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ein Fremder bei Wiggers, der sich für den Gutsbesitzer Hensel ausgab und fragte, ob Kinkel, den er von Spandau nach Strelitz gefahren, noch in Rostock sei. Wiggers hatte uns zwar von Hensel in Ausdrücken des höchsten Vertrauens sprechen hören, aber er besorgte, der Fremde möge nicht der richtige Hensel, sondern ein Spion sein. So stellte er sich denn erstaunt über die Voraussetzung, daß Kinkel in Rostock sein könne, versprach aber, Erkundigungen einzuziehen, und bestellte den Fremden wieder zu sich auf den nächsten Tag. Der Vorfall wurde uns sofort berichtet, und die Beschreibung des Aussehens des Mannes überzeugte uns, daß der Fremde wirklich der brave Hensel sei. Er war, wie er Wiggers sagte, nach Rostock gekommen, nur um seine Herzensangst um unsere Sicherheit zu beschwichtigen. Kinkel und ich wünschten sehr, ihn zu sehen und dem treuen Freunde noch einmal die Hand zu drücken; aber Wiggers, der durch die Warnung von Strelitz ernstlich besorgt worden war, riet dringend zur äußersten Vorsicht und versprach uns, Hensel, der bis zum 18. in Rostock bleiben wollte, unsere Grüße zu überbringen, nachdem wir die offene See erreicht haben würden.

So fanden wir, trotz aller Gemütlichkeit, doch nicht geringe Beruhigung in der Nachricht, daß der Nordostwind sich gelegt habe, daß die „Anna“ bereits bei Warnemünde vor Anker liege, und daß alles zu unserer Abfahrt am 17. November bereit sei. Wiggers hat im Jahrgange 1863 der Leipziger „Gartenlaube“ diese Abfahrt sehr lebhaft und anziehend beschrieben.[1]

An einem frostigen Sonntagmorgen segelten wir mit unserer bewaffneten Begleitung, die unsere Freunde aus zuverlässigen Leuten zusammengesetzt und so stark gemacht hatten, daß sie, wie Wiggers sagte, „einem nicht ungewöhnlich mächtigen Angriff der Polizei hätte widerstehen können“, in zwei Booten über die Bucht nach dem Ankerplatz der „Anna“. An Bord angekommen, gab Herr Brockelmann dem Kapitän, der über den so unerwarteten zahlreichen Besuch sehr erstaunt war, seine Instruktionen. „Sie nehmen diese beiden Herren“, sagte er, auf Kinkel und mich deutend, „mit nach Newcastle. Bei Helsingör segeln Sie, ohne anzulegen, vorbei und zahlen den Sundzoll auf der Rückreise. Bei ungünstigem Winde setzen Sie lieber das Schiff an der schwedischen Küste auf Strand, als daß Sie nach einem deutschen Hafen zurückkehren. Paßt Ihnen der Wind nach einem andern Hafen der englischen oder schottischen Ostküste besser, als nach Newcastle, so segeln Sie dorthin. Es kommt nur darauf an, daß Sie möglichst schnell nach England kommen. Ich werde es Ihnen gedenken, wenn Sie meine Ordres pünktlich ausführen.“ Der Kapitän – Niemann war sein Name – mag diese Instruktion mit einiger Bestürzung angehört haben, aber er versprach, sein Bestes zu tun.

Einige unserer Freunde blieben bei uns, bis der kleine Schleppdampfer, welcher der „Anna“ vorgespannt war, uns eine kurze Strecke in die offene See hinausbugsiert hatte. Dann kam der Abschied. Wie Wiggers erzählt, warf sich Kinkel schluchzend an seine Brust und sagte: „Ich weiß nicht, soll ich mich freuen über meine Rettung, oder soll ich trauern, daß ich wie ein Verbrecher und Ausgestoßener mein teures Vaterland fliehen muß!“ Dann stiegen unsere Freunde in den kleinen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Dieser Artikel, Gottfried Kinkel’s Befreiung, ist bei Wikisource verfügbar.
Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s216.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)