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empfing, war vortrefflich, und daneben wurden die lateinischen Stunden beim Kaplan und die musikalischen bei dem guten Herrn Simons fortgesetzt. Nun mußte ich mich auch schon früh daran gewöhnen, unter fremden Menschen zu leben. Im Winter wohnte ich die Woche hindurch in Brühl im bescheidenen Hause einer Metzgerswitwe; nur Samstags nachmittags ging ich nach Liblar, und zwar in Begleitung meines Bruders Heribert, der an diesem Tage morgens nach Brühl kam, um seine Klavierstunden zu nehmen. Dann hatte ich den Sonntag im elterlichen Hause, um Montags früh wieder abzumarschieren. Im Sommer hingegen machte ich den Weg von Liblar nach der Schule in Brühl und zurück jeden Wochentag.

Da traf uns ein schweres Schicksal. An einem trüben Wintermittag, als ich aus der Schule kommend in mein Kosthaus in Brühl eintrat, war ich erstaunt, meinen Vater da zu finden. Ich las Unglück in seinen Augen. Mehrmals versagte ihm die Stimme, indem er mir mitteilte, daß mein Bruder Heribert nach sehr kurzer Krankheit an einer Lungenentzündung gestorben sei. Erst am vergangenen Montag hatte ich ihn in blühender Gesundheit verlassen. Das war ein furchtbarer Schlag. Mein Vater und ich wanderten durch den Wald nach Hause, einander bei den Händen haltend und sprachlos still vor uns hin weinend. Lange konnte ich mich über diesen bitteren Verlust nicht trösten. Noch Monate nach dem Tode meines Bruders, wenn ich mich im Walde allein befand, rief ich laut seinen Namen aus und bat Gott, daß, wenn er ihn mir nicht wiedergeben könnte, er mir wenigstens den Geist des Gestorbenen möge erscheinen lassen.

Dann fühlte ich das Bedürfnis, auf meinem einsamen Wege zwischen Brühl und Liblar meine Gedanken zu beschäftigen, und so gewöhnte ich mir an, im Gehen zu lesen. Mein Vater half mir dabei. Da sein literarisches Urteil sich einigermaßen durch die Überlieferung bestimmen ließ, und er pflichtschuldigst Klopstock zu den großen deutschen Dichtern zählte, die man „gelesen haben müsse“, so glaubte er, Klopstocks Messiade werde für mich unter den Umständen eine passende Lektüre sein, und er gab mir das Exemplar, das er besaß. Die ganze Messiade zu lesen, wird heutzutage für eine kaum zu bestehende Prüfung menschlicher Ausdauer gehalten, und es gibt wohl nur noch wenige Deutsche, die sich in Wahrheit rühmen können, ohne Notwendigkeit das Ungeheure geleistet zu haben. Ich bin einer der Wenigen. Ich las die sämtlichen zwanzig Gesänge zwischen Brühl und Liblar durch, nicht allein mit Standhaftigkeit, sondern einen großen Teil wenigstens auch mit tiefem Interesse. Freilich traf ich unter den pomphaften Hexametern auf manche, die mir sehr geheimnisvoll klangen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich wohl noch zu jung sei, diese großartige Schöpfung ganz zu verstehen. Anderes berührte mich als erhaben schön, und mein naiver Kindersinn war dann wahrhaft erbaut. Bei meinen späteren Literaturstunden habe ich mich nie wieder zu so andächtiger Wertschätzung Klopstocks aufschwingen können. Nachdem ich mit der Messiade fertig war, ließ mein Vater mich sogar einen ansehnlichen Teil von Tiedges „Urania“, einem Werk, auf das er große Stücke hielt, auswendig lernen, und mit einer Reihe von Gedichten Gellerts, Herders, Bürgers, Langbeins, Körners und

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 025. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s025.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)