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Stellung auf die Seekarte blickend diskutierten wir mit dem Kapitän, der mit Zirkel und Bleistift in der Hand auf dem kleinen Sofa eingeklemmt saß, geographische Länge und Breite, Stärke des Windes, Strömung des Wassers usw. Schließlich vereinigten wir uns auf einen Punkt, an dem das Schiff zurzeit sein müsse, und dieser Punkt wurde dann feierlichst auf der Karte mit dem Bleistift verzeichnet. Dann löste der Navigationsrat sich auf, der Kapitän stieg wieder aufs Deck, und Kinkel und ich krochen in unsere Kojen zurück, um zu schlafen.

Nach dem zehnten Tage unserer Fahrt klärte sich endlich der Himmel und die erste regelrechte Observation zeigte, daß unsere Berechnungen nicht gar so falsch gewesen waren, und daß drei oder vier weitere Tage uns an die englische Küste bringen würden. So steuerten wir denn fest auf den Hafen von Newcastle los. Kinkel hatte unterdessen seinen guten Humor ganz wiedergewonnen und ließ sich nicht gern an seine Ausbrüche seekranker Verzweiflung erinnern. Wir waren sehr guter Dinge, freuten uns aber doch von Herzen, als wir den ersten Streifen Land über dem Horizont emporragen sahen. Da warf sich plötzlich der Wind nach Süden, und der Kapitän erklärte, daß wir bei diesem Winde nur durch langwieriges Kreuzen den Hafen von Newcastle erreichen könnten. Der Navigationsrat trat also wieder zusammen, und wir beschlossen, in nördlicher Richtung nach Leith, dem Hafen von Edinburg, zu steuern. Das geschah, und am nächsten Abend erblickten wir die mächtigen Felsen, die den Eingang zum Hafen von Leith bewachen. Da fiel der Wind zu unserem lebhaften Ärger und die Segel hingen schlaff. Kinkel und ich zitierten zu unserem Troste allerlei Verse aus dem Homer, wie die zornigen Götter durch die boshaftesten Streiche den herrlichen Dulder Odysseus von der Erreichung seines geliebten Ithaka abhielten, wie er aber zuletzt, während er schlief, durch sanfte Lüfte dem heimatlichen Gestade zugeführt wurde. So geschah es uns auch. Nachdem wir verdrießlich schlafen gegangen waren, erhob sich eine leichte Brise, die uns mit unmerklicher Bewegung dem ersehnten Hafen zutrieb, und als wir am nächsten Morgen erwachten, lag die „Kleine Anna“ vor Anker.

Nun erst erfuhr der gute Kapitän Niemann, was für Passagiere er unter den Namen Kaiser und Hensel übers Meer gebracht hatte. Er gestand uns, die Sache sei ihm von Anfang an etwas unheimlich erschienen, sprach aber in herzlichster Weise seine Freude darüber aus, daß er, wenn auch unwissentlich, das seinige zu Kinkels Entkommen beigetragen habe. Kinkel und ich waren ungeduldig, ans Land zu gehen. Glücklicherweise hatte uns Brockelmann nicht allein an seinen Korrespondenten in Newcastle Briefe gegeben, sondern auch an den in Leith, einen Kaufmann namens Mac Laren. Diesem wünschten wir uns sogleich zu präsentieren. Aber der Kapitän erinnerte uns daran, daß der Tag unserer Ankunft ein Sonntag war, an dem ein schottischer Kaufmann gewiß nicht in seinem Kontor zu treffen sein werde; und er wisse nicht, wie wir das Wohnhaus finden könnten. Das sahen wir ein. Indes hatten wir die „Kleine Anna“ mit ihrer winzigen Kajüte und ihrem Teergeruch gründlich satt. Wir beschlossen daher, so gut es ging, Toilette zu machen und ans Land zu steigen, um, wenn wir auch am

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s221.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)