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Ernüchterung, und als ich bedachte, daß dies doch eigentlich ein sehr kleines Seeschiff sei, fand ich sie ebenso praktisch wie einfach.

Kapitän Niemann, den seines Herrn plötzlicher Befehl so unerwartet aus seiner Winterruhe aufgestört hatte, wußte wohl zuerst nicht recht, was er aus den beiden sonderbaren Gästen auf der „Kleinen Anna“ machen sollte. Einer unserer Freunde, die uns an Bord gebracht, hatte ihm durch dunkle Andeutungen Ursache gegeben zu vermuten, daß wir ein paar bankerotte Kaufleute seien, durch unglückliche Umstände gezwungen, das Weite zu suchen. Aber, wie er uns später erzählte, er konnte diese Theorie doch nicht recht zusammenreimen mit der Hochachtung und der warmen, ja enthusiastischen Anhänglichkeit, mit deren Beweisen unsere Begleiter uns überhäuft hatten. Indes er beruhigte sich damit, daß Herr Brockelmann ihm befohlen hatte, für die Herren Kaiser und Hensel alles zu tun, was in seinen und in seiner Leute Kräften stehe, – im Notfalle sogar sein Schiff an irgend einer nichtdeutschen Küste auf den Strand zu setzen. Wäre der Notfall eingetreten, so würde er das auch redlich getan haben. Immerhin sorgte er für uns aufs beste. Die Schiffsmannschaft bestand, außer dem Kapitän, aus sieben Mann, den Steuermann, den Koch und den Schiffsjungen eingerechnet. Frau Brockelmann hatte uns mit Nahrungsmitteln, worunter eine gebratene mit Äpfeln gefüllte Gans sich besonders auszeichnete, reichlich versehen; aber die Fähigkeit des Schiffskochs war äußerst beschränkt. Glücklicherweise waren die Gäste leicht zu befriedigen.

Anfangs ließ sich die Seereise recht lustig an. Eine leichte Brise schwellte die Segel, und das Schiff glitt mit sanfter Bewegung durch die nur wenig erregte Flut. Aber gegen Morgen wurden Wind und See lebhafter, und als es Zeit zum Aufstehen war, meldete sich Kinkel seekrank. Der Wind blies immer heftiger, die See wogte immer höher, und Kinkel wurde immer kränker. Er raffte sich zusammen, um aufs Deck zu steigen, suchte aber bald wieder seine Koje auf. Ich bemühte mich ihn aufzumuntern – umsonst. Nach einigen Stunden argen Leidens wurde er ganz verzweifelt in seiner Qual. Er fühlte, daß er sterben müsse. Er hatte Lust, den Kapitän zu bitten, daß er ihn im nächsten Hafen absetzen möge. Diese Marter erschien ihm unerträglich. War er dem Gefängnisse entronnen, um hier jetzt so elend zu verenden?

Nun ist es eine Eigentümlichkeit der Seekrankheit, daß der Gesunde die Leiden des Kranken nicht würdigt, und der Kranke die behagliche Gleichgültigkeit des Gesunden herzlos und gar empörend findet. So ging es auch uns. Ich fühlte mich vollkommen wohl. Je mehr die „Kleine Anna“ sich in dem Wellenschlag hin und her und auf und nieder schwang, um so heiterer war mir zumute. Ich spürte dabei eine Eßlust, die selbst den Leistungen unseres Schiffskochs aufrichtige Anerkennung spendete. Dieses Wohlbehagen konnte ich Kinkel nicht ganz verhehlen, obgleich ich seine Leiden, die wahrscheinlich durch die Schwächung seiner Nerven infolge des langen Gefängnislebens bedeutend erhöht worden waren, innig bedauerte. Ich dachte, ich könne ihn aufrichten, indem ich mich über seine Todesbefürchtungen ein wenig lustig machte. Aber das wollte durchaus nicht fruchten. Da Kinkel allen Ernstes glaubte, es ginge ihm ans Leben, so klangen ihm meine scherzhaften

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s218.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)