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der Konstituanten von 1789, des gesetzgebenden Körpers und des Konvents der ersten Revolution mit großem Fleiß studiert, wußte einige der bedeutendsten oratorischen Leistungen Mirabeaus fast auswendig, kannte die parlamentarischen Debatten jener Periode ziemlich gründlich und hoffte nun etwas dem Ähnliches zu hören und zu sehen, das mich beim Lesen so mächtig erregt hatte, und das mir wie das Bild eines gewaltigen Heroendramas in der Phantasie lebte. Mit dieser Erwartung besuchte ich die Nationalversammlung. Meine Enttäuschung war groß. Allerdings fehlte es da nicht an hochtönenden Reden und an Szenen stürmischer, ja tumultuarischer Aufregung. Aber alles dies erschien mir vielfach weniger einem ernsten Gedankenkampf bedeutender Männer ähnlich als einer würdelosen Zänkerei eitler Phrasendrescher. Das war wohl ein zu hartes Urteil; aber es geschieht ja häufig, daß eine zu hoch gespannte Erwartung, wenn sie getäuscht wird, uns dann auch das Gute nicht schätzen läßt, das wirklich vorhanden und der Anerkennung wert ist. Was ich nun in der Gegenwart tatsächlich beobachtete, war die französische Art und Weise zu reden und zu handeln. Diese Art entsprach meinem Ideal nicht, aber sie war immerhin dieselbe französische Art, die bei allen ihren schauspielerischen Äußerlichkeiten in der Vergangenheit, besonders in der Revolutionsperiode, sich sehr wirklich und wirksam erwiesen und kolossale Resultate geliefert hatte.

So wurde ich durch das, was ich auf dem politischen Felde wahrnahm, einigermaßen ernüchtert, und diese Ernüchterung wurde nicht wenig verstärkt durch das, was ich im lateinischen Viertel und an verschiedenen Vergnügungsplätzen von der Liederlichkeit des Studentenlebens sah – des gewohnheitsmäßigen Lebens junger Leute, die man doch zur Blüte der französischen Jugend rechnen sollte.

Ich werde nie den Eindruck vergessen, den einer der Maskenbälle im großen Opernhause auf mich und meine deutschen Freunde machte. Jeder hatte Zutritt, der die Einlaßkarte bezahlen und sich mit dem vorgeschriebenen Kostüm, der gewöhnlichen Abendtoilette oder einem Maskenanzuge versehen konnte. Der Ball begann um Mitternacht. Das Publikum bestand aus jungen Leuten aller Stände, unter denen ich mehrere Studenten aus dem lateinischen Viertel wiedererkannte, mit ihren Grisetten oder „petites femmes“, und aus anderen Personen, die gekommen waren, nicht um am Tanze teilzunehmen, sondern um diese charakteristische Schaustellung des Pariser Lebens zu sehen. Die Foyers wimmelten von Frauengestalten in Dominos, die sich an die dort umhergehenden Männer ohne Umstände mit vertraulichen Reden heranmachten. Der große Zuschauerraum der Oper und die Bühne waren als Ballsaal hergerichtet. Der Tanz begann in ziemlich anständiger Weise, artete aber bald in den eigentlichen Cancan aus. Polizeibeamte bewegten sich durch den Saal, um die gröbsten Verletzungen der guten Sitte zu verhüten. Anfangs schien dies auch zu gelingen – wenigstens ließen die Tänzer und Tänzerinnen sich nur dann gehen, wenn sie sich von dem Polizeimann unbeobachtet glaubten. Aber wie es spät wurde, die Temperatur des Saales stieg und das Blut der Tanzenden sich erhitzte, wurde das Geschäft der Ordnungswächter immer schwieriger. Schließlich war kein Halten mehr. Die Bestialität ließ sich nicht mehr bändigen.

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s235.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)