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„Das war eine verdammte Geschichte letzte Nacht“, sagte er. „Ich konnte nicht dafür. Alles war in der schönsten Ordnung, aber als ich das Spind in der Revierstube aufschloß, fand ich die Schlüssel zur Zelle nicht. Ich suchte und suchte, aber sie waren nicht da. Heut morgen hörte ich, daß der Inspektor Semmler sie ganz zufällig, statt sie in das Spind zu legen, aus Vergeßlichkeit in der Tasche mit nach Hause genommen hatte.“

Er schwieg einen Augenblick.

„Da ist das Geld“, fuhr er fort, auf das Zigarrenkistchen deutend. „Nehmen Sie es mit, oder zählen Sie es erst. Es fehlt kein Taler daran.“

Ich konnte nicht umhin, dem Mann die Hand zu drücken und ihm im Herzen meine Zweifel abzubitten.

„Was von Ihnen kommt“, antwortete ich, seine gestrigen Worte wiederholend, „wird nicht nachgezählt.“

„Aber was nun? Ich gebe nicht auf. Müssen wir warten, bis Sie wieder die Nachtwache haben?“

„Wir könnten warten“, versetzte er, „und uns mittlerweile all die Schlüssel nachmachen lassen, so daß uns nicht mehr eine so dumme Geschichte passiert. Aber“, setzte er hinzu, „ich habe mir heute die Sache bedacht – bei Gott, es ist eine Schande, daß der Mann da noch einen Tag länger sitzen soll –, ich will versuchen, ihm diese Nacht herauszuhelfen, wenn er Mut zu einem halsbrecherischen Stück hat.“

„Was? diese Nacht?“

„Ja, diese Nacht. Hören Sie mir nur ruhig zu.“ Nun erzählte mir Brune, der Beamte, der in der kommenden Nacht die Wache auf dem oberen Stockwerk habe, sei krank geworden, und er, Brune, habe sich erboten, den Dienst für ihn zu versehen. Darauf habe er sich überlegt, er könne Kinkel ohne besondere Schwierigkeit auf den Söller unter dem Dachstuhl bringen und ihn dann mit einem Seil aus der Dachluke auf die Straße herunterlassen. Dazu brauche er allerdings die Zellenschlüssel wieder, aber nachdem gestern abend der Inspektor diese in der Zerstreutheit mit sich nach Hause genommen, würde er sie diese Nacht gewiß an dem gewöhnlichen ordnungsmäßigen Platz niederlegen. Ich sollte nur dafür sorgen, unten die Straße frei zu halten, während Kinkel vom Dach heruntergelassen würde, und ihn dann prompt in Empfang nehmen und fortschaffen.

„Es ist eine etwas halsbrechende Geschichte“, setzte Brune hinzu. „Von der Dachluke bis auf die Straße mag’s wohl sechzig Fuß sein. Aber wenn der Herr Professor Mut dazu hat, so glaube ich, daß es gehen wird.“

Für Kinkels Mut konnte ich einstehen. Was wagt ein Gefangener nicht für seine Freiheit?

Die Einzelheiten waren bald besprochen und festgestellt. Ich übernahm es, Brune sofort das nötige Seil zu schaffen. Er wollte es sich dann unter seinem Überrock um den Leib wickeln und so mit ins Zuchthaus nehmen. Ich sollte dann zur Mitternachtsstunde in der tiefen Türnische eines dem Tor des Zuchthauses schräg gegenüberliegenden Hauses stehen und nach den Dachluken des Gebäudes hinaufblicken.

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s206.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)