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Tragöde Macready gab eine Reihe von Darstellungen Shakespearescher Charaktere. Wir sahen ihn in Macbeth und Heinrich VIII. Obgleich ich die gesprochenen Worte nicht verstand, so war ich doch mit den Stücken hinreichend vertraut, um dem Dialog folgen zu können. Aber ich konnte zu keinem Genuß kommen, denn die unreinen Vokale und die Zischlaute, ja der ganze Klang und Tonfall der englischen Sprache fielen mir so unmusikalisch, so widerlich ins Ohr, daß ich dachte, eine solche Sprache würde ich niemals erlernen. Und in der Tat hat dieser unangenehme erste Eindruck mich, auch als ich später in London wohnte, lange davon abgehalten, ihr Studium ernstlich in Angriff zu nehmen.

Da Kinkel in London einen Brief von Frau Johanna empfing, in dem sie den Tag ihres Eintreffens in Paris bestimmte, so begaben wir uns nach einigen Tagen höchst anstrengenden Vergnügens auf den Weg nach der französischen Hauptstadt. Das Wiedersehen der durch hartes Schicksal so lange getrennten Gatten war mir eine kaum geringere Freude als ihnen selbst. Aber mit dieser Freude brachte unsere Ankunft in Paris mir auch eine schwere Bürde, und diese Bürde bestand in meiner plötzlichen „Berühmtheit“. Obgleich ich schon in Rostock, Edinburg und London im kleinen Freundeskreise Lobsprüche sehr warmer Art empfangen hatte, so setzte mich doch das, was ich in Paris über die durch die Befreiung Kinkels erregte Sensation erfuhr, in Erstaunen und Verlegenheit. Während Kinkel und ich auf dem Meere schwammen und in der Kajüte der „Kleinen Anna“ mit Kapitän Niemann Navigationsrat hielten, war es allgemein bekannt geworden, daß ich, ein junger Student von Bonn, bei Kinkels Erlösung in leitender Weise tätig gewesen sei. Natürlich waren die Einzelheiten des Abenteuers für das große Publikum noch im Dunkeln. Solches Dunkel ist bekanntlich der Sagenbildung günstig; und so überboten sich die freisinnigen Zeitungen in Deutschland in romantischen Geschichten, als deren alleiniger Held ich herhalten mußte. Die beliebteste und am meisten geglaubte dieser Geschichten ließ mich, wie einst Blondel vor dem Kerkerturm des Richard Löwenherz, durch Gesang – diesmal nicht mit der Laute des Troubadours, sondern mit einer Drehorgel begleitet – die Aufmerksamkeit meines gefangenen Freundes auf mich ziehen und so das Fenster seiner Zelle entdecken und dann auf wunderbare Weise sein Entkommen bewirken. Eine andere Sage brachte mich mit einer preußischen Prinzessin in Verbindung, die auf geheimnisvolle und für sie selbst gefährliche Weise meinem Unternehmen Vorschub geleistet habe. Manche Blätter legten ihren Lesern meine Biographie vor, die natürlich zum großen Teil aus phantastischen Ausschmückungen bestand, da es von meinem jungen Leben fast gar nichts zu erzählen gab. Ich wurde sogar zum Gegenstand dichterischer Ergüsse gemacht, die meine „Tat“ in allen Tonarten verherrlichten. Über meine Eltern ergoß sich, wie sie mir schrieben, eine Flut von Glückwünschen, die zum großen Teil von ganz unbekannten Personen kamen.

Nun war das Lob, das meine Eltern mir spendeten, und die Dankbarkeit, die Frau Kinkel mir in ihrem und ihrer Kinder Namen aussprach, mir eine wirkliche und große Genugtuung. Aber die Überschwenglichkeiten,

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s226.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)