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Zuchthause vorbeifahren sollte, um mit dem Rasseln des Wagens auf dem schlechten Pflaster alles andere Geräusch zu übertäuben.

Um Mitternacht stand ich, ausgerüstet wie in der vorigen Nacht, wohlverborgen in der tiefen, dunklen Türnische dem Zuchthause gegenüber. Die Straßenecken zur Rechten und Linken waren der Abrede gemäß besetzt, aber die Leute hielten sich abseits. Ein paar Minuten später kam der Nachtwächter in gemächlichem Schritt die Straße herab. Gerade vor mir drehte er seine Schnarre und rief die zwölfte Stunde aus. Dann schlurfte er ruhig weiter und verschwand. Was hätte ich um ein tüchtiges Unwetter mit Sturmgebraus und klatschendem Regen gegeben! Aber die Nacht war unheimlich still. Mein Auge war fest auf das Dach des Gefängnisses gerichtet, auf dem ich die Luken in der Dunkelheit kaum unterscheiden konnte. Die spärlichen Straßenlichter flimmerten matt. Plötzlich erschien oben ein heller Schein, der mich den Rahmen einer Dachluke erkennen ließ. Der Schein bewegte sich dreimal auf und ab. Das war das gehoffte Signal. Ich warf einen schnellen Blick auf die Straße rechts und links. Nichts näherte sich. Rasch gab ich, mit Stahl und Stein sprühende Funken schlagend, meinerseits das vereinbarte Zeichen. Eine Sekunde später verschwand das Licht aus der Dachluke, und dann gewahrte ich einen dunklen Körper, der sich langsam über die Mauerkante herunterbewegte. Mein Herz klopfte heftig, und der Schweiß trat mir auf die Stirn. Da geschah, was ich befürchtet hatte. Dachschiefer und Mauerziegel, von dem rutschenden Seile gelöst, regneten mit lautem Geklapper auf das Pflaster. Nun, gütiges Schicksal, steh uns bei! In demselben Augenblick kam Hensels Wagen auf dem holperigen Pflaster rasselnd herangerollt. Man hörte das Geräusch der fallenden Ziegel nicht mehr. Aber werden diese nicht Kinkels Kopf treffen und ihn betäuben? Nun hatte der dunkle Körper beinahe den Boden erreicht. Mit wenigen Sprüngen war ich zur Stelle. Jetzt faßte ich ihn an; es war mein Freund, und da stand er lebendig auf seinen Füßen. „Das ist eine kühne Tat!“ war das erste Wort, das er mir sagte.

„Gott sei Dank!“ antwortete ich. „Nun schnell das Seil ab und dann fort!“

Ich bemühte mich umsonst, den Knoten des Seils, das um seinen Leib geschlungen war, zu lösen.

„Ich kann dir nicht helfen,“ flüsterte Kinkel. „Das Seil hat mir beide Hände furchtbar zerschunden.“

Ich zog mein Jagdmesser, und mit großer Anstrengung schnitt ich das Seil durch. Das lange Ende wurde, sobald es frei war, schleunigst nach oben gezogen. Während ich Kinkel meinen Mantel umwarf und ihm die Gummischuhe anzog, blickte er besorgt um sich. Hensels Kalesche hatte sich umgedreht und kam langsam zurück.

„Was ist das für ein Wagen?“ fragte Kinkel.

„Unser Wagen.“

Dunkle Gestalten zeigten sich an den Straßenecken und näherten sich uns.

„Um Himmelswillen, was für Leute sind das?“

„Unsere Freunde.“

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s208.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2021)