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Sonntag unseren schottischen Freund nicht erreichen könnten, uns wenigstens die Stadt Edinburg anzusehen. Auch hofften wir, in irgend einem Hotel Unterkunft zu finden.

Es war ein schöner, sonniger Wintermorgen. Welche Lust war es, als wir die Hauptstraße von Leith hinaufwanderten, zu fühlen, daß wir nun wieder festen Boden unter den Füßen hatten und als freie Menschen jedem ins Antlitz schauen durften! Endlich alles überstanden, alle Gefahren glücklich vorüber, keine Verfolgung mehr, ein neues Leben vor uns! Es war über alle Beschreibung herrlich. Wir hätten jauchzen und springen mögen, besannen uns aber und wanderten in raschem Gang aus der Hafenstadt in die Straßen von Edinburg hinauf. Diese Straßen sahen recht sonntäglich aus. Die Kaufläden waren geschlossen, kein Fuhrwerk störte die Stille, die Leute gingen schweigend daher, wahrscheinlich zur Kirche. Doch bemerkten wir bald, daß manche der Vorübergehenden uns mit einer Art Verwunderung anblickten, und es währte nicht lange, bis ein Trupp von Knaben sich um uns sammelte und uns mit spöttischem Lachen verfolgte. Wir blickten einander an und wurden gewahr, daß unsere äußere Erscheinung allerdings sonderbar genug gegen die der sauberen Kirchengänger abstach. Kinkel trug seinen großen Bärenpelzrock, der ihm beinahe bis zu den Füßen reichte. Sein Bart, den er, wie früher, voll wachsen lassen wollte, befand sich in dem Stadium der Entwicklung, in welchem er einem rauhen Stoppelfeld ähnlich sah, – und in jener Zeit gehörte in Schottland unter den anständigen Leuten ein Vollbart noch zu den Unmöglichkeiten. Seinen Kopf bedeckte eine Forstbeamtenmütze. Regelrechte Hüte besaßen wir nicht. Ich war in einen langen braunen Überrock mit weiten Ärmeln und einer mit hellblauem Flanell gefütterten Kapuze gekleidet – ein Kleidungsstück, das ich mir in der Schweiz aus meinem großen Soldatenmantel hatte anfertigen lassen. Meine Kopfbedeckung bestand in einer sonderbar geformten schwarzen Samtkappe. Indem wir uns gegenseitig betrachteten, kamen wir zu dem Bewußtsein, daß wir an einem Sonntagmorgen auf den Straßen der schottischen Hauptstadt recht seltsame Figuren machten, und über das Erstaunen der frommen Kirchengänger und den Spott der Jugend wunderten wir uns nicht mehr. Indes war der Sache nicht abzuhelfen, und so schlenderten wir ruhig weiter, ohne uns um die Gefühle der Eingeborenen weiter zu kümmern.

Solange nun das frugale Frühstück, das wir noch an Bord der „Kleinen Anna“ eingenommen hatten, keinen neuen Hunger aufkommen ließ, unterhielten wir uns vortrefflich. Wir sahen das berühmte Scott-Denkmal und einige imposante Gebäude und gingen dann auf die Burg hinauf, wo uns der erste Anblick von Soldaten in dem prächtigen schottischen Hochlandkostüm zuteil wurde. Auch genossen wir von dort aus nach Herzenslust die wundervolle Aussicht über die Stadt und ihre malerische Umgebung. Kurz, wir fanden Edinburg über die Maßen schön. Unterdessen war aber die Mittagsstunde längst vorübergegangen, und wir begannen zu fühlen, daß das Anschauen auch der herrlichsten Aussicht nicht satt macht. Gebieterisch regte sich das Verlangen nach einer soliden Mahlzeit. So stiegen wir denn von dem Kastell herunter

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s222.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)