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kennen, eine Frau von außergewöhnlichen Geistesgaben. Auf einer Rheinfahrt, bei welcher der Kahn umschlug, rettete er sie aus den Wellen, und bald darauf, im Jahre 1843, heiratete er sie. Diese Verbindung mit einer geschiedenen katholischen Frau würde die Stellung des evangelischen Theologen unhaltbar gemacht haben, wäre dieselbe nicht schon durch seine ausgesprochene freisinnige Richtung untergraben gewesen. So gab denn Kinkel die Theologie auf und wurde 1846 an der Universität Bonn als außerordentlicher Professor der Kunst- und Kulturgeschichte angestellt.

Seinen Vorlesungen verlieh die interessante Persönlichkeit des Professors sowie sein fesselnder Vortrag einen besonderen Reiz. Kinkel war ein auffallend schöner Mann, von regelmäßigen Gesichtszügen und von herkulischem Körperbau, über sechs Fuß groß, strotzend von Kraft. Unter seiner von schwarzem Haupthaar beschatteten breiten Stirn leuchtete ein Paar dunkler Augen hervor, deren Feuer selbst durch die Brille, die er damals durch seine Kurzsichtigkeit zu tragen gezwungen war, nicht gedämpft wurde. Mund und Kinn waren von einem schwarzen Vollbart umrahmt. Kinkel besaß eine wunderbare Stimme – zugleich stark und weich, hoch und tief, gewaltig und rührend in ihren Tönen, schmeichelnd wie die Flöte und schmetternd wie die Posaune, als umfaßte sie alle Register der Orgel. In späteren Jahren hat man ihm vorgeworfen, daß in dem Gebrauch, den er von dieser Stimme machte, eine gewisse affektierte Effekthascherei zu bemerken sei. Das mag so gewesen sein, nachdem seine Kräfte angefangen hatten abzunehmen. Aber zu der Zeit seiner vollsten Jugendblüte, als ich ihn zuerst hörte, war es gewiß nicht so. Da klang diese Stimme wie eine Naturkraft, die von selbst aus ungesehenen Quellen entsprang und ohne Anstrengung und Absicht ihre Wirkung hervorbrachte. Ihm zuzuhören war ein musikalischer Genuß und ein intellektueller zugleich. Eine durchaus ungesuchte, natürliche und daher ausdrucksvolle und graziöse Gestikulation begleitete die Rede, die in gehaltvollen, wohlgeordneten und häufig poetisch angehauchten Sätzen dahinfloß und auch trockenen Gegenständen einen anziehenden Reiz verlieh.

Als sich nun Kinkel erbot, seine Schüler in die Kunst des Redens einzuweihen, ergriff ich diese Gelegenheit des Lernens mit Begierde. Er hielt uns keine theoretischen Vorlesungen über Rhetorik, sondern begann sofort damit, uns bedeutende Muster vorzuführen, zu erklären und uns daran zu üben. Als solche Muster wählte er unter anderen größere rednerische Passagen aus den Dramen Shakespeares, und so wurde mir die Aufgabe, die berühmte Leichenrede des Marcus Antonius in Julius Cäsar in ihrer Bedeutung zu erklären, die beabsichtigten Effekte und die Mittel, mit welchen diese erreicht werden sollten, darzulegen und schließlich die ganze Rede deklamatorisch, oder vielmehr rednerisch, vorzutragen. Mit meiner Lösung dieser Aufgabe sprach Kinkel seine Zufriedenheit aus und lud mich dann ein, ihn in seinem Hause zu besuchen. Sogleich folgte ich dieser Einladung, und trotz meiner noch immer nicht ganz überwundenen Schüchternheit entwickelte sich bald zwischen dem Lehrer und dem Schüler ein freundschaftliches Verhältnis. Es war in der Tat nicht schwer, sich mit Kinkel einzuleben.

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 068. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s068.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)