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willenlos dem Schlaf in die Arme. Ich hatte noch Bewußtsein unserer Lage genug, um meine Pistolen unters Kopfkissen zu legen, und Herr Blume erzählte nachher, ich habe, als er sich während unseres sechsstündigen Schlafes leise in mein Zimmer geschlichen, sofort die Augen geöffnet, „Werda“ gerufen und meine Schießgewehre ergriffen, worauf er schleunigst davongegangen sei. Es war wohl so, aber ich erinnerte mich dessen nicht.

Am nächsten Tage traf Wiggers wieder bei uns ein. Er verkündete uns, es liege nur eine Brigg auf der Reede – wir sahen sie vor uns auf den Wellen tanzen –, die aber noch nicht segelfertig sei. Sein Freund, der Kaufmann und Fabrikherr Ernst Brockelmann, halte es auch für besser, uns auf einem seiner eigenen Schiffe über See zu schaffen, und bis dieses zur Abfahrt bereit sein werde, uns in seinem eigenen Hause zu beherbergen. So verließen wir denn das Gasthaus, bestiegen die Jolle eines Warnemünder Lootsen und, den scharfen Nordost im Segel, flogen wir über die breite Bucht den Warnowfluß hinauf. An einem Gehölze landeten wir und bei einem nahen Dorfe fanden wir Brockelmann mit seinem Wagen.

Wir sahen einen hochgewachsenen, kräftigen Fünfziger vor uns, mit grauem Haupthaar und Backenbart, aber frischer Gesichtsfarbe und jugendlich lebhaft in Ausdruck und Bewegung. Er begrüßte uns mit freudiger Herzlichkeit, und nach den ersten Minuten waren wir wie alte Freunde. In ihm erkannten wir das wahre Bild des „selbstgemachten“ Mannes im besten Sinne des Wortes, – eines Mannes, der seines eigenen Glückes Schmied gewesen, der mit Selbstgefühl auf das blicken kann, was er geleistet hat, und in seinen Erfolgen die Inspiration weiteren Strebens und eines unternehmenden und opferwilligen Gemeingeistes findet. Seine natürliche Menschenfreundlichkeit, die das Recht eines jeden auf die Anerkennung seines wahren Wertes und auf eine entsprechende Chance des Fortkommens würdigte, hatte ihn von Jugend auf zu einem Liberalen, und nach der achtundvierziger Revolution zu einem Demokraten gemacht. Seine Grundsätze und Theorien hatte er, soweit sich ihm die Möglichkeit bot, praktisch betätigt, und er war daher weit und breit als ein Freund und Fürsprecher der Armen und Bedrückten bekannt, besonders aber von seinen Arbeitern, die er in großer Zahl als Fabrikherr beschäftigte, wie ein Vater verehrt und geliebt. Er konnte, als er uns sein Haus als Zufluchtsort anbot, wohl sagen, daß er Arbeiter genug habe, die sich auf seinen Wunsch im Notfalle für uns schlagen und unser Asyl lange genug halten würden, um uns Zeit zum Entwischen zu geben. Indes würde es dazu nicht kommen, da die Beherbergung der Herren Kaiser und Hensel als Gäste seines vielbesuchten Hauses kein Aufsehen mache, und da, selbst wenn unser Geheimnis von seinen Leuten geahnt würde, es unter diesen keine Verräter gäbe. Kurz, er könne für alles einstehen.

So fuhren wir denn in Brockelmanns Wagen nach seinem in der Mühlentorvorstadt gelegenen Hause. Nun begannen für uns einige Tage der Ruhe und des eigentlichsten Schlaraffenlebens. Brockelmann, seine würdige Gattin, die älteste Tochter, deren vortrefflicher Bräutigam, der Kaufmann Schwarz und der kleine Freundeskreis, der ins Vertrauen

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s214.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)