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„Das war wohl die entsetzlichste Nacht meines Lebens,“ sagte Kinkel. „Nachdem Brune mich angewiesen, ich solle mich bereit halten, erwartete ich mit der zuversichtlichsten Hoffnung die angesagte Stunde. Vor zwölf Uhr stand ich fertig. Ich horchte, wie nur ein in langer Isolierhaft geübtes Ohr horchen kann. Zuweilen hörte ich ein entferntes Geräusch von Schritten in den Gängen, aber sie wollten nicht näherkommen. Ich hörte aufmerksam die Stunden schlagen. Als Mitternacht mehr als eine Viertelstunde vorbei war, stieg mir zum erstenmal der Gedanke auf: „Ist es möglich, daß dies fehlschlägt?“ Minute nach Minute verging und alles blieb still. Da faßte mich eine Angst, die ich nicht beschreiben kann. Der Schweiß tropfte mir von der Stirn. Bis um ein Uhr hatte ich noch ein wenig Hoffnung. Als aber auch dann Brune nicht kam, gab ich alles verloren. Die grauenvollsten Bilder stiegen in meiner Einbildung auf. Der ganze Anschlag war gewiß entdeckt worden. Du warst in den Händen der Polizei und auch auf viele Jahre eingekerkert. Ich sah mich selbst als einen verelendeten Greis in der Züchtlingsjacke. Meine Frau und meine Kinder gingen vor Jammer zugrunde. Ich rüttelte an den Stäben des Lattengitters in meiner Zelle wie ein Toller. Dann fiel ich erschöpft auf meinen Strohsack. Ich glaube, ich war dem Wahnsinn nahe.“

„Nun, und diese Nacht?“

„O, diese Nacht!“ rief Kinkel aus. „Ich konnte kaum meinen Augen und Ohren trauen, als Brune mit einer Laterne in der Hand in meine Zelle trat und mir durchs Lattengitter zuflüsterte: „Schnell auf, Herr Professor! Jetzt sollen Sie heraus!“ Das war wie ein elektrischer Schlag. Im Nu war ich auf den Beinen. Aber weißt Du, daß auch diese Nacht ums Haar wieder alles in die Brüche gegangen wäre?“

Ich war aufs äußerste gespannt, und wieder und wieder lief mir’s kalt über, als Kinkel seine Geschichte erzählte.

Schon um halb zwölf war Brune in Kinkels Zelle. Er hatte diesmal die Schlüssel in dem Spinde gefunden und damit die Zellentüren geöffnet. Nachdem er Kinkel geweckt, schickte er sich an, mit einem dritten Schlüssel die Tür im Lattengitter aufzuschließen. Er versuchte und versuchte, aber umsonst. Der Schlüssel paßte nicht. – Bei den späteren Untersuchungen stellte es sich heraus, daß der Schlüssel, mit dem Brune umsonst sich anstrengte, die Lattentür zu öffnen, für das Schloß des Fensterladens bestimmt war, daß aber einer der Schlüssel für die Zellentüren auch das Lattengitter öffnete, – daß also Brune den richtigen Schlüssel in der Hand hielt, ohne es zu wissen oder ohne in der Aufregung daran zu denken.

So standen denn Kinkel auf der einen, Brune auf der andern Seite des festen Lattengitters, verblüfft und einen Augenblick ratlos. Dann ergriff Kinkel mit der Kraft der Verzweiflung eine der starken Latten und versuchte, die ganze Wucht seiner Körperschwere dagegen werfend, sie loszubrechen. Umsonst. Brune arbeitete hart mit seinem Säbel zu demselben Zweck. Vergebens.

„Herr Professor,“ sagte er dann, „Sie sollen heraus und wenn es mich das Leben kostet.“

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s210.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2021)