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In einiger Entfernung hörten wir Männerstimmen singen: „Wir sitzen so fröhlich beisammen.“

„Was ist denn das?“ fragte Kinkel, während wir durch eine Seitengasse Krügers Hotel zueilten.

„Deine Kerkermeister bei einer Bowle Punsch.“

„Famos,“ sagte Kinkel.

Bei Krüger traten wir durch eine Hintertür ein und befanden uns bald in dem Zimmer, in welchem Kinkel die für ihn bestimmten Kleider anlegen sollte. Es war ein schwarzer Tuchanzug, ein großer Bärenpelz und eine Kappe, wie sie von preußischen Forstbeamten getragen wird. Von einem nahen Zimmer her erschollen noch die Stimmen der Zechenden. Krüger, der einige Minuten zugesehen hatte, wie Kinkel die Züchtlingsuniform gegen seine neue Bekleidung austauschte, entfernte sich plötzlich mit einem ihm eigenen Lächeln. Bald trat er wieder ein, einige gefüllte Gläser tragend. „Herr Professor“, sagte er, „daneben sind einige Ihrer Gefängnisbeamten bei einer Bowle Punsch. Ich habe sie eben gefragt, ob sie mir nicht ein Glas erlauben wollten für ein paar Berliner Freunde, die gerade angekommen wären. Sie hatten nichts dagegen. Nun, Herr Professor, trinken wir Ihr erstes Wohl aus der Bowle Ihrer Kerkermeister!“

Es war uns schwer, nicht vor Vergnügen über den Humor der Situation laut aufzulachen.

Kinkels Umkleidung war schnell vollendet und seine vom Seil zerrissenen blutigen Hände mit Taschentüchern verbunden. Er dankte den aufopfernden Freunden mit wenigen Worten, die sie schluchzen machten. Dann sprangen wir in Hensels Wagen. Die Zuchthausbeamten saßen und jubelten noch immer bei ihrer Bowle.

Es war angeordnet, daß unser Wagen durch das Potsdamer Tor, das auf die Straße nach Hamburg führt, aus Spandau hinausfahren und dann baldmöglichst in eine andere Richtung abbiegen sollte, um etwaige Verfolger irrezuführen. So rasselten wir denn in schnellem Trabe durch das Potsdamer Tor, und diese List gelang so gut, daß, wie wir später erfuhren, wir am nächsten Tage auf den Bericht des Torwächters hin wirklich in der Richtung von Hamburg verfolgt wurden. Ehe wir das Städtchen Nauen erreichten, bogen wir nach rechts in einen Landweg und dann in die Berlin-Strelitzer Chaussee beim Sandkruge. So scharf die Braunen traben konnten, ging es vorwärts.

Erst als ihm auf der schnellen Fahrt die kalte Nachtluft ins Gesicht wehte, schien Kinkel zum klaren Bewußtsein des Geschehenen aufzuwachen.

„Ich möchte gern Deine Hand in der meinigen halten,“ sagte er, „aber es geht nicht. Meine Hände sind zu arg geschunden.“

Er legte dann seinen Arm um meinen Nacken und drückte mich ein übers anderemal an sich.

Ich wollte ihn nicht dazu kommen lassen, seine Dankbarkeit in Worten auszusprechen, sondern erzählte ihm, wie in der vorherigen Nacht alles so vortrefflich eingerichtet gewesen, wie unser Plan durch einen unglücklichen Zufall vereitelt worden, und was für eine traurige Fahrt ich in demselben Wagen vor vierundzwanzig Stunden gemacht habe.

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s209.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2021)