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Zeit zu Zeit Zuschriften von Unbekannten, die mir berichten, ihre Väter hätten ihnen erzählt, daß sie mich zu jener Zeit irgendwo gesehen oder mir gar bei dem Befreiungsabenteuer beigestanden hätten.

Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, ehe das Zuchthaus in Spandau abgebrochen wurde, erfreuten mich einige Spandauer Bürger mit einem photographischen Bilde, welches das Gebäude und die anliegende Straße sowie Kinkels Kerkerzelle darstellte. Und mehr als fünfzig Jahre nach dem Ereignis empfing ich einen von mehreren Deutschen, darunter einem Reichstagsmitgliede, gezeichneten Gruß auf einer Ansichtspostkarte mit dem Bilde des Gasthauses „Zum weißen Kreuz“ bei Rostock, auf dem die „Kinkelsecke“ markiert war. So lebt die Sage noch.




Elftes Kapitel.

In Paris.

Die Kinkels beschlossen, sich in England niederzulassen. Nach einigen Tagen höchst glücklichen Zusammenseins mit ihrem Gatten kehrte Frau Johanna von Paris nach Bonn zurück, um so schnell wie möglich die Vorbereitungen für die Übersiedelung der Familie zu treffen. Kinkel beschäftigte sich noch eine Weile mit dem Studium der wichtigsten Architekturen, Gemäldegalerien und sonstigen Kunstsammlungen in Paris und reiste dann nach London ab. Ich zog vor, noch einige Zeit in Paris zu bleiben, teils weil ich hoffte, dort meine geschichtlichen Lieblingsstudien am besten fortsetzen zu können, teils auch, weil damals noch Paris als der Herd liberaler Bewegungen auf dem europäischen Kontinent galt, und ich glaubte, da, wo die Schicksale der Welt geschmiedet würden, auch den geeignetsten Platz für mich als Zeitungskorrespondenten zu finden. So trennten wir uns denn, und damit war die Periode der aufregenden Abenteuer und der darauffolgenden Festtage zu Ende.

Nun galt es, mir wieder eine geordnete Lebensart und Tätigkeit einzurichten, um mich ehrlich durchzuschlagen. Meine journalistischen Verbindungen in Deutschland waren bald wieder angeknüpft, und ich fand, daß ich etwa 180 Franken den Monat mit Korrespondenzen verdienen konnte. Ich nahm mir vor, meine regelmäßigen Ausgaben auf 100 Franken den Monat zu beschränken und somit eine kleine Reserve für außergewöhnliche Erfordernisse übrig zu behalten. Das setzte eine sorgfältige sparsame Haushaltung voraus, aber ich lernte bald, mit wie wenig Geld man in Paris verhältnismäßig anständig wirtschaften konnte. Diese Schule der Ökonomie ist mir immer nützlich geblieben. Noch während die Kinkels in Paris waren, hatte ich das Gasthaus, in das wir zuerst eingekehrt, verlassen, um das Zusammensein der so lang getrennten Eheleute nicht zu stören, und war zu meinem Freunde Strodtmann gezogen, der sich schon einige Zeit vor uns in Paris eingefunden hatte und eine geräumige Stube in einem Hotel garni des Faubourg

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s229.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)