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Bemerkungen wie gefühllose Leichtfertigkeit, und ich mußte bald wieder einen ernsteren Ton anschlagen, um ihn zu beruhigen.

In diesem Zustande passierten wir Helsingör, die Sundzollstätte, und damit die letzte Stelle, die uns hätte möglicherweise gefährlich werden können, und liefen ins Kattegatt ein. War die See im Sunde schon wild gewesen, so wurde sie im Kattegatt noch wilder. Der Wind schien abwechselnd aus allen Himmelsgegenden zu blasen, und wir kreuzten zwei Tage lang zwischen der flachen vorspringenden Landzunge von Dänemark, dem Skagen, und den hochaufragenden Felsenküsten von Schweden und Norwegen, bis wir das geräumigere Becken des Skagerrack gewinnen konnten. Aber auch da, und als wir endlich uns in der offenen Nordsee befanden, dauerte das „schmutzige Wetter“, wie unsere Seeleute es nannten, beharrlich fort. Zuweilen wurde der Wind so heftig, daß Kapitän Niemann ihn als einen wirklichen Sturm anerkannte. Wie eine Nußschale hüpfte die „Kleine Anna“ auf den zornigen Gewässern. Die See wusch beständig über das Deck, und das Schiff ächzte unter den furchtbaren Schlägen der darauf einstürzenden Wogen. Wenn Kinkel meiner nicht bedurfte, hielt ich mich beständig auf dem Deck auf, und um nicht über Bord geschleudert zu werden, ließ ich mich an den hinteren Mast festbinden. So gewann ich denn einen lebhaften Eindruck von der gewaltigen, ewig wechselnden Großartigkeit des Meeres, das mir beim ersten Anblick von Warnemünde aus nicht hatte imponieren wollen. Nun bezauberte mich der Anblick dergestalt, daß ich mich nur schwer davon losreißen konnte, und jede Minute, die ich in der Kajüte zubringen mußte, erschien mir wie ein unersetzlicher Verlust.

Kinkel blieb mehrere Tage seekrank, lernte jedoch nach und nach einsehen, wieviel Seekrankheit ein Mensch vertragen kann, ohne zu sterben. Allmählich verschwand sein Leiden; er stieg mit mir aufs Deck, würdigte die Poesie der Meerfahrt und verzieh mir dann, daß ich an den tödlichen Charakter seiner Seekrankheit nicht hatte glauben wollen.

Das böse Wetter währte unausgesetzt zehn Tage und Nächte lang fort. Zuweilen machte die Wut der Elemente das Kochen unmöglich. Höchstens konnte dann noch etwas Kaffee bereitet werden, und sonst lebten wir von Zwieback, kaltem Fleisch und Heringen. Aber wie blieben guten Mutes und genossen nicht wenig den Humor unserer Lage. Zwei Szenen haben sich mir besonders lebhaft eingeprägt. Die eine wiederholte sich jeden Morgen während der stürmischen Zeit. Kurz nach Tagesanbruch kam der Steuermann in die Kajüte herab, um uns unseren Kaffee zu bringen, während wir noch in den Kojen lagen. Wenn nun die See so recht wütend an die Schiffswände donnerte und auf das Deck niederschmetterte, so daß man sein eigen Wort kaum hören konnte, und wenn dann die „Kleine Anna“ wie toll auf und ab sprang und hin und her rollte, so daß wir uns wohl festhalten mußten, um nicht aus den Betten zu fallen, so stand der brave Seemann in seinem Ölanzug, oft von Wasser triefend, entweder vor Kinkel oder vor mir, spreizte die Beine weit aus, faßte mit einer Hand krampfhaft den kleinen am Boden befestigten Tisch, balancierte in der andern mit erstaunlicher Kunst eine große Schale Kaffee, ohne einen Tropfen zu verschütten, und schrie uns aus Leibeskräften an, um uns zu sagen, das Wetter sei immer noch

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s219.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)