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drinnen, daß wir auf dem Punkte waren, Ihnen nachzukommen, um Sie herauszuholen.“

Bald hatten wir Krügers Gasthaus erreicht, wo Hensel mit seinem Wagen bereit stand, Kinkel und mich hinweg zu führen. Die Enttäuschung, die meinem Bericht folgte, war entsetzlich.

„Aber es gibt diese Nacht noch etwas zu tun“, sagte ich. „Meine Relais stehen auf der Landstraße bis tief nach Mecklenburg hinein. Die müssen wir abbestellen.“

Ich stieg in den Wagen, eine offene Kalesche mit Kappe über dem Hintersitz. Hensel ergriff die Zügel, und so rollten wir davon. Es war eine traurige Reise. Wir mochten etwas über drei Stunden in der finsteren Novembernacht gefahren sein, als wir auf dem Kutscherbock eines Fuhrwerks, das uns entgegen kam, Funken sprühen sahen. Ich hatte Stahl und Stein bei der Hand und schlug ebenfalls Funken. Dies war das Erkennungssignal, das ich mit den Mecklenburger Freunden verabredet hatte. Der uns entgegenkommende Wagen hielt an, der unsrige auch.

„Ist das der Richtige?“ fragte eine Stimme von drüben. – Dies war die verabredete Frage.

„Es ist der Richtige“, antwortete ich. „Aber die Sache ist mißlungen. Bitte, fahren Sie zurück und sagen es dem nächsten Relais, und ersuchen Sie unsern Freund da, die Nachricht so weiter zu bringen. Aber um Gotteswillen, im übrigen tiefes Stillschweigen, sonst ist alles verloren.“ „Versteht sich. Aber das ist eine verfluchte Geschichte. Wie ging denn das zu, daß es mißlungen ist?“

„Ein andermal, und gute Nacht!“

Die beiden Wagen drehten um. Wir fuhren wieder auf Spandau zu, aber recht langsam, fast wie ein Leichenzug. Beide saßen wir schweigend und hingen unsern Gedanken nach. Ich machte mir schwere, quälende Vorwürfe. Hätte nicht dem unglücklichen Zufall, der unsern Plan durchkreuzt, leicht vorgebeugt werden können? Hätten wir nicht ebensogut wie von dem Schlüssel zum Tor und zu der Revierstube, uns auch von den Zellenschlüsseln Duplikate verschaffen können? Gewiß. Aber warum war es nicht geschehen? Warum hatte Brune nicht daran gedacht? Aber wenn Brune nicht daran dachte, war es nicht meine Pflicht gewesen, daran zu denken? So hatte ich meine Pflicht versäumt. Mein, mein war die Schuld an diesem entsetzlichen Fehlschlag. Mein die Verantwortlichkeit dafür, daß Kinkel nicht jetzt ein freier Mann war und hinter schnellen Pferden der Seeküste zueilte. Die Frucht monatelanger und gefahrvoller Arbeit war durch mich gedankenlos, leichtsinnig verscherzt worden. Würde ich jemals imstande sein, die zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen? Und wenn auch – war es nicht wahrscheinlich, daß durch die Unvorsichtigkeit irgend eines Beteiligten Gerüchte von dem Geschehenen entstehen und Kinkel mit strengeren Vorsichtsmaßregeln umgeben oder gar in eine andere und sicherere Strafanstalt versetzt werden würde? Und wenn auch dieses nicht – wo war das mir anvertraute Geld? Nicht mehr in meinem Besitz – in eines anderen Menschen Hand, der es behalten konnte, wenn er nur wollte – und ich ganz machtlos, es wieder zu erlangen. Und somit mochte Kinkels

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s204.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)