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und er sprach sein Bedauern darüber aus, daß ich nicht der Clairvoyancevorstellung beiwohnen könnte. Da nun Strodtmann sich auf eine kurze Zeit aus meiner Wohnung entfernte, um später zurückzukehren und mich zum Bahnhof zu begleiten, so kam mir der Gedanke, ich könnte doch vielleicht zur Prüfung der Hellseherin meinen Beitrag liefern. Ich schnitt mir einen kleinen Büschel Haare ab, legte ihn in ein zusammengefaltetes Papier und steckte dies in einen Briefumschlag, den ich versiegelte. Dann riß ich von einem Briefe, den ich an demselben Morgen von dem ungarischen General Klapka, dem berühmten Verteidiger der Festung Komorn, empfangen hatte, einen kleinen, das Datum enthaltenden Streifen ab, legte diesen Streifen ebenfalls in ein zusammengefaltetes Papier und steckte auch dieses in einen Briefumschlag, den ich gleichfalls mit Siegellack verschloß. Nachdem Strodtmann zu mir zurückgekehrt, gab ich ihm die beiden Kuverte, ohne ihn von deren Inhalt zu unterrichten, und bat ihn, diese in die Hände der Hellseherin zu legen mit dem Ersuchen, daß sie eine Beschreibung des Aussehens, des Charakters, der Vergangenheit und des zeitweiligen Aufenthaltes der Personen geben möge, von denen die in den Kuverten verborgenen Gegenstände herrührten. Dann reiste ich ab.

Wenige Tage später empfing ich von Strodtmann einen Brief, worin dieser mir folgendes erzählte: Die Hellseherin nahm eines meiner Kuverte in die Hand und sagte, dieses enthalte Haare von einem jungen Manne, der so und so aussehe. Sie schilderte meine äußere Erscheinung aufs genaueste und setzte hinzu, daß dieser junge Mann durch ein kühnes und glücklich gelungenes Unternehmen weit bekannt geworden sei und viel Beifall gewonnen habe, und daß er sich augenblicklich jenseits eines tiefen Wassers in einer großen Stadt und in einem Kreise heiterer Menschen befinde. Dann gab sie eine Beschreibung meines Charakters, meiner Neigungen und meiner geistigen Eigenschaften, die, wie ich sie so Schwarz auf Weiß vor mir sah, mich aufs höchste überraschte. Nicht allein erkannte ich mich sofort in den Hauptzügen dieser Schilderung, sondern ich fand darin auch einige Angaben, die mir neue Aufschlüsse über mich selbst zu geben schienen. Es geschieht uns ja, wenn wir in die eigene Seele hineinblicken, daß wir in unseren Impulsen, in unserem Fühlen, Denken und Wollen etwas Widerspruchsvolles, Rätselhaftes finden, das eine noch so gewissenhafte Selbstprüfung nicht immer zu lösen vermag. Und nun blitzten mir aus den Aussprüchen der Hellseherin Lichtblicke entgegen, die manche dieser Widersprüche und Rätsel aufklärten. Ich empfing gewissermaßen eine Offenbarung über mein eigenes inneres Selbst – eine psychologische Analyse, die ich als richtig anerkennen mußte, sobald sie mir entgegentrat.

Was die Hellseherin über das andere, Klapkas Handschrift enthaltende Kuvert sagte, war kaum minder auffallend. Sie schilderte den Schreiber der darin befindlichen Buchstaben und Ziffern als einen schönen, bärtigen Mann mit blitzenden Augen, der einst eine mit Bewaffneten gefüllte und von Feinden umlagerte Stadt regiert habe. Die Schilderung seiner Person, seiner Vergangenheit und auch seines Charakters, soweit ich diesen kannte, war durchaus richtig. Aber als die Hellseherin nun hinzusetzte, dieser Mann befinde sich zurzeit nicht in

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s237.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)