebe Person zu sehen, da dachte ich, sie doch auf einem Irrtum ertappt zu haben. Einige Tage später kehrte ich nach Paris zurück und, kaum dort angekommen, begegnete ich dem General Klapka auf der Straße. Ich fragte ihn sogleich, ob er, seit er mir zuletzt geschrieben, beständig in Paris gewesen sei, und war nicht wenig erstaunt, von ihm zu hören, er habe vor kurzem einen Ausflug nach Brüssel gemacht und sich dort nicht ganz eine Woche aufgehalten. Und die liebe Person, die er dort gesehen haben sollte? Ich erfuhr von einem intimen Freunde Klapkas, der General sei nach Brüssel gegangen, um mit einer Dame zusammenzutreffen, von der man sagte, daß sie sich mit ihm verheiraten werde. Die Hellseherin behielt also in jedem Punkte recht.

Dieser Vorfall war mir in hohem Grade rätselhaft. Je mehr ich mir die Frage überlegte, ob die Hellseherin von dem Inhalt der Kuverte irgendwelche Kenntnis erhalten, oder irgendeinen Anhaltspunkt gehabt haben könnte, um ihn zu erraten, um so verneinender fiel die Antwort aus. Strodtmann selbst wußte nicht, was ich in die Kuverte eingesiegelt hatte. Von dem Briefe Klapkas an mich hatte er nicht die geringste Kenntnis. Auch versicherte er mir, er habe die Kuverte, eins nach dem andern, in die Hände der Hellseherin gelegt, genau in demselben Zustande, in dem er sie von mir empfangen hatte, ohne sie auch nur einen Augenblick jemand anders anzuvertrauen und ohne irgend jemand zu sagen, von wem sie herrührten. Und auf das Wort des durch und durch ehrlichen Freundes konnte ich mich verlassen. Aber selbst wenn er – was mir gänzlich undenkbar war – mit der Hellseherin im Einverständnis gehandelt hätte, oder wenn er, ohne es zu wissen, verraten hätte, von wem die Kuverte gekommen seien, so würde dadurch nicht das Rätsel gelöst worden sein, wie die Hellseherin meinen Charakter, meine Neigungen und meine Geisteseigenschaften viel genauer, treffender und feiner hätte beschreiben können, als dies Strodtmann oder Melbye jemals möglich gewesen wäre. Melbye kannte mich überhaupt nur sehr oberflächlich. In unseren wenigen Unterhaltungen hatte er immer das Wort geführt. Und zu Strodtmanns vortrefflichen Fähigkeiten gehörte ein tiefer Blick in die menschliche Seele keineswegs. Kurz, ich konnte in dem ganzen Vorgange keinen Anhalt finden für den Verdacht, daß wir es hier bloß mit einer geschickten Taschenspielerin zu tun hätten. Die Frage warf ich auf: war hier nicht eine Kraft wirksam, die außerhalb der gewöhnlichen Sinnestätigkeit liegt, und die wir zwar in ihren Äußerungen beobachten und auch vielleicht in Bewegung setzen, aber nicht ihrem Wesen nach definieren können? In späteren Jahren habe ich ähnliche Beobachtungen gemacht, die ich an der richtigen Stelle aufzuzeichnen gedenke.

Ich will nun zu meinem Besuch in London zurückkehren. Kinkel hatte in der Vorstadt St. Johns Wood ein kleines Haus gemietet, und dort wurde ich als Gast begrüßt von dem wiedervereinigten Ehepaar und seinen vier Kindern. Kinkel hatte bereits einen ziemlich einträglichen Wirkungskreis als Lehrer gewonnen, und Frau Kinkel gab

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s238.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)