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eigenen Erzeugnisse vorführten, während ich als enthusiastischer Zuhörer und wohlwollender Kritiker fungierte. Auch tranken wir bei diesen Gelegenheiten einen Punsch, der aus Gründen der Sparsamkeit an Schwäche nichts zu wünschen übrig ließ. In diesem Kreise war mein guter Kamerad Strodtmann ein großer Liebling. Er hatte sich damals tief in die sozialistische Poesie jener Periode gestürzt, in der er ein vielversprechendes Symptom einer neuen geistigen und sittlichen Regeneration der Menschheit sah. Einige französische Gedichte dieser Art übersetzte er mit großem Geschick in wohltönende deutsche Verse, die er uns zu unserem großen Vergnügen zuweilen an unseren geselligen Abenden vorlas. Er war auch ein guter Zuhörer. Obgleich sehr taub, zeigte er warmes Interesse an unseren musikalischen Leistungen und gab mit seiner Donnerstimme dann und wann ein überraschend naives Urteil ab. Wir alle waren ihm herzlich gut wegen seiner hohen Begeisterung, seiner regen Sympathien, der offenbaren Ehrlichkeit seiner Natur und der robusten Freimütigkeit, mit der er seine oft recht exzentrischen Ansichten über Menschen und Verhältnisse aussprach. Zuweilen erregten seine Sonderbarkeiten stürmische Ausbrüche von Gelächter, in das er dann gutmütig einstimmte, indem er am lautesten lachte in kindlichem Erstaunen über die wunderlichen Dinge, die er selbst gesagt oder getan hatte. Er hätte wohl als Original dienen können für manche Karikaturen des „zerstreuten Professors“, der einen Lieblingsgegenstand deutscher Witzblätter abgibt.

Nicht selten sah man ihn auf den Straßen des Quartier Latin aus seiner langen deutschen Tabakspfeife rauchend, wie er als Student in Bonn umhergegangen war. In Paris blieben die Leute verwundert stehen, wenn sie diese ungewohnte Erscheinung erblickten, und bald war er im lateinischen Viertel als „l’homme à la longue pipe“ bekannt. Eines Tages trat er in mein Zimmer mit einer Haarbürste unter dem Arm, und als ich ihn fragte: „Aber Strodtmann, was trägst du denn da?“ sah er sich die Sache zuerst erstaunt an, lachte dann hell auf und sagte mit seiner lauten Stimme: „Das ist ja meine Haarbürste! Ich dachte, es sei ein Buch, aus dem ich dir ein Gedicht vorlesen wollte.“ Ein andermal, als er mich besuchte, bemerkte ich, daß sein Gesicht den Ausdruck ungewöhnlichen Ernstes trug. „Ich habe nur ein Paar Stiefel,“ sagte er. „Einer davon ist noch ziemlich gut, aber der andere, siehst du,“ – und damit deutete er auf seinen rechten Fuß – „der andere geht ganz aus den Nähten. Hast du nicht einen Stiefel übrig, den du mir leihen kannst?“ In der Tat besaß ich zwei Paare, und es traf sich so, daß von dem einen Paar ein Stiefel schadhaft, der andere aber noch in ganz brauchbarem Zustande war. Diesen stellte ich Strodtmann gern zur Verfügung. Als nun Strodtmann den Austausch sofort vornehmen wollte, bemerkten wir, daß die beiden guten Stiefel, der seinige und der meinige, zwei verschiedenen Moden angehörten; der seinige war an den Zehen zugespitzt, der meinige breit abgeschnitten, und beide waren für den linken Fuß gemacht. Diese unglücklichen Umstände störten jedoch Strodtmann durchaus nicht, und obgleich er zuweilen einige Unbequemlichkeit spüren mochte, ging er doch mehrere Tage in den beiden linken Stiefeln, von denen der eine spitz,

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s232.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)