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grauenvolles Schicksal durch meine Schuld für immer besiegelt sein. So marterte mich mein Gewissen in jener furchtbaren Nacht.

Endlich unterbrach Hensel das Schweigen. „Wie wär’s, wenn wir in Oranienburg auf ein paar Stunden einkehrten?“ sagte er. „Wir könnten dort die Pferde füttern lassen, ein wenig schlafen und dann in aller Gemütlichkeit weiterfahren.“ Ich war’s zufrieden. Ich fing an, mich sehr ermattet zu fühlen; und dann, sollte von den Ereignissen der Nacht in Spandau etwas laut geworden sein und somit irgendwelche Gefahr drohen, so dachte ich, der kluge und wachsame Krüger würde uns jemanden entgegenschicken, um uns zu warnen.

Es war noch tief dunkel, als wir in Oranienburg an einem Herrn Hensel bekannten Gasthause abstiegen. Nachdem ich mich von meinen Gedanken noch eine Zeitlang hatte quälen lassen, schlief ich endlich ein. Als ich erwachte, schien der helle Tag durchs Fenster meines Zimmers. Mit mir erwachte auch wieder das Bewußtsein der ganzen Schwere unseres Mißgeschicks, jetzt mit noch größerer Klarheit als während der vergangenen Nacht. Solch ein Erwachen gehört zu den unglücklichsten Momenten des menschlichen Lebens.

Wir frühstückten spät, und es war bei dieser Gelegenheit, daß ich meinen Begleiter, den Gutsbesitzer Hensel, zum erstenmal in hellem Tageslicht ins Auge fassen konnte. Ich hatte ihn bei Krüger und auf unserer Fahrt nur in der Dunkelheit gesehen. Die stattliche breitschultrige Gestalt und der lange dunkle Vollbart waren mir damals schon aufgefallen; aber jetzt erst konnte ich ihm in die klaren, klugen und zugleich kühn blitzenden Augen blicken und den Gesichtsausdruck unterscheiden, der Willenskraft sowohl wie Aufrichtigkeit und Herzensgüte aussprach. Hensel sah wohl, wie mir zumute war; er versuchte heiter auszusehen und mich darüber zu beruhigen, daß all unsere Freunde in Spandau nicht allein treu, sondern auch diskret seien, und daß die Gefängnisbeamten in ihrem eigenen Interesse schweigen würden; ein neuer Versuch würde also bald wieder möglich sein. Ich stimmte ihm gern zu. In der Tat erfüllte mich schon der Gedanke an das, was nun zu tun sei, der Gedanke, der stets der wirksamste Trost für vergangenes Unglück ist. Ich habe im Leben oftmals die Erfahrung gemacht, daß, wenn uns ein recht schwerer Schlag trifft, wir nichts Besseres tun können, als uns im Geiste zuerst alle, auch die schlimmsten Seiten des Unheils möglichst klar vorzuführen und so den Becher der Bitternis bis auf den letzten Tropfen zu trinken, dann aber die Gedanken der Zukunft zuzuwenden und ganz mit dem zu beschäftigen, was getan werden muß, um den Schaden wieder gut zu machen, oder das unwiederbringlich Verlorene durch anderes Wünschenswertes zu ersetzen. Das ist sichere und rasche Heilung – es sei denn, daß das Verlorene ein sehr teurer Mensch war.

Mit der Rückfahrt nach Spandau hatten wir keine Eile. Wir hielten es sogar für geraten, erst mit dem Abenddunkel dort einzutreffen, und so setzten wir uns denn erst nachmittag in langsamen Trab in Bewegung. In Spandau angekommen, erfuhr ich von Krüger, daß alles ruhig geblieben war. Sofort ging ich zu Brunes Wohnung. Ich fand ihn in seiner Stube. Er hatte mich offenbar erwartet. Das Zigarrenkistchen stand auf dem Tisch.

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s205.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2021)