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Ich nahm mir immer einen Sitz im Parterre möglichst nahe beim Ausgang. Bei offenem Vorhang durfte ich darauf rechnen, daß aller Augen auf die Szene geheftet blieben. In dem Zwischenakten aber, wenn manche der Zuschauer sich umdrehten, um sich das Publikum anzusehen, hatte ich stets mein Opernglas vor den Augen, auf die Leute in den Logen gerichtet, und gelegentlich hielt ich mein Taschentuch vors Gesicht, als ob ich Zahnweh hätte. Und sobald nach dem letzten Akte der Vorhang fiel, eilte ich möglichst schnell hinaus, um das Gedränge zu vermeiden.

Aber eines Abends, als die Schlußszene mich noch mehr als gewöhnlich gefesselt hatte, war ich doch nicht schnell genug. Ich geriet unter die Menge der Hinausströmenden, und plötzlich wandte sich mir in diesem Gedränge ein Gesicht zu, dessen Anblick mich erschreckte. Es war das eines Menschen, der nach der Märzrevolution im Jahre 1848 in Bonn studiert und unserem demokratischen Verein angehört hatte, aber durch einige sonderbare Vorkommnisse unter den Verdacht gefallen war, der Polizei als Spion zu dienen. Ich hatte von seiner Anwesenheit in Berlin gehört, und auch dort wurde er als eine verdächtige Persönlichkeit gemieden. Nun befand ich mich in diesem Menschenknäuel ihm dicht gegenüber, und er blickte mir gerade in die Augen mit einem Ausdruck, als sei er überrascht, mir dort zu begegnen. Ich sah ihn fest an, als wunderte ich mich, von einem unbekannten Menschen so fixiert zu werden. So standen wir einige Augenblicke Angesicht zu Angesicht, ohne uns bewegen zu können. Dann lockerte sich das Gedränge, und ich machte mich eiligst davon. Das war mein letzter Rachelabend in Berlin.

Aber ich habe sie doch später wiedergesehen, im nächsten Jahre in Paris und noch später in Amerika. In der Tat, ich habe sie zu verschiedenen Zeiten in all ihren großen Rollen gesehen, in einigen davon mehrere Male, und der Eindruck war immer der gleiche, selbst auf ihrer amerikanischen Tour, als ihre Lungenkrankheit schon stark bemerklich war und es hieß, ihre Kräfte seien sehr auf der Neige. Ich habe oft versucht, mir über diese Eindrücke Rechenschaft zu geben, und mich zu diesem Ende gefragt: „Aber ist dies nun wirklich der Spiegel der Natur? Hat wirklich je ein Weib in solchen Tönen gesprochen? Haben solche Wesen, wie die Rachel uns vorführt, jemals wirklich gelebt?“ Nie konnte ich eine andere Antwort finden, als daß solche Fragen müßig und eitel seien. Wenn die Phädra, die Roxane je gelebt haben, so mußten sie so gewesen sein und nicht anders. Aber die Rachel stellte nicht nur individuelle Menschen dar; in ihren verschiedenen Charakteren war sie die ideale Verkörperung des Glücks, der Freude, des Schmerzes, des Elends, der Liebe, der Eifersucht, des Hasses, des Zornes, der Rache; und alles dies in plastischer Vollendung, in höchster poetischer Gewalt, in gigantischer Wahrheit. Dies mag keine besonders klare oder genaue Definition sein, aber sie ist so klar und genau, wie ich sie geben kann. Man sah, man hörte, und man war überwunden, unterjocht, zauberhaft, unwiderstehlich. Die Schauer des Entzückens, der Angst, des Migefühls, des Entsetzens, mit denen die Rachel ihre Zuschauer übergoß, entzogen sich aller Analyse. Die Kritik tastete in hülfloser

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s189.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)