Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s010.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

großen Fenster mit dem ausgebogenen Eisengitter, von wo er den Hof übersehen konnte. Anfangs versuchte er noch, die geschäftlichen Angelegenheiten der Ackerwirtschaft weiterzuleiten. Aber bald ging das auch nicht mehr und er mußte sie einem jüngeren unverheirateten Bruder, den alle Welt „Ohm Michel“ nannte, überlassen, bis sein jüngster Sohn Georg, der in Berlin bei den Kürassieren seinen Militärdienst abmachte, nach Hause zurückkehrte und die Geschäfte übernahm. Die älteren Söhne, von denen später die Rede sein wird, waren nämlich alle verheiratet und selbständig geworden.

Nun wußte der plötzlich gealterte Mann nicht mehr, was er mit sich und seiner Zeit anfangen sollte. Täglich reichte man ihm die Kölnische Zeitung, die er auch wohl ansah, aber er liebte das Lesen nicht sehr. Dann wurde an den Armlehnen seines Stuhls ein kleiner beweglicher Tisch angebracht und mit gepudertem Zucker bestreut, um die Fliegen anzulocken, die im Sommer scharenweise in der Stube umhersummten. Diese erschlug er dann mit einer an kurzem Stock befestigten ledernen Klappe. „Das ist alles was ich noch tun kann“, seufzte zuweilen der einst so starke Mann. Oft wurde ich zu ihm gebracht, um ihn mit meinem kindischen Geschwätz zu unterhalten und ihn lachen zu machen. Dann erzählte er mir auch wohl von vergangenen Tagen, und unter diesen nahm wieder die „französische Zeit“ die vornehmste Stelle ein. Ich hörte dann viel von den Erlebnissen des Gutsbesitzers und Landbauers in den Kriegsjahren. Ich sah die lustigen zerlumpten Sansculotten in das Land hereinbrechen und ihren wilden Unfug treiben. Ich sah bei dem Herannahen derselben den Grafen Wolf-Metternich eines Nachts eilig aus der Burg fliehen, nachdem er meinem Großvater den Schutz alles Zurückgelassenen anvertraut hatte, und nachdem die wertvollsten Sachen und Papiere in einem der Türme tief vergraben und vermauert worden waren. Ich sah bei dem Durchmarsch französischer Truppen während des napoleonischen Kaisertums einen General mit seinem Stabe durch das Burgtor reiten, um im „Hause“ Quartier zu nehmen, wobei dann der Hof sich mit glänzend uniformierten Reitern füllte. Wenn der Großvater zu dem Abzug der Franzosen und der Ankunft der Kosaken kam, wurde seine Erzählung besonders erregt. Da hatte „Ohm Michel“ mit sämtlichen Pferden und Wagen, Kühen, Schafen und Schweinen tief in den Wald ziehen müssen, damit dieselben nicht zuerst den abziehenden Franzosen und nachher den nachsetzenden Russen in die Hände fallen möchten. Seine Beschreibung der Kosaken mußte er mir oft wiederholen. Sie aßen Talgkerzen und durchsuchten das ganze Haus nach Schnaps. Als kein Schnaps mehr zu finden war, drohten sie der Großmutter mit Gewalt, worauf der Großvater einige von ihnen mit der Faust zu Boden schlug und sich sehr wunderte, als den Bestraften von ihren Kameraden keiner zu Hilfe kam. Aber als des Suchens nach Schnaps

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 010. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s010.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)