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gezogen war, überschütteten uns mit den liebenswürdigsten Aufmerksamkeiten. Wie könnte ich die Sorge beschreiben, mit der die Hausfrau Kinkels verwundete Hände wusch, verband und pflegte! Und nun die nach den mecklenburgischen Begriffen von Gastfreundschaft unentbehrlichen ersten Frühstücke, und zweiten Frühstücke, und womöglich noch dritten Frühstücke, und Mittagessen, und Nachmittagskaffees mit Kuchen, und Soupers, und „Bissen vorm Schlafengehen“, und „Nachtmützen“, die von morgens früh bis zu später Nacht in unglaublich kurzen Zeiträumen aufeinander folgten! Und die Abendgesellschaften mit Strömen von Wein, während deren Wiggers zuweilen mit meisterhafter Hand Beethovensche Sonaten spielte, die Kinkel an die musikalische Sprache seiner Johanna erinnerten. Und die Überraschung, als bei einer unverfänglichen Gelegenheit Brockelmann von einem Musikkorps im Hause die allgemeine Revolutionshymne, die Marseillaise, spielen ließ! Und die Spaziergänge zum Luftschöpfen im Garten bei später Nacht, wenn das Gesinde zu Bett war!

Freilich wurde dabei die sehr ernste Seite unserer Lage nicht vergessen. Brockelmann ließ eines seiner eigenen Fahrzeuge, einen Schoner von etwa 40 Last, der sich als guter Segler erprobt hatte, für uns bereit machen. Die „Kleine Anna“, so hieß der Schoner, empfing eine Ladung Weizen für England, die man möglichst schnell an Bord schaffte, und Sonntag, den 17. November, wurde als Tag der Abfahrt bestimmt, wenn sich bis dahin der noch immer wehende starke Nordostwind gelegt haben würde. Mittlerweile ging die Nachricht von Kinkels Flucht durch die Zeitungen und erregte allenthalben das größte Aufsehen. Unsere Freunde in Rostock unterrichteten sich mit größter Sorgfalt von allem, was über die Sache gedruckt, gesagt und gerüchtweise gemunkelt wurde. Den von der preußischen Regierung gegen Kinkel erlassenen und in den Blättern veröffentlichten Steckbrief brachten sie uns zum Tee mit, und er wurde unter großer Heiterkeit mit allerlei unehrerbietigen Randglossen vorgelesen. Von meinem Anteil an Kinkels Befreiung wußten damals die Behörden und das Publikum noch nichts. Besonderes Vergnügen machten uns die Zeitungsberichte, die Kinkels Ankunft an den verschiedensten Orten zu gleicher Zeit anzeigten. Der freisinnige Pastor Dulon in Bremen, einem richtigen Instinkt folgend, beschrieb in seinem Blatt mit großer Umständlichkeit, wann und wie Kinkel durch Bremen passiert und zu Schiff nach England gefahren sei. Einige meiner Freunde berichteten sein Eintreffen in Zürich und in Paris. Eine Zeitung brachte sogar einen ausführlichen Bericht über ein Bankett, das Kinkel von deutschen Flüchtlingen in Paris gegeben worden, und von der Rede, die er dabei gehalten habe. So blieb nichts unversucht, um die preußische Polizei zu verwirren und irrezuleiten.

Es kamen aber auch Schreckschüsse beunruhigender Art. So empfing Wiggers am 14. November einen Brief aus der Gegend von Strelitz, ohne Unterschrift und von unbekannter Hand geschrieben, der so lautete: „Beschleunigen Sie die Versendung der Ihnen anvertrauten Waren; es ist Gefahr im Verzuge.“ Wahrscheinlich war von den Behörden unsere Spur zwischen Spandau und Strelitz entdeckt und von dort weiter verfolgt worden. Dann meldete sich am Freitag den 15. November,

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s215.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)