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schlecht und heute könne wohl nichts Ordentliches gekocht werden; wir müßten vorliebnehmen. – Dreißig Jahre später, als ich Minister des Innern in der Regierung der Vereinigten Staaten war, besuchte ich während der Präsidentschaftskampagne von 1880 die Stadt Rondout am Hudson, um dort eine Rede zu halten. Nach der Versammlung kreuzte ich den Hudson auf der Dampffähre, um auf der gegenüberliegenden Station Rheinbeck den Eisenbahnzug nach New York zu nehmen. Im Abenddunkel trat auf der Fähre ein Mann zu mir und sprach mich auf Deutsch an.

„Entschuldigen Sie,“ sagte er, „daß ich Sie anrede. Ich möchte wissen, ob Sie mich noch kennen.“

Ich bedauerte, mich nicht zu entsinnen.

„Erinnern Sie sich nicht“, sagte er, „des Steuermanns auf der „Kleinen Anna“, Kapitän Niemann, auf der Sie und Professor Kinkel im November 1850 von Rostock nach England fuhren?“

„Was?“ rief ich aus. „Ob ich mich des Steuermanns erinnere, der morgens immer mit der Kaffeebowle in der Kajüte stand und so köstliche Tänze aufführte?“

„Ja, und Sie machten immer so spaßige Bemerkungen darüber, wenn man sich in dem Spektakel einmal verstehen konnte. Der Steuermann war ich.“ Ich war sehr erfreut, und wir schüttelten uns kräftig die Hände. Ich fragte, wie es ihm ginge, und er antwortete: „Recht gut.“

Ich lud ihn ein, mich einmal in Washington zu besuchen, was er versprach. Ich hätte die Unterhaltung gern fortgesetzt, aber wir waren unterdessen am östlichen Ufer des Hudson angekommen, mein Eisenbahnzug dampfte heran, und in wenigen Minuten war ich auf dem Wege nach New York. Der Steuermann hielt sein Versprechen nicht, mich in Washington zu besuchen, und ich habe ihn nie wiedergesehen.

Das andere mir noch gegenwärtige Bild war ernster in seiner unfreiwilligen Komik. Während wir auf der Nordsee von stürmischen Winden umhergetrieben wurden, war der Himmel stets von dichtem Gewölk bedeckt, so daß keine regelrechte Observation gemacht werden konnte, um zu bestimmen, wo wir uns befänden. Der Kapitän suchte allerdings mit der sogenannten toten Berechnung auszuhelfen, welche auf die Messung der Fahrgeschwindigkeit mit dem Log und Mutmaßung in bezug auf das Abtreiben von der gesteuerten Richtung gegründet ist. Aber nachdem das nun einige Tage so gegangen war, erklärte uns Kapitän Niemann ganz offen, er wisse nicht mehr recht, wo er sei. Nun sahen wir ihn oft sinnend über seiner Seekarte am kleinen Tisch in der Kajüte sitzen, und da uns die Sache auch anging, so versuchten wir, ihm rechnen zu helfen. Da Kinkel, nachdem er seine Seekrankheit überwunden hatte, und ich den ganzen Tag trotz des Unwetters auf dem Deck zubrachten und das Abtreiben des Schiffes von seinem Kurs beobachteten, so bildeten wir uns eine Meinung darüber, die der Kapitän denn auch mit großem Respekt anhörte. So kam der Kapitän oft des Nachts in die Kajüte herunter und breitete unter der Lampe seufzend seine Seekarte aus. Dann steckten Kinkel und ich unsere Köpfe aus den Schlafkojen hervor, indem wir uns krampfhaft an irgend einen festen Gegenstand festklammerten, um nicht herauszufallen; und in dieser

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s220.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)