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der ganzen Menschheit, als hätten wir nicht zu ihr gehört. Kein Ton von ihr drang zu uns herein, als nur etwa ein ferner Trommelschall oder Trompetensignale des uns umzingelnden Feindes. Wohl tauchten zuweilen geheimnisvolle Gerüchte unter uns auf, von denen niemand wußte, woher sie kamen. Unsere Truppen, hieß es einmal, sollten einen großen Sieg im Oberlande erfochten haben und die Preußen vor sich her treiben. Dann war in Frankreich eine neue Revolution ausgebrochen und habe ganz Deutschland in frische Bewegung gesetzt. Dann hatten die Ungarn die vereinigten österreichischen und russischen Armeen aufs Haupt geschlagen und waren bereit ihre siegreichen Heere mit den deutschen Revolutionären zu verbinden. Ja, einmal drängten sich gar die höheren Offiziere unserer Besatzung auf den Observationsturm, weil man wirklich in der Richtung des Oberlandes anhaltenden Kanonendonner gehört habe, der sich beständig nähere; und nun wollten sie die Staubwolken unserer heranmarschierenden Kolonnen erspähen. Aber der eingebildete Kanonendonner verstummte, alles blieb still, und man sank in das dumpfe Gefühl des dem Schicksal Verfallenseins zurück. Zuweilen versuchte man auch, sich zu vergnügen und versammelte sich in den Weinstuben – denn die Festung war noch immer mit Wein versehen. Dann gab es wohl einen Anlauf zur Lustigkeit, aber es blieb bei dem Anlauf, denn es war, als stände hinter jedem Stuhle das dunkle Gespenst der unabwendbar nahenden Katastrophe.

Da kam eines Tages – es war in der dritten Woche der Belagerung – ein preußischer Parlamentär in die Festung, der mit einer Aufforderung zur Übergabe zugleich die Nachricht brachte, daß die badisch-pfälzische Armee längst auf schweizerisches Gebiet übergetreten sei und damit aufgehört habe, zu existieren; daß kein bewaffneter Insurgent mehr auf deutschem Boden stehe, und daß das preußische Oberkommando irgend einem Vertrauensmann, den die Besatzung von Rastatt hinausschicken möchte, um sich von diesen Tatsachen zu überzeugen, zur Ausführung dieses Auftrages Freiheit der Bewegung und sicheres Geleit gewähren wolle. Dieses Ereignis verursachte gewaltige Aufregung. Sofort versammelte der Gouverneur in dem Hauptsaale des Schlosses einen großen Kriegsrat, bestehend, wenn ich mich recht erinnere, aus allen Offizieren der Besatzung vom Kapitän aufwärts. Nach stürmischer Beratung wurde beschlossen, das Anerbieten des preußischen Oberkommandos anzunehmen, und Oberstleutnant Corvin empfing den Auftrag, die Lage der Dinge draußen zu erforschen und, falls er sie den Angaben des preußischen Parlamentärs entsprechend fände, um eine möglichst günstige Kapitulation für die Besatzung von Rastatt zu unterhandeln.

Der Saal im Schloß, in welchem jener große Kriegsrat gehalten worden, war mir während der Belagerung immer zugänglich gewesen, und eines der großen, mit gelbem Seidendamast überzogenen Sofas, die den Hauptteil seiner Möblierung ausmachten, war mein gewöhnlicher Ruheplatz, wenn ich, von meiner Observation auf dem Schloßturm oder von meiner Runde durch die Festungswerke ermüdet zurückkam. Ich hatte mir dieses Sofa ausgewählt, weil ich von ihm einen besonders günstigen Blick auf ein Deckengemälde genoß, das für mich ein eigentümliches

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s141.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)