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Männer und Frauen, von denen einige in der Wut des Tanzes ihre Kleider von Schulter und Brust abgerissen hatten, gebärdeten sich wie Rasende. Die Szene spottete aller Beschreibung. Als letzter Tanz war auf dem Programm ein Galopp angekündigt, der den Namen „Höllengalopp“ trug. Das Orchester spielte eine besonders feurige Weise mit Begleitung von Glocken. In der Tat stellten die in wildem Sinnlichkeitstaumel Umherwirbelnden ein Pandämonium dar, das dem Rachen der Verdammnis spornstreichs entgegenzutanzen schien. Während dieser Galopp vor sich ging – es war ungefähr vier Uhr morgens –, füllte sich der Hintergrund des Saales mit Soldaten, die sich in Linie aufstellten. Plötzlich übertönte ein rasselnder Trommelwirbel das Orchester und die Linie Infanterie, das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett an der Seite, avancierte langsam, Schritt für Schritt die Tänzer und Zuschauer aus dem Saal hinausdrängend.

Um den Becher bis zur Neige zu leeren, gingen wir nach einem der benachbarten Restaurants auf dem Boulevard, um einen Imbiß zu nehmen. Das wüste Schauspiel, das wir dort fanden, überbot alles bis dahin Gesehene. Die zügelloseste Phantasie könnte kein abstoßenderes Bild hervorbringen.

Ich hatte oft in der Luxembourggalerie vor dem großen Bilde Coutures, „La décadence des Romains“ verweilt, das in so beredter Weise den Verfall eines großen Volks und einer großen Zivilisation darstellt; aber was wir hier vor uns sahen, ließ selbst die Erinnerung vergangener Größe nicht aufkommen, die in Coutures Gemälde so eindrucksvoll ist. Hier war nur sittliche Fäulnis in ihrer gemeinsten Form, ihrer abstoßendsten Gestalt, ihrer schamlosesten Schaustellung.

Meine Freunde und ich trösteten uns mit dem Gedanken, daß wir hier das Schlimmste gesehen, ein ausnahmsweises Extrem, und daß dies unmöglich auf das ganze französische Volk schließen lasse; und diesen Gedanken hielten wir um so lieber fest, je mehr unsere Hoffnung auf einen neuen demokratischen Umschwung in Europa von der Rolle abhing, die in der nahen Zukunft die französische Republik spielen würde. Aber ich mußte mir selbst gestehen, daß mir die Atmosphäre von Paris nicht behagte, und mit großem Vergnügen nahm ich eine Einladung der Familie Kinkel an, die mich bat, sie in London zu besuchen und einige Tage in ihrem glücklichen Heim zuzubringen.

Hier will ich einen Vorfall erwähnen, der mich zurzeit in lebhaftes Erstaunen setzte. Strodtmann hatte mich mit einem dänischen Marinemaler namens Melbye bekannt gemacht. Dieser war ein viel älterer Mann als wir, ein Künstler von nicht unbedeutender Geschicklichkeit, und er wußte über seine Kunst sowie über manche andere Dinge angenehm zu sprechen. Besonders interessierte er sich für Clairvoyance und behauptete, eine Hellseherin zu kennen, die Außerordentliches leiste. Er forderte uns mehrmals auf, ihn zu dieser merkwürdigen Dame zu begleiten und uns von ihren wunderbaren Eigenschaften zu überzeugen. Endlich wurde auch ein Abend zu diesem Zwecke bestimmt; aber es traf sich, daß ich gerade zu derselben Zeit, um die Familie Kinkel in England zu besuchen, Paris auf einige Tage verlassen wollte. Als ich meine Sachen packte, war Strodtmann bei mir in meinem Zimmer,

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s236.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)